# taz.de -- Sachsens Regierungschef Kretschmer: Ein Januskopf in Chemnitz
       
       > Heute kann Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer in Chemnitz
       > Gesicht zeigen. Aber was verbirgt sich hinter diesem Gesicht?
       
 (IMG) Bild: Michael Kretschmer
       
       DRESDEN taz | Er wollte eh nach Chemnitz diese Woche, Michael Kretschmer,
       CDU, Ministerpräsident von Sachsen. Doch es war bloß eine von vielen
       Stationen [1][der Veranstaltungsreihe „Das Sachsengespräch“], in der der
       Regierungschef den Freistaat bereist – um zu zeigen, dass er nicht einfach
       einer von denen da oben sein will: „Mit dem Gesicht zum Volke“, heißt diese
       Strategie.
       
       Nun werden seine Veranstaltung in einem Saal am Chemnitzer Stadion diesen
       Donnerstag um 19 Uhr und vielleicht schon die Besuche einer Oberschule am
       Vormittag und eines Kinder- und Familienzentrums am Nachmittag bundesweit
       beachtet.
       
       Kretschmer ist der Repräsentant des Staates, den Rechtsextreme am
       Montagabend bei ihrem Aufmarsch für einen quälenden Moment beiseite zu
       räumen im Stande waren. Die halbe Republik fragt sich, welches Gesicht
       dieser Politiker zeigen wird – und was sich dahinter verbirgt.
       
       Kretschmer, 43, besuchte Chemnitz als Ministerpräsident bereits am 18.
       Dezember vergangenen Jahres, wenige Tage, nachdem er Stanislaw Tillich nach
       der CDU-Niederlage bei der Bundestagswahl abgelöst hatte. Im ehemaligen
       Kaufhaus Schocken in Chemnitz, heute archäologisches Landesmuseum, hatte er
       allerdings fast ein Heimspiel. Die Besucher waren ziemlich handverlesen,
       und von der Diskussion blieb eigentlich nur der Satz des Bürgermeisters der
       nordsächsischen Gemeinde Arzberg in Erinnerung, Kretschmer sei nun endlich
       der erste sächsische Ministerpräsident.
       
       Weder Kretschmer noch die Moderatoren gingen damals auf diese ziemlich
       chauvinistische Bemerkung ein. Auf die Westimporte Biedenkopf und Milbradt
       mochte sie noch zutreffen, aber dass damit der Sorbe Tillich wie ein
       Fremder abqualifiziert wurde, schien niemanden zu stören.
       
       ## Die Wiederbelebung des Sachsen-Mythos
       
       Die Anekdote ist typisch für den politischen Januskopf Kretschmer, aus dem
       unterschiedliche Seiten mal dieses, mal jenes machen können. Eigentlich ist
       er – in Kategorien, wie sie der Arzberger Bürgermeister pflegt – als
       Görlitzer ein Niederschlesier, also preußischer Beutesachse. Seine
       regionalen CDU-Parteifreunde brachten am Verabschiedungstag der sächsischen
       Landesverfassung 1992 diese noch einmal fast in Gefahr, als sie eine
       angemessene Berücksichtigung dieser Landsmannschaft verlangten. Da war
       Kretschmer als Siebzehnjähriger immerhin schon drei Jahre Mitglied der
       CDU-Jugend.
       
       Zum Generalsekretär der sächsischen Union aufgestiegen war er im Spätherbst
       des vorigen Jahres faktisch alternativlos als Nachfolger des resignierenden
       Stanislaw Tillich. Es gibt in der CDU des sich selbst glorifizierenden
       Sachsens keinen anderen Kader, der nur annähernd an das Format des „Königs“
       der 1990-er Jahre Kurt Biedenkopf heran reicht. Ihn nachzuahmen hat
       Kretschmer zumindest in einem Punkt prompt versucht – in der Wiederbelebung
       des Sachsen-Mythos nämlich. Bei öffentlichen Auftritten schmeichelt er
       seinem Volk gern und verklärt die Sachsen zu den frohgemutesten Typen, die
       Probleme offensiv und konstruktiv angehen. Das mutet wie eine
       Wahrnehmungsstörung im Mutterland der Missgelaunten und ihrer destruktiven
       Meckerei an.
       
       Diesen Meckereien zuzuhören versucht Kretschmer seit seinem Amtsantritt. Zu
       den „Sachsengesprächen“ in allen Landkreisen und kreisfreien Städten reist
       stets das halbe Kabinett mit. Der Chemnitz-Termin an diesem Donnerstagabend
       gewinnt nur durch die Instrumentalisierung des Tötungsverbrechens durch die
       radikale Rechte eine unerwartete Dimension. Überhaupt nutzt Michael
       Kretschmer jeden sich bietenden Termin für Kontakte mit Jedermann und
       bewältigt dabei ein schier übermenschliches Pensum.
       
       Auch nach zwei Wochen Sommerurlaub sah man ihm die Strapazen noch an. Mit
       dem Regierungspartner SPD vereinbarte die Union Anfang dieses Jahres noch
       so etwas wie eine zweite anspruchsvolle Koalitionsvereinbarung für den Rest
       der bis zum Sommer des nächsten Jahres andauernden Legislaturperiode. Die
       Baustellen Schule, Polizei oder Ländlicher Raum bedeuten Stress.
       
       ## Er avancierte zum Messias der sächsischen Union
       
       Denn für die CDU wie auch für die SPD geht es mit Blick auf die
       Landtagswahl 2019 um alles. Der ehemals ob seiner Statur als „Pumuckl“ ein
       bisschen belächelte, aber anerkannte Generalsekretär und
       Bundestagsabgeordnete Kretschmer ist zum Messias der sächsischen Union
       avanciert. Es geht um alles in der Partei, die bis 2004 mit absoluter
       Mehrheit regierte, aber die Bodenhaftung verloren hat. Geholfen hat der
       neue Kurs der versuchten Bürgernähe nicht. Eine aktuelle MDR-Umfrage sieht
       die Union nur noch bei 30 Prozent und damit als noch schlechter dastehend
       als bei Kretschmers Amtsantritt.
       
       Das Gespenst der AfD paralysiert die sächsische CDU geradezu. Und es
       bewirkt, dass auch der relativ neue Ministerpräsident nicht wirklich
       erkennbar ist. Das gilt für seine öffentlichen Äußerungen ebenso wie für
       Plaudereien. Seinen lockeren Stil gegenüber Journalisten hat Kretschmer
       beibehalten: Noch nie gab es einen so gesprächsbereiten und
       auskunftsfreudigen Ministerpräsidenten in Sachsen.
       
       Wofür er wirklich steht, ist dennoch kaum auszumachen. Bekannt ist: Er
       steht für enge Kontakte mit der Seehofer-CSU, ließ gemeinsam mit ihr im
       September 2016 von den Dresdner Autoren Werner Patzelt und Joachim Klose
       patriotische Leitlinien verfassen. Im April dieses Jahres erschien er dann
       allerdings bei den Gegenkundgebungen zum Rechtsrock-Festival „Schild und
       Schwert“ in Ostritz unweit von Görlitz. Der Kampf gegen Rechtsextremismus
       müsse aus der Mitte der Gesellschaft kommen, sagte er damals. Dabei sei
       auch die Linke willkommen. Andererseits berichtet der Vorsitzende des
       Dachverbandes sächsischer Migrantenverbände Emiliano Chaimite von einer
       Podiumsdiskussion, in der der Ministerpräsident abstritt, dass der
       Alltagsrassismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei.
       
       In der Affäre um das unberechtigte Festhalten eines ZDF-Teams bei den
       Pegida-AfD-Protesten gegen die Kanzlerin verteidigte Kretschmer nicht nur
       die überforderten Polizisten, sondern diskreditierte auch noch die
       Reporter. Nach der großen Nazi-Demo in Chemnitz [2][lobte er die Polizei]
       trotz deren Versagen. Zugleich attackiert er die Instrumentalisierung des
       Tötungsverbrechens durch die Rechte.
       
       ## Ein echtes Zonenkind
       
       So geht es weiter. Im Gespräch streitet der Ministerpräsident jeden
       Gedanken an eine Koalition mit der AfD nach den Landtagswahlen 2019
       geradezu empört ab. In Dresden aber könnte es passieren, dass nicht
       Kretschmer, sondern der ultrakonservative Chef der CDU-Landtagsfraktion
       Frank Kupfer Verhandlungen mit der AfD aufnimmt.
       
       In der DDR kursierte im Volksmund eine parodistische Mailosung: „Wir wissen
       zwar nicht genau, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft!“ Auch wenn er
       zur Wende 1989 erst 14 Jahre zählte, scheint Michael Kretschmer in dieser
       Hinsicht ein echtes Zonenkind zu sein.
       
       30 Aug 2018
       
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