# taz.de -- Sammlung von Aphorismen: Das Aufreizende der Philosophie
       
       > Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Ein Versuch über die Frage, ob
       > Kritik und Weltveränderung noch zusammengehören.
       
 (IMG) Bild: Raum im Raum: das Adorno-Denkmal in Frankfurt am Main
       
       „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Kaum ein Satz aus dem Werk
       Theodor W. Adornos ist so oft zitiert worden. Und kaum einer illustriert
       besser Adornos gestische Philosophie. Theoretische Einsicht und ethischer
       Impuls fallen zusammen und bilden eine unauflösbare Einheit. Dieser Gestus
       hat die 1951 erschienene Aphorismensammlung „Minima Moralia“ einen
       Verkaufsschlager werden lassen, der von Generationen gelesen wurde.
       
       Das gute Leben des Einzelnen ist von der gelungenen Einrichtung der
       Gesellschaft nicht zu trennen, sagt der Satz und fordert zugleich die noch
       ausstehende Änderung ein – als ob der Autor widerlegt werden wollte, durch
       Praxis. Der Ausspruch wirkt in seiner Zugespitztheit, die nur einen Ausweg
       offen lässt, fordernd, ja geradezu aufdrängend. Es lässt einen zumindest
       nicht unberührt.
       
       Er hat dementsprechend auch einigen theoretischen Widerspruch auf sich
       gezogen. Der kürzlich veröffentlichte Band „Richtig falsch. Es gibt ein
       richtiges Leben im Falschen“ hat die Gegenthese zu Adorno augenscheinlich
       schon im Titel. Autor ist der Münchner Philosoph und Politikwissenschaftler
       Michael Hirsch.
       
       „Richtig falsch“ ist ebenfalls eine Sammlung von Aphorismen, insgesamt 123
       an der Zahl, unterteilt und zusammengefasst in sieben Abschnitten. Schon
       der erste trägt den Titel „Minima Moralia“ und stellt sich so in die
       Nachfolge von Adornos Werk. Und wie Adorno stellt Hirsch die Frage, auf
       welche Weise sich eine mögliche gesellschaftliche Veränderung denken lässt,
       während sie doch unmöglich erscheint.
       
       Die globale Krise unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Hirsch
       gegenwärtig ausmacht, führt ja gerade nicht zu einer Abkehr von den
       herrschenden Vorstellungen, sondern nur zu ihrer Brutalisierung. Der
       sogenannte Kampf ums Dasein weitet sich aus.
       
       Angesichts der drohenden Verschlechterung der sowieso schlechten
       Bedingungen plädiert Hirsch jedoch nicht für eine Verteidigung des Status
       quo, sondern für das Denken eines anderen Zustands – auch wenn der sich
       nicht unbedingt ankündigt. Für Hirsch braucht eine progressive Politik ein
       Denken, das es wagt, das Unwahrscheinliche, ja fast Unmögliche zu denken.
       
       Schon an Adornos Philosophie war es das Aufreizende, dass sie sich im
       Bewusstsein von Auschwitz und der Atombombe nicht auf Schadensbegrenzung
       innerhalb des Kapitalismus beschränken lassen wollte. Sie zielte auf
       Erkenntnis des Ganzen und dessen Änderung.
       
       Das muss man sich jedoch nicht als eine vollständige Umgestaltung der Welt
       vorstellen, mehr wie die Ankunft des Messias, der alles nur ein bisschen
       zurechtrückt, schrieb Adorno. So brachte er das Licht, das von der
       Erkenntnis her strahlt, mit der Erlösung zusammen. Erst eine der eigenen
       religiösen Anteile bewusste Aufklärung zielt auf das Glück der Menschen
       statt auf blinde Naturbeherrschung. Auf den Messianismus greift auch
       Hirsch zurück, als Kritik des Fetischs des Neuen.
       
       ## Sich einrichten
       
       Die Welt ist entstellt, man muss sie wieder zurechtrücken. Es braucht
       eigentlich nichts Neues, man müsse nur das, was ist, richtig gebrauchen
       lernen. „Die Wahrheit liegt immer im Gebrauch“, schreibt Hirsch. Auch die
       des eigenen Lebens. Wozu leben? Und wie? So sind wir wieder beim richtigen
       Leben. Das freilich soll nicht nur das Privileg einiger weniger sein.
       Sondern der Maßstab eines jeden Lebens.
       
       An diesem Punkt möchte Hirsch dann auch Adorno widersprechen. „Der Einzelne
       kann nicht nicht nach einem guten Leben suchen – unter welch schlechten
       oder falschen gesellschaftlichen Bedingungen auch immer“, schreibt er. Die
       Frage und die Suche nach dem guten Leben ist eine unhintergehbare
       Voraussetzung. Das zu negieren, kann – siehe Adorno – dazu dienen, eine
       theoretische Einsicht zu pointieren. Aber es kann nicht selbst eine
       theoretische Wahrheit werden, zumindest nicht, ohne dass sich daraus selbst
       weitere Probleme ergeben.
       
       Hirsch stört sich zuvorderst daran, wie Adornos Satz verstanden wird. Oder
       wie er gebraucht wird. Denn ohne die Verbindung zu dem Wunsch nach
       Veränderung bekommt die Aussage etwas geradezu Entschuldigendes. Es gibt
       halt kein richtiges Leben im falschen. Also ist alles egal.
       
       Doch Hirsch will den Gestus von Adornos Aussage retten – und muss sie
       deswegen korrigieren, weil sich die impliziten Annahmen, auf die sich
       Adorno noch stützen konnte, verändert haben.
       
       ## Nach der Postmoderne
       
       Die Falschheit der Welt kann man, gerade als deren Kritiker, auf eine
       perverse Art genießen, konstatiert Hirsch. Diese Haltung ist vor allem dann
       zu beobachten, wenn die Verbindung von Kritik und dem Begehren nach
       Veränderung verlorengegangen ist. Dieser Vorwurf ist nicht ganz neu,
       spottete Georg Lukács einst schon über die Frankfurter Schule als „Grand
       Hotel Abgrund“. Doch Spott ist nicht Hirschs Sache, bemüht er sich doch um
       eine rettende Lektüre. Und in deren Rahmen ist Adorno ein wichtiger
       Bezugspunkt, vor allem im Vergleich zu dem, was nachfolgt.
       
       „Nach ein paar Jahrzehnten Unterricht in Poststrukturalismus,
       Dekonstruktion und Systemtheorie zeigt sich langsam, was alles dadurch
       verlorenging“, lautet Hirschs Kritik des linken Defätismus. Der spürt zwar
       noch im unscheinbarsten Winkel des Lebens das Wirken der Herrschaft auf,
       kann aber diese Befunde nicht mehr in einem Zusammenhang der
       Weltveränderung stellen. Das Aufspüren der Verstrickungen in die
       Verhältnisse wird zum Selbstzweck, aus dem der Kritiker seine Befriedigung
       zieht.
       
       Neben Adorno ist vor allem Pierre Bourdieu, der Theoretiker der feinen
       Unterschiede und des Geschmacks, Gegenstand der Auseinandersetzung. Hirsch
       argumentiert keineswegs gegen die Einsichten solcher Theorie. Nur gegen
       deren Gebrauch. Denn seit Adorno und auch Bourdieu gab es einen
       Funktionswandel der Kritik.
       
       Inzwischen hat sie selbst legitimatorischen Charakter. Sie dient als
       Ausweis der Funktionalität von Institutionen und nicht als ihr Gegenteil,
       wie man an Universitäten und Kultureinrichtungen beobachten kann. Die
       Kritik wird ins Bestehende eingemeindet. Und das kritische Bewusstsein geht
       mit der, sei’s auch unbewussten, Behauptung der Unveränderbarkeit der Welt
       einher.
       
       ## Alles infrage stellen
       
       Das wiederum bedingt einen professionellen Nihilismus, der zwar alles
       infrage stellt, aus dem eigenen Wissen aber keine Konsequenzen mehr ziehen
       kann. Oder, anders gesagt, nicht mehr daran glauben kann. So haben es dann
       auch die Konservativen leicht, den linken Intellektuellen Heuchelei
       vorzuwerfen.
       
       Das Problem ist, dass sich die kritischen Geister in dieser misslichen
       Situation eingerichtet haben. Die Identifikation mit dem Betrieb, das
       Streben nach symbolischer Anerkennung durch diesen und die ruinöse
       Konkurrenz unter den Kulturarbeitern lähmen das kritische Denken.
       
       Hirschs Buch ist als Versuch zu begreifen, sich mit den eigenen
       intellektuellen Mitteln dieser Misere zunächst bewusst zu werden – und den
       Schritt aus ihr heraus zu wagen. Der Autor plädiert für eine linke
       Ideenpolitik. Es könnte schlicht keine Zukunft geben, wenn es nicht
       gelingt, andere Formen der Weltaneignung als die herrschenden zu
       etablieren.
       
       Damit das gelingen kann, muss man sich lösen. Auch vom perversen Genießen
       der bloßen Rechthaberei. Man müsse mehr auf die Stimme des eigenen
       Begehrens hören als auf die Sirenenklänge der Kenntnis des Falschen,
       schreibt Hirsch. Und deswegen müsse man auch die Spuren des richtigen
       Lebens festhalten. Um das eigene Begehren und das gute Leben nicht zu
       verraten.
       
       ## Ein Lehrstück
       
       „Richtig falsch“ ist ein Lehrstück in intellektueller Aufrichtigkeit, eines
       Denkens ohne Absicherung – ganz im Geiste der „Minima Moralia“. Ein
       emphatisches Denken, das das Mögliche und scheinbar Unmögliche erkundet und
       zugleich den Impuls der Veränderung mitteilt. Und es sich nicht leicht
       macht, sondern das Wagnis der geistigen Spekulation eingeht.
       
       „Richtig falsch“ ist der seltene und beglückende Fall eines theoretischen
       Buchs, das ein Verhalten exemplarisch zu zeigen sucht – eine Lektion in
       Sachen richtigen Lebens, die der intellektuellen Lähmung der Linken den
       Kampf ansagt.
       
       30 Aug 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jakob Hayner
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Theodor W. Adorno
 (DIR) Kapitalismuskritik
 (DIR) Frankfurter Schule
 (DIR) Kritische Theorie
 (DIR) Neue Frankfurter Schule
 (DIR) Theodor W. Adorno
 (DIR) Theodor W. Adorno
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Ein Gründer der Frankfurter Schule: Der Undurchschaubare
       
       Der große Anteil Friedrich Pollocks an der Kritischen Theorie ist kaum
       bekannt. Philipp Lenhard hat nun die erste Biografie über ihn geschrieben.
       
 (DIR) Adorno-Vortrag über Rechtsradikalismus: Drastische Namen für Propaganda
       
       Soeben ist ein bisher unveröffentlichter Vortrag von Theodor W. Adorno
       erschienen: „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“.
       
 (DIR) Adorno-Vorlesung in Frankfurt: Kritik begründen
       
       Vor 50 Jahren starb Adorno. Anlässlich seines Todestags geht es in
       Frankfurt um den Einfluss des Philosophen auf die heutige
       Geisteswissenschaft.