# taz.de -- Verfahren gegen Attentäter eingestellt: Behörden ließen den Mob gewähren
       
       > Beim Pogrom von Sivas 1993 starben 37 Menschen. Dass die türkische Justiz
       > das Verfahren dazu einstellt, ist für die Angehörigen schwer zu
       > verstehen.
       
 (IMG) Bild: Türkische Aktivisten und Oppositionelle erinnern an das Attentat, hier bei einer Demo im Jahr 2018
       
       Es sind Szenen, die viele Leute in ihrem gesamten Leben nie vergessen
       werden. Ein wütender Mob von mehreren Tausend Menschen drängt schreiend und
       mit erhobenen Fäusten auf ein relativ unscheinbares Haus vor.
       
       Dann fliegen Steine und Molotowcocktails. Fensterscheiben gehen zu Bruch,
       ein Angreifer schwingt sich von den Schultern seiner Kumpane durch eines
       der zerbrochenen Fenster und platziert unter dem Beifall des Mobs mehrere
       Brandsätze im Innern des Gebäudes. In Sekunden steht das gesamte Haus in
       Flammen. Die Folgen sind dramatisch. [1][37 Menschen werden getötet, über
       50 schwer verletzt].
       
       Das Haus war ein Hotel, in dem die Gäste eines Kulturfestivals
       untergebracht waren, das vor 30 Jahren, Anfang Juli 1993, in der
       zentralanatolischen Provinzhauptstadt Sivas stattfand. Wie jedes Jahr bis
       dahin feierte die alevitische Gemeinde der Türkei ihr „Pir Sultan Abdal
       Kulturfestival“, um des Dichters und alevitischen Freiheitshelden Pir
       Sultan Abdal zu gedenken, der im 15. Jahrhundert in einem Dorf bei Sivas
       gelebt hatte.
       
       Eingeladen waren Literaten, Poeten und Musiker. Zu den Gästen gehörte auch
       der Schriftsteller Aziz Nesin, ein streitbarer Mann für die Freiheit des
       Wortes, der kurz zuvor eine türkische Übersetzung der „Satanischen Verse“
       von [2][Salman Rushdie] herausgegeben hatte.
       
       ## Islamische Hetze
       
       In den Tagen vor dem Pogrom hatte die islamische und nationalistische
       Presse bereits gegen das Festival und insbesondere die Teilnahme von Aziz
       Nesin gehetzt. Doch der Angriff auf die Festivalteilnehmer galt nicht nur
       Aziz Nesin.
       
       Für sunnitische Islamisten sind die Mitglieder der alevitischen
       Religionsgemeinschaft schlimme Häretiker und viele Nationalisten hassen die
       Aleviten, die sie als linke Verräter an der Türkei denunzieren. Zwar konnte
       der mittlerweile verstorbene Aziz Nesin damals leicht verletzt aus dem
       Inferno im Madimak Hotel entkommen, dennoch war der Schock wegen der vielen
       Opfer groß.
       
       Vor wenigen Tagen hat nun die türkische Justiz nach 30 Jahren einen
       Schlussstrich unter die juristische Aufarbeitung des Pogroms gezogen. Gegen
       [3][die letzten Angeklagten, die seit Jahren unbehelligt in Deutschland
       leben], wurde das Verfahren wegen Verjährung eingestellt. Im Gerichtssaal
       und draußen vor dem Gericht konnten die BesucherInnen des Prozesses im
       Schwurgericht in Ankara es zunächst kaum glauben.
       
       Die Anwälte der Angehörigen der Ermordeten hatten immer wieder darauf
       gepocht, dass ein solches Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht
       verjähren darf, doch der Staatsanwalt sah es anders. Er beantragte die
       Einstellung des Verfahrens und das Gericht folgte ihm. Auch ein spontaner
       Sitzstreik im Gerichtssaal nutzte da nichts mehr. Der Richter ließ den Saal
       durch die Polizei räumen.
       
       ## Aleviten fühlen sich schutzlos
       
       Das Pogrom von Sivas hat tiefe Spuren bei vielen der rund 20 Millionen
       Aleviten in der Türkei hinterlassen. Vor allem das Verhalten der Behörden,
       angefangen bei Polizei und Feuerwehr, die den Mob damals stundenlang
       gewähren ließen, bis zu den Gerichten, die am Ende nach Auffassung der
       Aleviten nicht für Gerechtigkeit sorgten, bestätigte die alevitischen
       Gemeinden in ihren Befürchtungen, vom Staat nicht nur nicht geschützt zu
       werden, sondern geradezu mit staatlicher Komplizenschaft verfolgt zu
       werden.
       
       Denn das Pogrom von Sivas, bei dem 33 Gäste des Kulturfestivals starben und
       zwei Hotelangestellte und zwei Angreifer ebenfalls den Tod fanden, war kein
       Einzelfall, sondern steht in einer langen Reihe von Angriffen auf die
       alevitische Minderheit seit den frühen Tagen des Osmanischen Reiches.
       
       Damals, während der Kämpfe mit den Persern, wurden sie als 5. Kolonne der
       Schiiten angesehen und verfolgt, später als Abweichler von der Linie des
       sunnitischen Islam angegriffen und weil viele Aleviten sich deswegen
       mehrheitlich säkularen, linken Parteien anschlossen, von den Rechten als
       Verräter beschimpft.
       
       Das führte dazu, dass politische Hinterleute erst gar nicht belangt wurden,
       aber auch das jahrelange juristische Tauziehen um die dann tatsächlich
       Angeklagten hat viele Aleviten frustriert. Von den Tausenden Angreifern
       wurden insgesamt 124 Personen angeklagt und in erster Instanz 87 davon zu
       Haftstrafen zwischen zwei und 15 Jahren verurteilt. Alle Fälle gingen in
       Berufung, erst mal musste kaum jemand ins Gefängnis. Etliche Angeklagte
       flüchteten ins Ausland, die meisten davon nach Deutschland.
       
       ## Angeklagte hielten sich in Deutschland auf
       
       Recherchen türkischer Medien ergaben, dass sich zeitweilig mindestens 27
       Angeklagte aus dem Sivas-Prozess in Deutschland aufhielten. Es folgte ein
       jahrelanges Gerangel um die Auslieferung der Angeklagten. Deutsche Behörden
       machten geltend, dass bis 1998 bei den oberen Gerichten in schweren
       Strafsachen noch ein Militär den Vorsitz führte und außerdem die
       Todesstrafe noch nicht formal abgeschafft war.
       
       Doch auch eine Justizreform und die Abschaffung der Todesstrafe im Jahr
       2000 brachte die Auslieferungsverfahren kaum weiter. Mittlerweile hatten
       mindestens sieben der Sivas-Angeklagten Asyl beantragt, vier von ihnen auch
       Asyl erhalten. Lediglich einen der Haupttäter, Hayrettin Gül, der als
       Brandstifter identifiziert werden konnte, lieferte Deutschland zu Beginn
       der Nullerjahre aus. Er wurde zu lebenslanger, erschwerter Haft verurteilt.
       
       Bei allen anderen kam die türkische Justiz nicht weiter, auch weil die
       jeweiligen Regierungen, vor allem nach dem Amtsantritt der ersten
       Erdoğan-Regierung 2003, bei den Verfahren kaum Druck machten. Immer wieder
       tauchten in den türkischen Zeitungen Meldungen auf, dass gesuchte
       Sivas-Angeklagte in Deutschland identifiziert worden seien, doch die
       deutschen Behörden taten nichts, und so verliefen sich die Spuren wieder.
       Oft tauchten die Sivas-Angeklagten im Milieu der Milli-Görüs Moscheen in
       Deutschland unter.
       
       Schon 2005 beklagte der damalige Präsident des Alevitischen
       Gewerkschaftsbundes in Deutschland, Turgut Öker, die Tatenlosigkeit der
       Behörden. „Die Angeklagten im Sivas-Prozess werden nicht ausgeliefert, weil
       ihnen angeblich Folter droht, was völlig abwegig ist“, sagte er. „Wie
       können die Täter des Massakers sich frei in Deutschland bewegen?“
       
       ## Informanten in der islamischen Szene?
       
       Vor allem Abgeordnete der Grünen und Linken, meist solche mit türkischem
       Migrationshintergrund, empörten sich darüber, dass mutmaßliche Sivas-Täter
       in Deutschland offenbar Schutz genossen. 2019 kam noch einmal Bewegung in
       die Sache, als der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einer
       Bewertung des Vorgangs feststellte, dass neun in Deutschland lebende
       Personen, die an dem Sivas-Massaker beteiligt gewesen sein sollen, aufgrund
       der Schwere der Anschuldigungen entweder ausgeliefert oder ersatzweise auch
       in Deutschland angeklagt werden könnten.
       
       Als dennoch nichts passierte, sagte der frühere Grünen-Abgeordnete Mehmet
       Kiliç dem türkischen Nachrichtenportal T-24, er vermute, dass die Leute als
       Informanten in der islamistischen Szene eingesetzt werden und sich ihre
       Spuren deshalb immer wieder verlieren.
       
       Zuletzt standen noch drei Angeklagte, die in Deutschland lebten, auf der
       Liste des Ankaraner Gerichts für schwere Straftaten. Im Juli dieses Jahres
       war die Verjährungsfrist von 30 Jahren abgelaufen. Mehrmals hatte das
       Gericht das türkische Außenministerium auf die Verjährungsfrist hingewiesen
       und gebeten, in Deutschland auf die Auslieferung zu drängen. Angeblich, so
       hieß es, seien die Personen nicht aufzufinden. Vor gut einer Woche zog das
       Gericht nun einen Schlussstrich und stellte die Verfahren ein.
       
       Präsident Erdoğan hatte kurz zuvor schon die Richtung vorgegeben. Am 6.
       September begnadigte er den Haupttäter Hayrettin Gül, den einzigen
       Sivas-Angeklagten, den die deutschen Behörden ausgeliefert hatten, wegen
       seines „schlechten Gesundheitszustandes“. Eine Dankesbezeugung gegenüber
       der islamistischen Szene, wie einer der Nebenkläger im Sivas-Prozess,
       Mehmet Karaba vermutet. „Seit 30 Jahren spielen sie das Massaker herunter
       und machen drei, vier oder fünf Schakale dafür verantwortlich. Dabei war es
       ein vom Staat inszeniertes Pogrom.“
       
       25 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
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