# taz.de -- Ein Gründer der Frankfurter Schule: Der Undurchschaubare
       
       > Der große Anteil Friedrich Pollocks an der Kritischen Theorie ist kaum
       > bekannt. Philipp Lenhard hat nun die erste Biografie über ihn
       > geschrieben.
       
 (IMG) Bild: Friedrich Pollock (1894–1970) gab kaum Gedanken und Gefühle preis
       
       Als die Kritische Theorie Ende der 1960er Jahre in aller Munde war, wurde
       der Name Friedrich Pollock selten genannt. Studenten in Adornos Frankfurter
       philosophischem Oberseminar bekamen ihn manchmal zu Gesicht, wenn er seinen
       lebenslangen Freund Max Horkheimer auf seinen Reisen von Montagnola nach
       Frankfurt begleitete, um an alter Wirkungsstätte nach dem Rechten zu sehen.
       
       An den durchaus lebhaften Diskussionen beteiligte er sich nie. Wenn es zum
       Disput zwischen Horkheimer und Adorno kam, setzte Pollock ein
       undurchschaubares Lächeln auf, das auf manchen Porträtfotos
       wiederzuerkennen ist. Dieser verbergende Charme überdeckte lange die
       zentrale Rolle, die Friedrich Pollock bei der Herausbildung der Kritischen
       Theorie gespielt hatte.
       
       Philipp Lenhard rückt den Cheforganisator des Instituts für Sozialforschung
       als „graue Eminenz der Frankfurter Schule“ fünfzig Jahre nach seinem Tod
       ins rechte Licht. Parallel zu dieser lesenswerten Biografie hat Lenhard im
       Freiburger ça ira Verlag mit einer sorgfältigen Herausgabe von Pollocks
       Gesammelten Schriften begonnen.
       
       Es gibt viel zu entdecken in Friedrich Pollocks Leben. Inzwischen sind
       zahlreiche Briefwechsel publiziert, die Einblick in Denken und Fühlen
       dieser letzten briefeschreibenden Generation geben. Zwischen Horkheimer und
       Pollock gab es seit der Jugendzeit regelrechte Geheimverträge, in denen sie
       unter wechselnden Bedingungen ihre Lebensziele bestimmten.
       
       ## Vertraunsintérieur
       
       In dieses Vertrauensverhältnis, intérieur genannt, konnten nicht einmal
       Maidon Horkheimer, schon gar nicht Pollocks Ehefrauen eindringen. Ihre
       Pläne vor jeder Öffentlichkeit zu verbergen, hatten Pollock und Horkheimer
       schon früh geübt. Erste Versuche, sich eine private île heureuse in einer
       Ménage-à-trois zu schaffen, waren auf dramatische Weise gescheitert. Dem
       Willen ihrer großbürgerlichen Väter, in deren erfolgreiche Betriebe
       einzutreten, entzogen sie sich.
       
       Jüdische Tradition war in den Elternhäusern unterschiedlich präsent: bei
       den Horkheimers zurückhaltend konservativ, bei Pollocks gar nicht. Als
       entscheidendes gemeinsames Erlebnis der Söhne im extérieur kann die
       Münchner Räterepublik 1919 gelten, die beide als teilnehmende Beobachter
       erlebten. Die Schrecken der Konterrevolution erfuhren sie in nächster Nähe,
       versuchten zu helfen, wo sie konnten. Solidarität wird in der Kritischen
       Theorie ein Schlüsselbegriff werden.
       
       Die Erfahrung einer gescheiterten Revolution wurde zum Motor der
       theoretischen und praktischen Anstrengungen der künftigen kritischen
       Theoretiker. Orientierungslosigkeit und Unkenntnis der Theorie schienen
       hauptverantwortlich für die Niederlage zu sein.
       
       Pollock gelang es schon bald nach ihrem gemeinsamen Umzug nach Frankfurt,
       die richtigen Kontakte zu knüpfen. Über Felix Weil wurden sie mit Karl
       Korsch und Georg Lukács bekannt, die auf der Suche nach Diskussionen über
       Parteigrenzen und Fraktionen hinweg waren. Vor allem aber beeindruckte der
       organisatorisch fähige Pollock den jungen Weil, der nach der Ablösung aus
       dem Vaterhaus im gemeinsamen Heim von Pollock und Horkheimer in Kronberg
       ein politisch-intellektuelles Zuhause fand.
       
       ## Ein Institut gründen
       
       Hier wurde die Idee eines unabhängigen, gleichwohl an die Universität
       angeschlossenen Instituts entwickelt, das die Möglichkeiten revolutionärer
       Veränderung in der Gegenwart erkunden sollte. Pollock muss auch auf Felix
       Weils Vater, den großbürgerlichen Getreidehändler Hermann Weil
       vertrauenerweckend gewirkt haben, der für seinen Sohn eine sinnvolle
       wissenschaftliche Betätigung suchte. Der großzügige Stifter Hermann Weil
       ahnte sicherlich nicht, welche Aktivitäten sich im Institut entwickelten.
       
       Die noch nicht habilitierten Horkheimer und Pollock konnten beide nicht die
       Leitung des Instituts übernehmen. Sie suchten sich die Leute, mit denen
       sich ihre Ziele verwirklichen ließen. Der international bekannte
       Austromarxist Carl Grünberg wurde zum Institutsleiter gemacht. Sein Archiv
       wurde zum Grundstock einer einzigartigen Bibliothek.
       
       Grünberg brachte belesene Ökonomiekritiker wie Henryk Grossmann mit.
       Kontakte zu Menschewiki und Bolschewiki ermöglichten ein gewagtes Projekt:
       die Kopie des Marx-Nachlasses für Moskau und den Beginn einer
       Gesamtausgabe. Die Erstveröffentlichung der Marx’schen Frühschriften löste
       1927 eine neue Marx-Renaissance aus. Horkheimer fand einen Ansatz, den
       kritischen Ideologiebegriff für die spätere Kritische Theorie nutzbar zu
       machen.
       
       Die Zusammenarbeit mit Moskau verschaffte Pollock eine Einladung zum 10.
       Jahrestag der Oktoberrevolution. Nun konnte er, unterstützt von seinem
       Kooperationspartner David Rjasanow, seinen Interessen an der sowjetischen
       Planwirtschaft nachgehen. Seine 1929 erschienene Untersuchung ist eine
       kritische Pionierarbeit, die aber noch nicht den Schrecken der
       Kollektivierung und den Industrialisierungsterror erfasst. Noch verfolgte
       man in Frankfurt die Entwicklung in der Sowjetunion mit von Skepsis
       durchsetzter Sympathie.
       
       ## Internationales Netzwerk
       
       Im Institut arbeiteten Wissenschaftler aus allen Fraktionen der Linken,
       Studenten aus aller Welt fanden den Weg nach Frankfurt. Pollock schaffte
       es, ein weites Netz zu knüpfen. Das erregte den Verdacht des
       Polizeipräsidiums. Pollock blieb allen Mitarbeitern gegenüber reserviert.
       Nur Horkheimer besaß sein uneingeschränktes Vertrauen.
       
       Als Horkheimer 1930 die Institutsleitung übernahm, bekannte er sich zum
       Prinzip der aufgeklärten Despotie. Weil hatte seine persönlichen Interessen
       inzwischen mehr nach Berlin verlagert; Pollock und Horkheimer konnten in
       Frankfurt schalten und walten, wie sie wollten.
       
       Mit großem Elan stürzten Pollock und Horkheimer sich in den Aufbau der
       Zeitschrift für Sozialforschung, eines ungeheuer aufwendigen Projekts, das
       zu einem internationalen Netzwerk wurde. Angesichts der drohenden
       nationalsozialistischen Machtergreifung musste das Institutsvermögen
       transferiert werden.
       
       1932 waren Pollock und Horkheimer auf die Idee gekommen, Zweigstellen im
       Ausland zu eröffnen. Über wissenschaftliche Kooperation fand man den Weg in
       die Schweiz, auch knüpfte man Kontakte nach Paris und London. 1934 ergab
       sich die Möglichkeit, das Institut an die Columbia University
       anzuschließen.
       
       ## Ins Exil
       
       Die weise Voraussicht kam nicht aus dem Nichts. Die Frage nach dem
       Klassenbewusstsein hatte die Frankfurter Sozialwissenschaftler auf die Idee
       gebracht, empirisch die Einstellungen von Arbeitern und Angestellten zu
       überprüfen. Die Untersuchung ergab eine ausgesprochene Anfälligkeit für
       autoritäre Vorstellungen, ein großes Widerstandspotenzial war nicht zu
       erwarten.
       
       Dieses Wissen nahmen die Autoren mit ins Exil. Ihre
       sozialwissenschaftlichen Ansätze tauchten später in den
       Antisemitismusstudien und ihrer großen Studie „Authoritarian Personality“
       wieder auf, die von der New York Times nach Donald Trumps Wahlsieg
       wiederentdeckt wurde. Pollock war zum Organisator einer kritischen
       Wissenschaftspraxis geworden, die ihn auch bei der Rückkehr des Instituts
       nach 1945 unentbehrlich machte.
       
       Lenhard macht den ungeheuren Druck sichtbar, der auf Pollock lastete, das
       Vermögen des Instituts durch die Weltwirtschaftskrise zu bringen, Visa,
       Tickets für transatlantische Schiffspassagen, Jobs und Stipendien für die
       Verfolgten in Europa oder gerade in den USA Angekommenen zu organisieren.
       Die Not zwang Pollock zu manch unmenschlich erscheinenden Entscheidungen.
       
       Lenhard macht die Grausamkeit der Lage sichtbar, die Pollocks unermüdliche
       Anstrengungen noch bewundernswerter erscheinen lassen. Wie unter diesen
       Umständen noch bahnbrechende theoretische Arbeit geleistet werden konnte,
       ist kaum zu begreifen. Lenhard gelingt es, Pollocks kaum bekannten Anteil
       an der Herausbildung der Kritischen Theorie herauszustellen.
       
       ## Ende des Konkurrenzkapitalismus
       
       Die Auflösung der kapitalistischen Existenzkrise im New Deal ließ nach der
       Möglichkeit eines Staatskapitalismus fragen. Die Einbeziehung
       planwirtschaftlicher Elemente markierte ein Ende des liberalen
       Konkurrenzkapitalismus. Der Blick fiel im fortgeschrittensten
       kapitalistischen Land auf die technologischen Veränderungen, die in der
       Automation die Arbeiter überflüssig zu machen drohte.
       
       Eine solche Entwicklung musste auch die herrschende Klasse zersetzen, die
       in einzelne „rackets“ zerfallen würde. Diese Erkenntnisse flossen in die
       später so berühmt gewordene „Dialektik der Aufklärung“ ein, die Horkheimer
       und Adorno Pollock widmeten, der ihnen diese Arbeit in Kalifornien
       ermöglicht hatte.
       
       Mit dem war effort traten viele kritische Theoretiker wie Marcuse und
       Neumann in den amerikanischen Staatsdienst ein, um an der Bekämpfung des
       Nationalsozialismus mitzuarbeiten. Als der Sieg näher rückte, wurden die
       Ideen der kritischen Theoretiker im Exil immer interessanter. Seine
       Beratertätigkeit führte Pollock direkt ins Weiße Haus.
       
       Gleichzeitig häuften sich die Nachrichten aus dem umkämpften Europa. Die
       gut informierten kritischen Theoretiker gehören zu den Ersten, die im
       Massenmord an den europäischen Juden den integralen Kern einer
       irreversiblen Weltveränderung erkannten.
       
       ## Die Flaschenpost
       
       Der äußere Erfolg verblasste angesichts dieser geschichtlichen
       Katastrophe. Pollock tendierte zum Rückzug. Das zentrale Werk der
       Kritischen Theorie, die „Dialektik der Aufklärung“, war als „Flaschenpost“
       angelegt. Lenhard macht deutlich, dass Pollock ein auskömmliches Leben in
       Kalifornien der Hektik des New Yorker Betriebs vorzog. Doch es kam anders:
       Horkheimer nahm 1950 voller Zweifel ein Angebot an, in Frankfurt das
       „Institut für Sozialforschung“ wiederzueröffnen.
       
       Lenhard versucht Pollocks Perspektive aus den hinterlassenen biografischen
       und autobiografischen Dokumenten zu rekonstruieren. Mehr noch als
       Horkheimer, der extrem vorsichtig in der Öffentlichkeit agierte, verbarg
       Pollock seine Gedanken und Gefühle. Das galt selbst für seine engste
       Umgebung; in seine symbiotische Beziehung zu Horkheimer geben nur die von
       beiden für die Nachwelt arrangierten Materialien Einblick. Auffällig bleibt
       das Misstrauen gegenüber dem Aufenthaltsort Deutschland, Pollock und
       Horkheimer diskutierten noch 1960 eine mögliche Rückkehr nach den USA,
       wählten dann aber das Tessiner Montagnola als sicheren Wohnsitz.
       
       Die Fortführung der fragmentarisch gebliebenen „Dialektik der Aufklärung“
       gelang ihnen nicht; Pollock wurde mit der Umschreibung auf die Verhältnisse
       des Kalten Krieges betraut. Horkheimer hatte panische Angst vor
       Missverständnissen, ließ sich aber Mitte der 1960er Jahre zu einer
       kontrollierten Veröffentlichungspolitik bewegen.
       
       Für das intellektuell-politische Frankfurter Klima, in dem ab Mitte der
       1960er Jahre ein leidenschaftliches Interesse an kritischer Theorie
       aufblühte, zeigt Lenhard leider wenig Gespür. Das komplexe
       Beziehungsgeflecht zwischen Lehrern und Schülern wird auf allzu einfache
       Formeln reduziert. Martin Jays Pionierarbeit über die Geschichte des
       Instituts, „Dialektische Phantasie“, hatte Pollock noch zur Kommentierung
       bekommen; darüber hätte man gern von Lenhard mehr erfahren.
       
       28 Jan 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Detlev Claussen
       
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