# taz.de -- Verkehrswende in Berlin: Autofrei von innen her
       
       > Die Friedrichstraße soll zeigen, wie die autofreie Stadt funktioniert.
       > Mitte mausert sich zum Experimentierfeld der Verkehrswende.
       
 (IMG) Bild: So geht das doch auch: die ziemlich autofreie Friedrichstraße während einer Aktion
       
       Die letzte kleine Revolution ist noch gar nicht so lange her. Im Mai hatte
       die Bezirksverordnetenversammlung Mitte beschlossen, die Linienstraße
       attraktiver für das Fahrrad zu machen. „Auf unsere Initiative hin hat der
       Radverkehr nun Vorfahrt“, sagt Stefan Lehmkühler vom Verein Changing
       Cities. Mit Ausnahme der drei Hauptverkehrsstraßen im Kiez, der Rosenthaler
       Straße, der Alten Schönhauser Straße und der Schönhauser Allee, haben
       Radfahrer dann Vorrang vor den Autos.
       
       Und das ist noch nicht alles, weiß Sabine Weißler, die für den Verkehr in
       den Nebenstraßen von Mitte zuständige grüne Bezirksstadträtin. „Damit die
       Autofahrer die Linienstraße nicht als Ausweichstrecke für die Torstraße
       nutzen, haben wir gegenläufige Einbahnstraßen eingerichtet.“ Auch das war
       eine kleine Revolution. „Als wir vor zweieinhalb Jahren mit der
       Verkehrswende gestartet sind“, sagt Weißler, „waren wir in der Verwaltung
       nicht darauf vorbereitet, im Straßenverkehr die Prioritäten anders zu
       setzen.“
       
       Am Freitag war Klimastreik in Berlin, doch die Autos sind weiterhin da.
       Dabei fordern immer mehr Aktivisten, aber auch Politikerinnen und Politiker
       nach der Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes den nächsten Schritt. Sie
       wollen eine autofreie Stadt, zumindest aber eine deutliche Reduzierung des
       Autoverkehrs. Sabine Weißler weiß um die Erwartungen. Und um die Mühen der
       Ebene. Anfang nächsten Jahres soll rund um den Hauptbahnhof das Parken
       gebührenpflichtig werden. 2022 soll die Parkraumbewirtschaftung auf den
       gesamten Bezirk ausgeweitet sein. „Die Botschaft ist eindeutig“, sagt
       Sabine Weißler. „Parken in der Innenstadt ist keine Selbstverständlichkeit.
       Wer mit dem Auto zum Shoppen fährt, muss zahlen.“
       
       Schon einmal stand Mitte im Fokus der Verkehrswende. Das war noch während
       der Koalitionsverhandlungen von SPD, Linken und Grünen nach der Wahl 2016.
       Entgegen der Gepflogenheiten zur Verschwiegenheit pfiff es der damalige
       Verkehrssenator Andreas Geisel aus dem Verhandlungsraum. Der Boulevard
       Unter den Linden, versprach der SPD-Politiker, soll bis 2019 zu einer
       Fußgängerzone werden.
       
       ## Ein mehrwöchiger Verkehrsversuch
       
       Daraus ist bekanntlich nichts geworden. Nicht einmal eine
       Machbarkeitsstudie hat Geisels Nachfolgerin Regine Günther auf den Weg
       gebracht. Stattdessen rückt nun die von Leerständen gebeutelte
       Friedrichstraße in den Mittelpunkt. Bereits vom 4. bis 6. Oktober und am
       zweiten Advent soll der Abschnitt von Französischer bis Mohrenstraße
       autofrei werden. Im kommenden Jahr soll dann ein mehrwöchiger sogenannter
       Verkehrsversuch stattfinden. „Dann wird die Friedrichstraße von der
       Französischen bis zur Rudi-Dutschke-Straße autofrei“, freut sich Aktivist
       Lehmkühler. Nur auf der Leipziger Straße wird das zwischenzeitliche
       Fußgänger- und Fahrradparadies unterbrochen sein. Dort darf der Autoverkehr
       die Friedrichstraße kreuzen.
       
       Schon im Dezember 2018 hatte die Initiative „Stadt für Menschen“
       ausprobiert, wie sich die Friedrichstraße ohne Autos anfühlt. Während der
       Aktion #flaniermeile spielten Kinder Himmel und Hölle, es gab Musik,
       Diskussionen, die Straße wurde mit Kreide bemalt. „Das sind die Bilder des
       autofreien Berlin, die wir brauchen“, ist Lehmkühler überzeugt.
       
       Im Oktober und Dezember werden neue Bilder hinzukommen, wenn auf Initiative
       von Mittes Bürgermeister Stephan von Dassel (ebenfalls Grüne) eine
       Modenschau stattfinden wird. Doch Lehmkühler will mehr, für ihn ist deshalb
       der Verkehrsversuch der Ausgangspunkt für die Friedrichstraße als „Straße
       der Zukunft“. „Wir erwarten in diesen Wochen im Mai und Juni den Nachweis,
       dass der öffentliche Raum attraktiver wird und dass der Verkehr in der
       Stadt nicht zusammenbricht.“
       
       ## Von innen nach außen
       
       Für Lehmkühler und den Verein Changing Cities, der aus dem
       Fahrradvolksentscheid hervorgegangen ist, ist der Verkehrsversuch auch ein
       „Demonstrationsprojekt“ für eine Ausbreitung der autofreien Stadt: „Wir
       fangen innen an und gehen dann nach außen.“
       
       Dass die Erwartungen gestiegen sind, geht auch auf das Konto der grünen
       Senatorin Regine Günther. Bevor Berlin seine Partnerstädte im vergangenen
       Dezember zu einer großen Mobilitätskonferenz eingeladen hatte, war die
       Verkehrssenatorin in Europa unterwegs, um sich umzuschauen. Nach ihrer
       Rückkehr nach Berlin sagte sie, dass sie sich eine autofreie Innenstadt
       auch in Berlin vorstellen könne. Allerdings schränkte Günther ein: „Aber es
       muss auch funktionieren.“
       
       Wenn man die Verkehrssenatorin an ihren Taten misst, sieht es etwas anders
       aus, auch im Bezirk Mitte. Schon 2015 wurden die Bewohnerinnen und Bewohner
       des Bezirks bei der Erstellung von Bürgerleitlinien beteiligt. Leitlinie 7
       sah dabei vor, die Spandauer Straße zwischen Rotem Rathaus und
       Karl-Liebknecht-Straße autofrei zu machen. „Selbst das Abgeordnetenhaus hat
       das 2016 beschlossen“, erinnert Stefan Lehmkühler. „Passiert ist aber bis
       heute nichts.“ Ende August hat die Initiative Offene Mitte ein
       Protestpicknick am Roten Rathaus organisiert, um an den Parlamentsbeschluss
       zu erinnern.
       
       „Die autofreie Stadt ist eines der ganz großen Themen“, sagt
       Bezirksstadträtin Sabine Weißler. „Aber das macht man nicht von heute auf
       morgen.“ Anders als bei den Hauptverkehrsstraßen wie der Spandauer Straße,
       für die der Senat zuständig ist, arbeitet ihre Verwaltung derzeit an der
       Ausweitung vom Tempo-30-Zonen. „Inzwischen ist Tempo 30 im Nebennetz in
       Mitte quasi die Regel“, sagt Weißler. So gebe es in Moabit zwischen
       Beusselstraße und Rathenower Straße eines der ausgedehntesten
       Tempo-30-Gebiete in Deutschland.
       
       Auch gefährliche Kreuzungen lässt Weißler inzwischen entschärfen. Am
       Helgoländer Ufer Ecke Kirchstraße werden Fahrradbügel an der Kreuzung
       aufgestellt, damit die Kreuzung nicht zugeparkt wird. „Aber Baumaßnahmen im
       Straßenprofil sind aufwendig. Da gibt es bis zu zehn beteiligte Stellen“,
       dämpft die Stadträtin die Erwartungen.
       
       ## Gegenwind hat nachgelassen
       
       Der Gegenwind aus der Bevölkerung gegen diese Maßnahmen, so hat Weißler
       beobachtet, hat nachgelassen. In der Linienstraße habe es wegen der
       gegenläufigen Einbahnstraßen keine Proteste gegeben. „Die Bewohner merken
       langsam, dass der Autoverkehr in der Innenstadt nichts zu suchen hat.“
       
       Inzwischen hat sich Changing Cities nach der Friedrichstraße bereits die
       nächste Hauptverkehrsstraße ausgesucht. „Wir wollen die Leipziger Straße
       ertüchtigen“, sagt Stefan Lehmkühler. So solle die Straßenbahn, die
       zwischen Alexanderplatz und Potsdamer Platz geplant ist, im
       Drei-Minuten-Takt fahren.
       
       Auch eine breite „Protected Bike Lane“ fordert der Verein. „Wir haben
       unsere Planungen bei der Senatsverwaltung eingereicht“, sagt Lehmkühler,
       „wir sind auf offene Ohren gestoßen.“
       
       Allerdings sieht das Mitte 2018 beschlossene [1][Mobilitätsgesetz] auch
       vor, dass es solche Radspuren an allen Hauptverkehrsstraßen geben muss.
       
       Leidtragende der Umbaupläne werden die Autofahrer sein. Statt zwei Spuren
       je Richtung soll es künftig nur eine gehen. „Das Schöne dabei ist, dass uns
       auch die privaten Eigentümer an der Straße unterstützen“, freut sich
       Lehmkühler. „Die profitieren nämlich davon, wenn der Lärm endlich
       verringert wird.“
       
       Dieser Text ist Teil eines Schwerpunkts zu einem autofreien Berlin, den Sie
       im Berlin-Teil der aktuellen Wochenendausgabe der taz lesen können, in
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       21 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.berlin.de/senuvk/verkehr/mobilitaetsgesetz/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uwe Rada
       
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