# taz.de -- Neuauflage des Buchs „Behemoth“: Das Monster
       
       > Franz Neumanns „Behemoth“ war die erste Darstellung Hitler-Deutschlands
       > aus Emigranten-Feder. Das monumentale Werk wurde neu aufgelegt.
       
 (IMG) Bild: Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme
       
       Wer sich vor fünfzig Jahren mit dem Zusammenhang von Nationalsozialismus
       und deutscher Gesellschaft beschäftigen wollte, dem galt der „Behemoth“ von
       Franz Neumann als Geheimtipp. Das Buch war im US-amerikanischen Exil
       entstanden und 1942 erstmals erschienen. Aber es dauerte bis 1977, bis das
       gewaltige Werk von fast 700 Seiten erstmals auf Deutsch zu lesen war.
       
       Das Manko zeitgeschichtlicher Aufarbeitung des Nationalsozialismus in
       Deutschland lag offen zutage. Die Ausstrahlung der [1][US-amerikanischen
       TV-Serie „Holocaust“] im deutschen Fernsehen 1979 machte auf das lack im
       öffentlichen Bewusstsein aufmerksam. Das Interesse der Öffentlichkeit
       fokussierte sich nun auf den Massenmord an den europäischen Juden.
       
       Der Gesamtzusammenhang von Diktatur, Angriffskrieg, Massenverbrechen und
       Gesellschaftsstruktur verschwand hinter der moralisch einfach zu
       bewältigenden Dichotomie von Tätern und Opfern. Nur durch diese
       Verschiebung wurde die deutsche „Erinnerungskultur“ möglich, die zwar das
       Bekenntnis zum Richtigen fördert, aber die Erkenntnis des Falschen
       vernachlässigt.
       
       Die Europäische Verlagsanstalt erwirbt sich ein großes Verdienst, im Jahre
       2018 das monumentale Buch von Neumann über „Struktur und Praxis des
       Nationalsozialismus 1933–1944“ neu herauszugeben. Eingeleitet von
       ausgewiesenen Kennern der Geschichte des Nationalsozialismus, Michael
       Wildt, und der intellectual history der Emigration, Alfons Söllner, wird
       diese intellektuelle Pioniertat des deutsch-jüdischen Exilanten in einen
       größeren Rahmen gestellt.
       
       ## Organisiertes Chaos
       
       Neumanns Biografie (1900 bis 1954) verknüpft die Erfahrung der Weimarer
       Demokratie, der nationalsozialistischen Diktatur, der Unterstützung der
       US-amerikanischen Kriegsanstrengungen mit der Enttäuschung über die
       Restauration im nachfaschistischen Deutschland. Die parteikommunistische
       Diktatur im Osten erschien dem linken Sozialdemokraten nie eine Option,
       obwohl er selbst in Verdacht geriet, der Sowjetunion Tipps über die
       US-amerikanische Nachkriegspolitik gegeben zu haben.
       
       Neumann übernahm wesentliche Aufgaben im OSS, Vorläufer der CIA, bei der
       propagandistischen Bekämpfung des nationalsozialistischen Deutschland und
       arbeitete der Anklage bei den Nürnberger Prozessen zu. Seine Analyse des
       Nationalsozialismus wird bestimmt von dem Wunsch, den Aufbau eines
       demokratischen Deutschland zu ermöglichen.
       
       Neumann versucht, die Gruppen zu identifizieren, die den Staat an sich
       gerissen haben: Partei, Staatsbürokratie, Armee und Wirtschaftsführung. Der
       Nationalsozialismus wird bei Neumann keineswegs monolithisch gesehen. Es
       geht in einem permanenten Kampf um die Macht, die durchaus auch ökonomische
       Vorteile aus einer privilegierten Position heraus gewährt.
       
       Hinter der propagierten Volksgemeinschaft erkennt Neumann eine dynamische
       kapitalistische Klassengesellschaft, die von einem charismatischen Führer
       regiert wird. Weder geht Neumann von einer einheitlichen herrschenden
       Klasse aus noch von einer oppositionellen Arbeiterklasse. Bei seiner
       Analyse der oppositionellen Kräfte bleibt oft der Wunsch der Vater des
       Gedankens. Im Ernst konnte man nur auf verschwindend kleine oppositionelle
       Gruppen hoffen.
       
       Neumanns Arbeit beschreibt enorm faktenreich den Nationalsozialismus auf
       dem Höhepunkt seiner Herrschaft als einen „Rassenimperialismus“ – ein
       „organisiertes Chaos“, für das er das Bild des apokalyptischen Monsters
       „Behemoth“ wählt. Die Schwachstelle von Neumanns Theorie bleibt die vom
       Antisemitismus als „Speerspitze“ terroristischer Menschenbeherrschung, als
       „ein Testfeld universaler terroristischer Methoden, die sich gegen alle
       jene Gruppen und Institutionen richten, die sich dem Nazisystem nicht voll
       und ganz unterworfen haben“.
       
       Diese Ansicht ist dem vorherrschenden Rationalismus seiner Theorie
       geschuldet. Noch die von ihm schon 1942 erkannte „planvolle Ausrottung der
       Juden“ will er als Kalkül politischer Herrschaft sehen. So bleibt auch die
       Massenvernichtung der europäischen Juden in einem juristisch fassbaren
       Rahmen.
       
       Neumann war sich dieser Schwäche wohl bewusst; er empfand den „Behemoth“
       als nicht hinreichend. Die Sprengung der Zweck-Mittel-Relation, die eine
       andere gesellschaftstheoretische Konstruktion erfordert, blieb der fast
       gleichzeitig entstandenen „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und
       Adorno vorbehalten. Ein kritischer Theoretiker war er trotz seiner Nähe zum
       „Institut für Sozialforschung“ und seiner engen Freundschaft mit Herbert
       Marcuse nicht geworden.
       
       Aber – wie Alfons Söllner klug bemerkt – erlaubte es die theoretische
       Inkonsistenz Neumanns seinem Schüler Raul Hilberg, die „Vernichtung der
       europäischen Juden“ empirisch aus der Struktur und Praxis des
       Nationalsozialismus zu rekonstruieren.
       
       10 Oct 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Detlev Claussen
       
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