# taz.de -- Europa, Populismus und die Pandemie: Was uns die Krise lehrt
       
       > Verwirrung und Desinformation dient nur Tyrannen. Ein leidenschaftliches
       > Plädoyer zur Verteidigung der humanistischen Werte Europas.
       
 (IMG) Bild: Demonstration gegen die Corona-Einschränkungen vor dem Parlament am 18.11. in Berlin
       
       Während der Corona-Ausgangssperre schwebte mein Vater zwischen Leben und
       Tod im Krankenhaus in Paris. Ich erlebte Straßensperren, abgeschirmte
       Krankenhäuser, die grausame Einsamkeit des Patienten in den Händen des
       überlasteten Personals. Ich lernte die Angst der Angehörigen kennen, die
       Ärzte darum anflehten, ihre Liebsten besuchen zu dürfen, und Polizisten um
       die Erlaubnis anbettelten, die menschenleere Stadt zu durchqueren.
       
       Ich spürte dieses Gefühl der Schwere: der Menschlichkeit anderer
       ausgeliefert zu sein.
       
       Das hat mich die Krise gelehrt. Jeder von uns hängt irgendwann in seinem
       Leben von der Fähigkeit anderer ab, menschlich zu sein. Das Blatt kann sich
       schnell wenden. Diejenigen, die heute gegen die Verordnungen zum Schutz vor
       der Ausbreitung von Corona demonstrieren, können morgen die ersten sein,
       die um Solidarität betteln.
       
       Sie scheinen mir der Ausdruck eines triumphierenden Individualismus. Einer
       Vorstellung, dass jede/r das Recht hat, seinen kleinen Komfort, seine
       Wünsche und Meinungen grenzenlos zu verteidigen. Soziale Netzwerke haben
       dieser Entwicklung die Mittel zum Erfolg gegeben. Ein Phänomen, das auf den
       ersten Blick der Demokratie zu dienen scheint, sie in Wirklichkeit mit
       seinen wahnwitzigen Auswüchsen aber bedroht.
       
       ## Wunsch und Kollektivität
       
       Denn wenn jede/r unbedingt erwartet, dass ein jeder Wunsch von der Politik
       umgesetzt werde, ist keine gemeinsame Entscheidung mehr möglich. Ein
       kollektives Projekt kann aus der kompromisslosen Gegenüberstellung einer
       Vielzahl unterschiedlicher und mitunter antagonistischer Empfindungen nicht
       entstehen.
       
       Die Demokratie hängt von der Fähigkeit ihrer Bürger:innen ab, die
       Spielregeln zu verstehen. Sie zu respektieren. Den Dialog, den Konsens, die
       Kompromisse. Und das bedeutet, zu akzeptieren, dass der eigene Wille nicht
       immer absolut befriedigt werden kann.
       
       Die Demokratie ist vielmehr in Gefahr, [1][wenn das Prinzip der
       Repräsentation verleumdet, Bundestagsabgeordnete beleidigt und das
       Parlament angegriffen werden]. Sie ist in Gefahr, wenn die Legitimität von
       Expert:innen und Wissenschaftler:innen rundweg abgelehnt sowie
       empirisch feststellbare Fakten diskreditiert werden. Wenn man die eigene
       Meinung immer schon für Wissen hält.
       
       Die Vergangenheit lehrt uns, dass eine gewisse Verwirrung zu einer
       wahnwitzigen Darstellung der Welt führen und durchaus mörderische Aktionen
       zur Folge haben kann[2][. In der „Dialektik der Aufklärung“ beschreiben
       Theodor W. Adorno und Max Horkheimer] 1944 eine solche Entwicklung. Wo man
       sich weigert, die Meinung mit der von anderen zu konfrontieren, sie zu
       überprüfen, wird sie zu einer simplen Überzeugung, zu einer einfachen
       Erklärung von Welt, die kein eigenes Nachdenken erfordert.
       
       ## Vernunft und Absolutheit
       
       Man flüchtet in die sture Ablehnung von Argumenten, von faktischen
       Beweisen, die der eigenen Überzeugung widersprechen. Einer Überzeugung, die
       oft aus einer Mischung von Gerüchten, Verschwörungstheorien und
       Gefühlslagen besteht. Sie mündet in Paranoia, in der jeder Widerspruch als
       persönlicher Angriff empfunden wird. Ein kleiner Schritt nur noch bis zur
       wahnsinnigen Tat.
       
       Pandemien sind nur eine der vielen Herausforderungen, die im 21.
       Jahrhundert auf uns warten. Um sie zu meistern, werden humanistische Werte,
       wie sie in der europäischen Verfassungen verankert sind, von maßgeblicher
       Bedeutung sein. Wir müssen uns denen widersetzen, die versuchen, diese als
       schwach, naiv oder trügerisch zu diskreditieren. Die gemeinsamen
       humanistischen Werte sind die Voraussetzung für unser Überleben.
       
       Das 20. Jahrhundert hat uns gezeigt, wozu der Mensch fähig ist, wenn er
       seine Menschlichkeit verliert. Er zerstört sich selbst. Heute sind wir
       erneut mit Weltanschauungen konfrontiert, die im Menschen ein Mittel und
       nicht den Zweck sehen. Die ihn zum Instrument eines Staatsapparats, einer
       Ideologie, einer Wirtschaftsordnung oder technologischer Experimente
       machen.
       
       Lügen werden von autoritären Regimen systematisch verbreitet, um die
       Bevölkerungen besser instrumentalisieren zu können. Wo die Freiheit
       eingeschränkt ist und repressive Mächte herrschen, fügen Menschen sich
       bereitwilliger, um als Rädchen im Räderwerk zu dienen.
       
       ## Autoritäre Regime
       
       Aber auch in den Demokratien Europas besteht die Gefahr, dass man die
       Lehren der Geschichte aus den Augen verliert. Nicht selten begegne ich
       Menschen, auch in meinem Bekanntenkreis, die den wirtschaftlichen Erfolg
       Chinas oder die einer Weltmacht wie Wladimir Putins Russland offen
       bewundern. Über die Faszination für das Gesetz des Profits oder die virile
       Selbstinszenierung von Macht verblassen sogar Menschenrechtsverbrechen, wie
       Pekings Völkermord an den Uiguren.
       
       Manche wählen nicht unbedingt populistische Parteien. Sie betrachten sich
       selber als tolerant und demokratisch. Doch sie bedienen sich der
       populistischen Rhetorik. Ressentiment und Frust werden zum „Widerstand“
       gegen die „politische Korrektheit“ umgedeutet. Je oberflächlicher die
       Kenntnisse sind, desto provokativer fallen die diffamierenden Slogans aus.
       
       Man glaubt, es führe zu keiner Konsequenz, eine solche Haltung zu
       verbreiten und sich leichtfertig auf den Relativismus der moralischen Werte
       zu berufen. Man glaubt, Worte töten nicht. Und so vergisst man nach und
       nach der Mensch zu sein, der man einmal war. Und schaufelt fleißig mit am
       Grab für Freiheit und Demokratie, im Namen eines entmenschlichten Systems.
       
       Gewiss lebt die Demokratie von Streit, Debatte und Meinungsvielfalt. Eine
       offene Gesellschaft muss ihre Grenzen immer wieder neu bearbeiten. Gerade
       das verschafft ihr Legitimation. Bedenken gegen die Gesundheitspolitik der
       Behörden, die Schwachstellen der Demokratie, sie sollten ohne moralische
       Zensur artikuliert werden. Aber nur eine Meinung zu haben, die sich aus
       sich selbst heraus begründet, ist eine gefährliche Verkürzung.
       
       ## Fundamentale Missverständnisse
       
       Es wäre ein fundamentales Missverständnis, Gewalt mit Stärke zu
       verwechseln, Skrupellosigkeit mit Mut, Geld mit Erfolg, Quantität mit
       Qualität, Meinungen mit Fakten.
       
       Solche Verwechslungen zeigen, wie sehr Worte ihrer Bedeutung beraubt werden
       können. Wenn Sprache in dieser Weise kontaminiert wird, kann es keinen
       argumentativen Austausch mehr, keine echte Auseinandersetzung, kein Wissen
       und keine Wahrheit, die wir miteinander teilen, mehr geben. [3][Ein Volk,
       das in diesem Sinne nicht mehr urteilsfähig ist, kann unendlich manipuliert
       werden, stellte Hannah Arendt] einst fest.
       
       Es liegt an jedem von uns in Deutschland und Europa, der
       Orientierungslosigkeit zu widerstehen, die eine Minderheit versucht
       wirkmächtig zu befördern. Verwirrung und Desinformation dient nur Tyrannen.
       Unsere Wertegemeinschaft braucht dagegen eine klare Orientierung. Europa
       muss den Worten Demokratie, Gerechtigkeit, Mut und der Freiheit selbst ihre
       Bedeutung zurückgeben, indem es diese humanistischen Werte
       unmissverständlich lebt und sie den Bürger:innen über Bildung vermittelt.
       
       Die geistige Entfaltung des Menschen muss in Europa als Maßstab des
       Fortschritts gelten, und nicht nur Wirtschaftsleistungen oder
       technologische Erfindungen. Sonst droht „die Faszination für große Zahlen“,
       unsere Fähigkeit zu untergraben, das zu schätzen, was sich schlecht in
       Zahlen messen lässt: die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Moral, die
       Freiheit, das Schöpferische – der Mensch selbst und die Unschärfe der
       conditio humana.
       
       ## Die irrationale Dimension
       
       Der Mensch ist nicht reduzierbar auf Statistiken, Algorithmen, Daten. Er
       ist sowohl rational als auch irrational. Wenn die irrationale Dimension des
       Menschen geleugnet wird, dann nutzen Demagogen diese Leerstelle für ihre
       politischen Zwecke, um an die niedrigsten Instinkte des Menschen zu
       appellieren und ihre Anfälligkeit für Mythen und Verschwörungstheorien zu
       befriedigen.
       
       Humanistische Werte sind kein moralisches Accessoire, das uns ein hübsches
       Aussehen verleiht. Sie helfen uns Herausforderungen zu bewältigen, die
       Zukunft gemeinsam zu gestalten und die Gefahren zu erkennen. Sie helfen
       uns, bewusster zu leben.
       
       Je konsequenter Europa diesem Weg folgt, desto stärker wird sein normativer
       Einfluss sein. Desto glaubwürdiger sein Bestreben, dem Anspruch des
       Menschen zu dienen, seine Angst, seine Vorurteile und seine Urinstinkte zu
       überwinden – sein Leid in Freiheit zu verwandeln und sich zur
       schöpferischen Vernunft zu erheben.
       
       28 Nov 2020
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Géraldine Schwarz
       
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