# taz.de -- Transgender Kinder und Jugendliche: Eine Welt voller Hürden
       
       > Eine Transition in jungen Jahren ist schwierig. Denn Medizin, Bürokratie
       > und Gesellschaft erschweren den Prozess – vorgeblich zum Schutz der
       > Kinder.
       
 (IMG) Bild: Trans Kinder und Jugendliche bekommen noch nicht genug Unterstützung
       
       Für Luka Berg ist es der letzte Sommer im alten Leben. Im Juni hat der
       18-jährige Berliner sein Abitur mit „Eins Komma“ geschafft, ab Oktober will
       er ein technisches Fach studieren, bei den Eltern aus- und mit seinem
       Freund zusammenziehen. Luka hat berufliche Ziele, Freundschaften, ein enges
       Verhältnis zur Familie. Und: Er mag sich. Früher war das anders.
       
       Zu Beginn der Pubertät leidet Luka jahrelang unter Sozialphobie und
       schwerer Depression, verlässt kaum noch das Haus. Luka ist trans, damals
       trägt er noch einen Mädchennamen. „Ich habe mich in meiner Haut immer
       unwohler gefühlt“, sagt Luka an einem Sommernachmittag auf der Terrasse
       seiner Eltern. Die Bergs wohnen in einem Reihenhaus mit Garten am Berliner
       Stadtrand. „Es war für mich eine wahnsinnige Hürde, überhaupt unter
       Menschen zu gehen.“ Mit der einsetzenden Pubertät will Luka seinen Körper
       nur noch verstecken. Unter großen Pullis und hinter verschlossenen Türen.
       
       Bei Geburt bekam Luka einen weiblichen Geschlechtseintrag. Er lebt bis zur
       Pubertät als Mädchen. Nur nicht besonders gerne. Lukas Mutter, Marie Berg,
       vermutet, ihr Kind könnte lesbisch sein. An transgender denkt sie nicht.
       Als Luka schließlich ihr gegenüber sein Outing hat, ist er 13. Sie haben
       einen Termin in der Psychosomatischen Klinik der Charité. Eigentlich wegen
       der Sozialphobie, aber eine Frage im Anamnesebogen lässt Marie Berg
       aufmerken. Möchte Ihr Kind lieber dem anderen Geschlecht angehören? steht
       dort zwischen Hunderten anderen Fragen. „Willst du ein Junge sein?“, fragt
       Marie Berg ihr Kind tags darauf zu Hause. „Nein“, sagt Luka. „Ich bin ein
       Junge.“
       
       ## Die Illusion vom Mutter-Tochter-Verhältnis
       
       „Mich hat es zerrupft“, sagt Marie Berg heute. Sie habe damals viel
       geweint. Rückblickend bezeichnet sie die Zeit als Trauerprozess. Trauer um
       was? „Ich hatte mir bei der zweiten Schwangerschaft ein Mädchen gewünscht.
       Ich musste also vielleicht mein Mädchen betrauern. Oder diese Illusion vom
       Mutter-Tochter-Verhältnis. Ich habe mir sogar die Schuldfrage gestellt.“
       Heute stellt sich Marie Berg eine andere Schuldfrage. Sie ist
       Sozialpädagogin – hätte sie früher merken müssen, dass ihr Kind ein trans
       Junge ist? Hätte sie Luka zwei Jahre psychisches Leid ersparen können?
       
       Die Frage, wann trans Kinder und Jugendliche am besten mit einer Transition
       beginnen sollten, sorgt für Debatten. Medizinisch ist es praktisch
       unmöglich, eine einheitliche Regelung für alle Fälle zu formulieren. Starre
       Altersgrenzen, [1][wie sie die Politik bisweilen zu ziehen versucht],
       lehnen die meisten Fachärzt*innen ab. Häufig treffen Familien schon
       jetzt mit ihren Ärzt*innen und Therapeut*innen abweichende
       Entscheidungen. Doch der medizinischen Behandlung vermeintlich gesunder
       Kinder verbinden sich auch Ängste. Die machen sich manche für Alarmismus
       zunutze. Doch selbst da wo dem Thema Transgender offen begegnet wird,
       besteht Sorge vor einer Irreversibilität, einer Endgültigkeit von
       medizinischen Transitionen.
       
       Deshalb begegnen viele Kindern und Jugendlichen, die einen
       Transitionswunsch erkennen lassen, zunächst mit Argwohn. Vermeintlich zum
       Schutz der Minderjährigen gilt: In dubio pro cis. Im Zweifel für das bei
       der Geburt zugewiesene Geschlecht. Die betroffenen Kinder leben damit oft
       in einer Welt der Hürden und der Beweispflicht, auch „Gatekeeping“ genannt.
       
       ## Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt
       
       Luka Berg kommt auf das Thema Transgender zufällig. Zwei Jahre vor seinem
       Outing stößt er beim Zappen am Nachmittag auf einen kurzen Beitrag. Luka
       ist zwar mit dem Internet aufgewachsen. Im Netz recherchiert er jedoch
       erst, nachdem er den Beitrag gesehen hat. „Das Internet bringt nichts, wenn
       du nicht weißt, wonach du suchst“, sagt er. „Ich hätte mir gewünscht,
       früher mehr davon gewusst zu haben.“ Dass das Thema schon in der
       Grundschule aufgetaucht wäre zum Beispiel. „Gar nicht groß, lieber so
       nebenher.“
       
       Allerdings sind Versuche, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt breiter in
       den Lehrplänen auch früherer Klassen zu verankern, in den 2010ern am
       Protest der sogenannten besorgten Eltern gescheitert. Dass trans
       Identitäten im Unterricht weitgehend fehlen, ist eine weiche Form des
       Gatekeeping.
       
       Laura Gerlach ist 12 Jahre alt, und für sie steht in Kürze ein
       entscheidender Termin an. Der Kinder- und Jugendpsychiater soll ihre
       Einwilligungsfähigkeit feststellen. Oder, wie Laura es bezeichnet, „sagen,
       ob ich endlich die Hormone kriege“. Die Gerlachs laden zu einem Besuch bei
       sich zu Hause, in einer Kleinstadt in Hessen. Laura ist hier groß geworden;
       seit sie sechs Jahre alt war, lebt sie als Mädchen.
       
       Wenn der Therapeut bestätigt, dass Laura in der Lage ist, die Konsequenzen
       abzuwägen und eine informierte Entscheidung zu treffen, und wenn die Eltern
       zustimmen, dann darf im Oktober ihre Pubertät beginnen: eine Pubertät unter
       dem Einfluss des Hormons Östrogen, das dem Körper dann über Tabletten oder
       Tropfen zugeführt oder als Gel auf die Haut aufgetragen wird. Eine Pubertät
       unter Testosteron hingegen, das ihr Körper von sich aus produzieren würde,
       möchte Laura vermeiden. Deswegen erhält sie schon seit zwei Jahren eine
       Behandlung mit Hormonblockern. „Blocker“ hemmen die Bildung von Östrogenen
       und Androgenen. Sie werden auch bei bestimmten Formen des Brust- und
       Prostatakrebses und der Endometriose eingenommen sowie bei extrem
       verfrühter Pubertät. Sie verhindern bei Laura zum Beispiel Stimmbruch und
       Bartwuchs. Die könnten bei ihr schwere Dysphorie auslösen – also ein
       Unbehagen bis hin zur Dissoziation vom eigenen Körper. Die Blocker tun aber
       nicht mehr als das. Sie leiten keine Pubertät ein. Solange kein Östrogen
       verabreicht wird, bleibt Laura körperlich, stimmlich und hormonell ein
       Kind.
       
       ## Immer mehr Gatekeeper
       
       Eine Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
       Fachgesellschaften (AWMF) von 2013 zu „Störungen der Geschlechtsidentität
       im Kindes- und Jugendalter“ sieht eigentlich vor, dass die
       Hormonersatztherapie erst ab dem 16. Lebensjahr angewendet werden sollte,
       operative Eingriffe ab 18. Blocker können ab den ersten Anzeichen der
       Pubertät verabreicht werden. Die Leitlinie gilt allerdings als überholt,
       ohnehin hatte sie nur empfehlenden Charakter. Eine Kommission der AWMF aus
       Mediziner*innen, Therapeut*innen und Vertreter*innen der Community
       arbeitet an einem Update, das dann auch verbindlichen Charakter für
       Ärzt*innen haben soll.
       
       Aber auch in Fachkreisen kollidiert Gatekeeping mit liberaleren Ansätzen.
       Die vielleicht extremste und zugleich wohl bekannteste fachliche Ansicht in
       Richtung Gatekeeping ist die des Münchner Kinderpsychiaters Alexander
       Korte. Dieser warnt regelmäßig vor der Gefahr, dass Kinder in eine trans
       Identität gedrängt werden könnten. Dass die Zahl der Diagnosen von
       Gender-Dysphorie in den letzten zehn Jahren stark anstieg, deutet Korte
       weniger als Fortschritt, sondern befürchtet einen Hype.
       
       Korte sprach sich deshalb wiederholt für strenges Gatekeeping in Form von
       medizinischen Begutachtungen und hohen Altershürden bei Jugendlichen aus,
       etwa in einem Spiegel-Interview von 2019 und zuletzt [2][bei einer Anhörung
       im Bundestag im November 2020]. Kolleg*innen allerdings widersprechen
       regelmäßig Kortes Thesen. Auf sein Interview im Spiegel reagierten drei
       Berliner Therapeut*innen und ein Kinderpsychiater aus Münster mit
       Leserbriefen. Sie bekräftigten, dass nach ihrer Erfahrung trans Identität
       keineswegs als Laune in der Pubertät auftrete, sondern in aller Regel viel
       früher gefestigt sei.
       
       Am Tag nachdem Luka Berg sich bei seinen Eltern outet, lässt er sich die
       langen Haare abschneiden. Bald wählt er seinen neuen Namen, feiert eine
       kleine Namensparty, wenige Wochen später beginnt die Blocker-Behandlung.
       Von außen betrachtet kann das rasch wirken. Aber das Coming-out gegenüber
       der Familie ist nur das äußere. Das innere Coming-out vollzieht Luka zu
       diesem Zeitpunkt bereits länger: nämlich seitdem er den Fernsehbeitrag
       gesehen hat. So erzählt er es heute. „Er war mir schon zwei Jahre voraus“,
       sagt Marie Berg. Luka hatte sich jahrelang im Netz informiert, hatte sich
       Videos von trans Männern angeschaut, die ihre Erfahrungen veröffentlichen.
       „Ich wollte einfach sicher sein, bevor ich es jemandem sage“, sagt Luka.
       
       ## Ein Kita-Kind schlägt eine Operation vor
       
       Laura Gerlach hat schon im Kindergartenalter häufig von sich in der
       weiblichen Form gesprochen, berichten Lauras Eltern, Anke und Norbert
       Gerlach. Mit viereinhalb Jahren habe Laura gefragt, ob sie später auch eine
       Frau werden könne, sagt Anke Gerlach. Etwa zur gleichen Zeit habe eine
       Erzieherin sie vorsichtig darauf angesprochen, dass Laura – damals noch mit
       Jungenname – ihre Geschlechtsrolle wohl noch nicht so ganz gefunden habe.
       Eines Tages kommt Laura aus der Kita und erzählt, dass ein anderes Kind zu
       ihr gesagt habe, sie könne sich ja später operieren lassen, wenn sie eine
       Frau sein wolle. Ob das wirklich möglich sei?
       
       Die Gerlachs kontaktieren schließlich den Verein Trans-Kinder-Netz e. V.
       Dieser bringt Familien zusammen, in denen Kinder trans sind, genderqueer,
       nonbinär oder questioning – also ihr Gender noch erkunden. Der Verein
       vermittelt ein Telefonat mit einer anderen Familie. Laura trifft zum ersten
       Mal auf eine trans Person: ein damals zwölfjähriges Mädchen. Die Gerlachs
       erinnern sich, Laura habe aufmerksam zugehört, viele Fragen gestellt und
       sei immer aufgeregter geworden.
       
       „Ab da ist sie nur noch vorausgeprescht“, sagt Norbert Gerlach. Schon in
       der darauffolgenden Woche habe sie den anderen Kindern in der Kita
       mitgeteilt: Ich bin ein Mädchen, und mein Name ist Laura. Bei Pro Familia
       hingegen, an die sich Mutter Anke Gerlach zuerst gewendet hatte, hatte man
       ihr geraten, abzuwarten und nichts zu unternehmen: Das Kind sei noch zu
       jung. Anke Gerlach ärgert das heute. Ebenso die Weigerung einiger
       Erzieherinnen, Laura gemäß ihrem Wunsch mit Laura anzusprechen. „Heute
       würde ich das nicht mehr so einfach hinnehmen.“
       
       Wenn in Medien Gatekeeping-Befürworter wie Korte immer wieder liberalen
       Positionen gegenübergestellt werden, kann es zu einem falschen Eindruck
       kommen. Dass es nämlich den Gatekeeper*innen um den Schutz der Kinder
       gehe, während die Liberalen vor Gefahren die Augen verschlössen. Etwa
       davor, dass Kinder ihre Transition bereuen könnten. Denn die Effekte der
       Hormonblocker sind zwar reversibel, dasselbe gilt aber nicht für
       Hormonersatztherapie und chirurgische Eingriffe.
       
       ## Hormontherapie, Operationen und Pubertät
       
       Hormonersatztherapien führen sozusagen zur „entgegengesetzten“ Pubertät.
       Sie können abgesetzt werden, körperliche Veränderungen, die sie verursacht
       haben, bleiben jedoch bestehen. Daher ist diese Hormontherapie zumindest
       teils irreversibel. Geschichten von Menschen, die ihre Transition bereuen
       oder rückgängig machen möchten, werden unter dem Stichwort „Detransition“ –
       kurz „detrans“ – besprochen. Allerdings leugnen liberalere Personen das
       Risiko von Irrtum und Reue keineswegs. Sie haben bloß andere Antworten
       darauf.
       
       Mari Günter ist Therapeutin in Berlin und betreut unter anderem Kinder mit
       Transitionswunsch. „Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen sich irren
       können“, sagt Günter, „dann müssen wir darüber nachdenken, wie man mit
       einem solchen Irrtum gegebenenfalls gut leben kann.“ Günter geht davon aus,
       dass das besser gelingt, wenn die Personen die Entscheidung selbst
       getroffen haben. „Es ist meine Verantwortung als Therapeutin, dafür zu
       sorgen, dass die jugendliche Person eine informierte und reflektierte
       Entscheidung treffen kann. Die Entscheidung für die Person zu treffen steht
       mir nicht zu.“
       
       Als Vertreterin des Bundesverbands Trans* arbeitet Günter an der neuen
       AWMF-Leitlinie mit. „Aus medizinethischer Perspektive gibt es ein Recht
       auf Irrtum“, sagt sie. „Das muss auch eine kommende Leitlinie beachten.“
       
       Dazu kommt: Nicht nur Hormonersatztherapie und Operation sind irreversibel.
       Auch eine körpereigene Pubertät, die man laufen lässt, ist nicht
       zurückzunehmen. Für trans Frauen vor allem sind Veränderungen in Stimme und
       Körperbau durch Testosteron später kaum noch auszugleichen. Und für alle
       trans Jugendlichen besteht die Gefahr, dass ein gesundes Verhältnis zum
       eigenen Körper und zur eigenen Sexualität durch Jahre der Dysphorie im
       prägenden Alter verhindert wird.
       
       Luka Berg beginnt nach zwei Jahren auf Blockern mit 15 die
       Hormonersatztherapie mit Testosteron und bekommt im Alter von 16 die
       Mastektomie, also das operative Entfernen von Brustgewebe. Er bezeichnet
       sich damit als „erst mal fertig“. Er ist amtlich ein Mann und hat dank
       medizinischer Behandlung das Passing erreicht, also den Status, in dem er
       von Fremden spontan als ein „Er“ eingeordnet wird. Luka hat im vertrauten
       Umfeld die Veränderungen an seinem Körper erleben dürfen. Dazu gehört die
       Beziehung mit seinem Freund, der ebenfalls trans ist. „Gerade in Sachen
       Intimität ist es besonders schön, jemanden zu haben, der das einfach
       versteht“, sagt Luka. Luka hat sein Passing rechtzeitig zum Wechsel ins
       universitäre Umfeld und kann künftig selbst entscheiden, wem er sein
       Transsein anvertraut. Das Thema Geschlecht soll endlich hinter alles andere
       in seinem Leben zurücktreten.
       
       ## „Ich werde dann weiter die ganze Zeit wie ein Kind behandelt.“
       
       Laura erwartet ihre Hormonersatztherapie mit Ungeduld. Durch die Blocker
       werde sie äußerlich immer als präpubertär gelesen, sagt sie. „Ich werde
       dann weiter die ganze Zeit wie ein Kind behandelt.“ Laura hat aufgrund
       ihrer frühen sozialen Transition aber gute Chancen. Zudem erhält sie seit
       zwei Jahren Blocker, was der empfohlene Zeitraum ist, weil längeres
       Verabreichen nach gegenwärtigem Forschungsstand die Wahrscheinlichkeit von
       Nebenwirkungen wie Knochenbrüchigkeit relevant erhöht. Ein Warten auf die
       Hormonersatztherapie bis zum 16. Lebensjahr wäre für Laura alleine deswegen
       nicht sinnvoll.
       
       Nach aktuellem Studienstand wird angenommen, dass die Versäumnisse in der
       Entwicklung der Knochendichte durch Blocker nach einigen Jahren
       Hormonersatztherapie weitgehend aufgeholt werden. Die Hormonersatztherapie
       wiederum wird, neben den typischen Nebenwirkungen jeder Pubertät (etwa
       Akne), mit einem hohen Risiko für Thromboembolie (trans Frauen) und
       Erythrozytose (trans Männer) in Verbindung gebracht, seltener mit einem
       Risiko für kononare Herzkrankheiten und – im Fall der Testosterontherapie –
       mit Leberfunktionsstörung. Medizinisch müssen diese Risiken gegen die
       Gefahren einer unbehandelten Gender-Dysphorie abgewogen werden.
       
       Die Gerlachs sprechen offen über die Konsequenzen von Lauras Wünschen, auch
       die irreversiblen und die möglichen negativen. Zuletzt hat sich Laura viel
       über das Thema [3][Kinderkriegen] informiert. Wie viel von der
       körpereigenen Pubertät müsste sie zulassen, um zeugungsfähige Spermien
       bilden zu können? „Ich verstehe, dass viele sich das nicht vorstellen
       können“, sagt Anke Gerlach. „Dass eine Zwölfjährige derart informiert
       solche Entscheidungen treffen kann.“ Norbert Gerlach sieht eine wichtige
       Kontrollfunktion im Austausch zwischen den Jugendlichen. Bei den
       gelegentlichen Treffen mit anderen Familien von trans Kindern höre er mit
       Erstaunen, wie die Kinder miteinander fachsimpelten. „Die sind so weit, die
       hängen uns ab“, sagt er.
       
       Eltern wie die Gerlachs müssen in aller Regel jahrelang kämpfen. Gegen
       Erzieher*innen und Lehrer*innen, die auf falsche Pronomen bestehen oder
       ein bestimmtes geschlechtliches Verhalten einfordern. Für die richtigen
       Toiletten und Umkleiden. Für eine zweite Version des Zeugnisses, mit dem
       richtigen Namen. Das System basiert gegenwärtig auf einer „Alltagsprüfung“.
       Kinder und Eltern sollen zeigen, dass der Wunsch zur Transition groß genug
       ist, um diesem Druck standzuhalten. Aber unter dem Druck zu zerbrechen kann
       andere Gründe haben. Bildungshintergrund und soziale Situation der Familie
       etwa. Oder Finanzen.
       
       Hormonbehandlungen übernimmt zwar die gesetzliche Krankenkasse, wenn eine
       Psychotherapeut*in die Notwendigkeit bescheinigt. Für operative
       Eingriffe ist es schon komplizierter. Hier müssen zwei unabhängige
       medizinische Gutachten bestätigen, dass der operative Eingriff eine
       „medizinisch notwendige Maßnahme“ ist. Sonst kann er bis zu 15.000 Euro
       kosten. In jedem Fall sind für die Gutachten, die für die amtliche Namens-
       und Personenstandsänderung notwendig sind, mehrere hundert Euro zu zahlen.
       
       Manchmal geraten auch die Eltern über die Frage, wie mit der Transidentität
       des Kindes umzugehen ist, [4][in einen unversöhnlichen Konflikt]. Und im
       folgenden Sorgerechtsstreit gerät das Kind zwischen die Fronten.
       
       ## Es geht selten um das „Wie“
       
       „Trans Personen werden ständig mit dem ‚Ob‘ konfrontiert“, sagt Therapeutin
       Mari Günter. „Ob sie trans sind, und zwar wirklich und wahrhaftig. Sie
       haben kaum Zeit und Räume, über das ‚Wie‘ nachzudenken. Wie sie sich
       verändern wollen – und wie nicht. Sie müssen Entschlossenheit performen, wo
       sie eigentlich zweifeln und experimentieren müssten.“ Mari Günter glaubt,
       dass immer noch viele trans Personen das Gefühl haben, eine „komplette“
       Transition machen zu müssen, um zu beweisen, dass sie es ernst meinen. Mit
       dem Druck zu einem „Entweder ganz oder gar nicht“ könne man zum Teil auch
       Detrans-Biografien erklären, sagt Mari Günter. „Dass unter diesen
       Voraussetzungen nicht viel mehr Irrtümer passieren, ist ein Wunder.“
       
       Anke Gerlach würde Eltern, deren Kind sich in Sachen Geschlecht als suchend
       herausstellt, raten: „Dem Kind zu sagen, dass nur es selbst wissen kann,
       was sein Geschlecht ist. Nachzufragen: Was stört dich? Handlungsoptionen zu
       eröffnen. Angebote zu machen, anstatt dieses oder jenes zu forcieren. Nicht
       zu fragen: Bist du Mädchen oder Junge? Nicht zu sagen: Dann musst du aber
       auch den ganzen Weg gehen! Keine Bedingungen zu stellen.“
       
       Luka Berg findet es rückblickend gut, dass er Zeit hatte, herauszufinden,
       was er will. Auch Therapie zu bekommen befürwortet er als Voraussetzung für
       medizinische Behandlung. „Aber jahrelang ständig immer wieder wildfremden
       Leuten meine Lebensgeschichte erzählen zu müssen, war hart“, sagt er.
       
       Therapeut*innen und Ärzt*innen sind längst nicht die einzigen
       Gatekeeper im Leben einer jungen trans Person. Erzieher*innen gehören
       dazu, Familienberatungen, Lehrkräfte, Schulbuchverlage, Schulleitungen,
       Richter*innen am Amtsgericht, die über den neuen Geschlechtseintrag
       entscheiden. Wortführer*innen in der Schulklasse oder in der
       Nachbarschaft, die Stimmungen zugunsten oder zuungunsten eines trans Kindes
       kippen können. Und schließlich die Eltern selbst, die, wie Marie Berg,
       Erwartungen hatten. An dieses Kind und sein vermeintliches biologisches
       Geschlecht. Erwartungen, von denen sich zu lösen manchmal nur über einen
       Trauerprozess möglich ist.
       
       Die Namen aller Familienmitglieder wurden zu deren Schutz geändert.
       
       26 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Trans-Rechte-und-Gesetzentwurf/!5750869
 (DIR) [2] https://jungle.world/artikel/2020/46/debatte-ueber-selbstbestimmung
 (DIR) [3] /Trans-Vater-ueber-seine-Schwangerschaft/!5777440
 (DIR) [4] /Streit-um-elfjaehrige-Transsexuelle/!5097684
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Weissenburger
       
       ## TAGS
       
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