# taz.de -- Übersetzung eines Popdiskurs-Klassikers: Gepard beim Gehirnklempner
       
       > „The Sex Revolts“ ist eine bahnbrechende freudianische Studie über Pop.
       > Das Buch wurde endlich übersetzt und wird nun auf einer Lesetour
       > vorgestellt.
       
 (IMG) Bild: Auf Napalm: Iggy Pop in New York, 1977
       
       Pop hat sich im deutschsprachigen Raum bisher nicht auf die Couch gelegt
       und in die Obhut von Therapeuten begeben. Doch das Nachdenken über seine
       Geschichte(n) und Gegenwart, das Abgleichen mit verwandten Genres wie
       Literatur, Film und bildender Kunst, das kann so fruchtbar sein.
       
       Beleg dafür ist ein Buch, das Pop freudianisch liest, in dem die Rollen von
       Gender anhand von Songtexten, Musikerbiografien und Sounds durchgespielt
       werden, inklusive aller misogyner Auswüchse, gesellschaftspolitischer und
       zeitgeschichtlicher Einordnungen: „The Sex Revolts. Gender, Rebellion and
       Rock ’n’ Roll“ von Joy Press und [1][Simon Reynolds]. Im Original 1995
       veröffentlicht, wurde das Buch im angloamerikanischen Raum zum Klassiker,
       2018 kam er mit neuem Vorwort und Zusatzkapitel in erweiterter Fassung
       erneut heraus. Nun ist das Werk endlich ins Deutsche übersetzt und
       erscheint demnächst beim kleinen Mainzer Ventil Verlag.
       
       „Rebellen gibt es in allen Schattierungen“, beginnt „The Sex Revolts“ und
       arbeitet differenziert deren Unterschiede heraus: Als US-Rock-’n’-Roller Bo
       Diddley 1955 [2][„I’m a Man“] deklamierte, hatte seine triumphale Geste
       auch eine rassistische Dimension, schreibt das britisch-amerikanische
       Autorenpaar, denn Diddley affirmierte mit dem Song seine Männlichkeit zu
       einer Zeit, als Schwarze von Weißen gemäß White-Supremacy-Diktion noch als
       „boy“ diffamiert wurden.
       
       Britische Bands wie die [3][Rolling Stones] übernahmen in den frühen
       Sechzigern diese Haltung, bei ihnen gerann Diddleys Stolz zu weißer
       Arroganz. In Stones-Songs wie „Under my Thumb“ und „Tumbling Dice“ paart
       sich dominante Männlichkeit mit der Ablehnung von Monogamie. In Mick
       Jaggers Eintreten für freie Sexualität kommt eine frauenfeindliche Haltung
       zum Ausdruck.
       
       Auch bei der erneuten Lektüre besticht „The Sex Revolts“ durch den ruhigen
       Ton, immer wieder wird quergelesen zur Literatur, gibt es Vergleiche
       zwischen Popsongs und Werken von Beatpoeten, werden ästhetische, ethische
       und feministische Ebenen in die Musik eingezogen. Press/Reynolds vergessen
       außerdem nie die Fanperspektive, die Moralkeule lassen sie hingegen im
       Schrank. Im Gegenteil, anschaulich legen sie dar, wie Frauen noch der
       Beschränktheit der übelsten Machohymnen von Guns N’ Roses etwas Subversives
       abgewinnen können.
       
       ## Angst vor Momism
       
       Den Ursprung der sexualisierten Rock-’n’-Roll-Rebellion situieren die
       beiden Autoren weit früher, im Nachkriegsamerika, das von „Momism“ erfasst
       war, der Furcht vor starken Mutterfiguren, die als Kriegswitwen oder in
       vaterlosen Familien das Sagen hatten. Mütter prägten die in den Jahrgängen
       nach 1945 geborene Babyboomergeneration demnach mindestens so stark wie
       die (abwesenden) Väter. Momism ging einher mit der Furcht vor dem
       Kommunismus und der Furcht vor einer Demokratisierung von Kultur.
       
       Auch wenn es im „postdemokratischen“ Zeitalter heute gern unter den Tisch
       fällt, Pop hatte bei der Demokratisierung der westlichen Welt in den
       fünfziger und sechziger Jahren einen nicht eben geringen Anteil: Seine
       kinetische Energie floss in die Körper der Musiker ein, die
       Elektrifizierung der Instrumente verlieh ihren Bewegungen Sexappeal, diese
       Stromstöße brachten auch den Zuschauerraum zum Vibrieren.
       
       Zu Rock ’n’ Roll wurde ungezügelt und über segregierte Grenzen hinweg
       getanzt, in einer Zeit, als noch das ungeschriebene Gesetz „kein Sex vor
       der Ehe“ galt. Eine Absage sowohl an das, was im gesellschaftlichen
       Mainstream als schicklich galt, aber auch an den soldatischen Gehorsam des
       Faschismus und anderer Kontrollregime.
       
       Geschlechter begehren auf? Die große Sex-Revolte? Allein der
       Interpretationsspielraum für den Buchtitel „The Sex Revolts“ liefert Stoff
       für Diskussionen. Press und Reynolds haben Pop und viele seiner größten
       Ikonen in den frühen Neunzigern auf die Couch gelegt, zu einer Phase, in
       der Gender-Diskurse in den angloamerikanischen Universitäten gerade
       aufkamen und der Streit darüber entfachte, ob das biologische Geschlecht
       sozial konstruiert sei oder ob ihm etwas Essentialistisches zugrunde liege.
       Es gab schon damals erbitterte Gefechte in Hörsälen und Lesegruppen. Press
       und Reynolds kommt das Verdienst zu, feministische Fachdebatten aus der
       akademischen Welt in den Kontext von Pop überführt zu haben, Feminismus so
       darzustellen, dass Musikinteressierte weiterlesen und sich Experten nicht
       gelangweilt abwenden.
       
       ## Bizarre Babyboomer
       
       Iggy Pop ist ein Popstar der Babyboomergeneration, dessen bizarre
       Aussagen, Texte und Einstellungen in „The Sex Revolts“ ausführlich
       analysiert werden. Schon im Originalvorwort legen die Autoren aber dar,
       dass sie ihrem Untersuchungsobjekt damit nicht den Prozess machen: Die
       Songs mögen sie – trotz aller dunkler Stellen. „Rebelmisogynies“, das
       erste Kapitel, untersucht vor allem die Körper männlicher Rockstars des
       Goldenen Zeitalters der Sechziger und Siebziger. Dieser Passage stellen sie
       einen Aphorismus aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ voran: „Unter
       friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.“
       „I’m a street-walking cheetah with a heart full of napalm“ singt Iggy Pop
       in seinem zu Zeiten des Vietnamkriegs entstandenen Schlüsselsong
       [4][„Search & Destroy“] (1972).
       
       Man muss ihn sich dazu barhäuptig vorstellen, der Oberkörper versehrt durch
       Stagediving-Sprünge und vernarbt von Scherben, in denen er sich auf der
       Bühne gewälzt hat, voll auf Drogen. „Iggys Libido ist erfüllt von
       Militarismus“, erklärt Simon Reynolds. „Er singt wie eine rasende
       Killermaschine, deren Herz nicht von Liebe, sondern von Napalm erfüllt ist.
       Es gab dieses schreckliche Foto eines mit Napalm brennenden vietnamesischen
       Mädchens auf einer Landstraße, das kommt mir bei seinem Song in den Sinn.
       Durch die selbstverherrlichenden und destruktiven Lyrics bekundet Iggy
       Willen zur Macht. Die Power von ‚Search & Destroy‘ ist unbestritten, man
       muss sie in Zusammenhang mit den düsteren Fliehkräften sehen, die daran
       zerren.“
       
       Von heute aus weitsichtig ist die Idee von Pres und Reynolds, die teils
       gewalttätige Inszenierung von Rockmusiker-Körpern mit Klaus Theweleits
       „Männerfantasien“ zu verkoppeln. In dieser Studie untersuchte der
       Freiburger Philosoph die Kultur und Selbstlegitimation von Freikorps, jener
       paramilitärischen Kampfverbände, die 1918/19 die Räterepublik mit brutaler
       Gewalt niederschlugen und bald darauf in den Parteiorganisationen der Nazis
       aufgingen.
       
       ## Körperpolitik der Neuen Rechten
       
       Im Männlichkeitsbild von Punk erkannten Press/Reynolds Übereinstimmungen zu
       früheren Jahrzehnten: „Wir glauben, dass die rauschhafte Erregung, die von
       jenen Rocksängern ausgeht, untrennbar verbunden ist mit der fehlgeleiteten
       Genderpolitik“, erklären sie. Heute fände sich diese Körperpolitik auf der
       politischen Bühne des Rechtspopulismus, schreiben sie im Vorwort zur neuen
       Auflage. „Es gibt einen Kult um autoritäre Führerfiguren, die explizit
       antifeministisch argumentieren und ständig den Wunsch nach einer Rückkehr
       zu traditionellen Werten äußern, klare Hierarchien einfordern und die
       Wiederherstellung alter Geschlechterrollen.“
       
       Manches, was Press und Reynolds 1995 in „The Sex Revolts“ postuliert haben,
       klingt 2019 im Lichte von #MeToo noch dringlicher: Die seltsame Häufung
       toter Frauen in den Songs von [5][Nick Cave] etwa. Die Idee für das Buch
       entsprang einem Abendessen mit einem Noiserocker in New York, der einen
       geschmacklosen Witz über Kindesmissbrauch gemacht hat.
       
       Ja, die Neunziger waren eine Phase, in der gerade in der Subkultur ein
       sorgloser Umgang mit Pornografie und Gewaltdarstellungen gepflegt wurde.
       „Damals bestand gesteigertes Interesse an Abject-Art, an der dunklen Seite
       der menschlichen Psyche“, erzählt Simon Reynolds der taz. „In Fanzines, auf
       Albumcovern, auch bei Konzerten brach sich diese zynische Weltsicht Bahn,
       die Hemmschwelle für Gewaltdarstellungen wurde immer weiter herabgesetzt.
       Man konnte sensible Geister und bourgeoise Liberale mit Horrorbildern
       anstacheln.“ Psychologisch sei das nicht so weit entfernt von dem Zwang der
       neuen Rechten, politische Korrektheit zum Feindbild zu erklären.
       
       „The Sex Revolts“ legt nicht nur den Finger in die Wunden. Es hat auch
       Kapitel über die weibliche Seite von Ambientmusik, über Selbstermächtigung
       von Musikerinnen der Punkszene und es porträtiert die
       Inszenierungsstrategien der Riot Grrrls, die 1995 gerade erst anfingen. Es
       ist ein packend geschildertes und kurzweilig zu lesendes Buch über Pop.
       
       7 Nov 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Simon-Reynolds-ueber-Glamrock/!5367019
 (DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=SaC5ZKRjLUM
 (DIR) [3] https://www.youtube.com/watch?v=ndYnLWpxhvY
 (DIR) [4] https://www.youtube.com/watch?v=A2yHqJCkpLU
 (DIR) [5] https://www.youtube.com/watch?v=Ahr4KFl79WI
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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