# taz.de -- Waldbrände in Griechenland: Brandstiftung von rechts
       
       > In der Region Evros an der Grenze zur Türkei machen Einheimische
       > Migranten für das Feuer verantwortlich – und greifen teilweise zur
       > Selbstjustiz.
       
 (IMG) Bild: Sakis Terzidis besucht seinen verbrannten Ziegenstall und füttert seinen Schäferhund, der alleine dort verblieben ist
       
       EVROS taz | Sakis Terzidis, 52, Fünftagebart, drahtig, Tarnhose, Kappe mit
       geradem Schirm, hält seinen alten Traktor nach einer Viertelstunde kräftig
       durchrüttelnder Fahrt auf einer Anhöhe an. Terzidis steigt aus und zeigt
       auf einen verbrannten Acker in der Ebene. Der Acker sei schon beim ersten
       großen Feuer im Südevros verbrannt, erklärt er. Am 19. August, einem
       Samstag, habe die Feuersbrunst im zehn Kilometer entfernten Ort Melia
       begonnen. Angefacht von starken Winden habe sich das Melia-Feuer mit
       rasender Geschwindigkeit nach Westen ausgebreitet. Die Feuerwalze
       hinterließ eine Schneise der Verwüstung.
       
       Plötzlich, [1][am 23. August], sei mitten auf dem Acker ein Auto gestanden.
       „Ich habe es von Weitem gesehen. Was hatte es da zu suchen? Ausgerechnet
       auf einem verbrannten Acker, dazu in der Siesta, um Viertel vor drei“, sagt
       Sakis Terzidis. In unmittelbarer Nähe von dem Acker mit dem geparkten Auto
       darauf, so Terzidis weiter, sei ein neues Feuer ausgebrochen. Dieses lokale
       Feuer habe Kermes-Eichen erfasst, die das große Melia-Feuer verschont
       hatte. Rasch seien zwei Löschflugzeuge abgehoben, ferner ein Hubschrauber.
       Wie schon beim Melia-Feuer hätten sie zwar abermals verhindert, dass das
       Feuer den nahe gelegenen Ort Agnadia erreicht. Was sie nicht retten
       konnten: Sakis Terzidis’ Ziegenstall.
       
       Für ihn ist klar, wie das zweite Feuer, das seine Existenz ruinierte,
       ausbrach. „Das war Brandstiftung“, sagt er lapidar. „In den allermeisten
       Fällen sind das Lathrometanastes. Wer sonst?“ Schon seine Wortwahl ist eine
       Wertung. „Lathrometanastes“ sind Migranten, die „lathrea“, „geschmuggelt“,
       über die nahe Türkei nach Griechenland kommen. So als ob es sich um
       Schmugglerware wie Schnaps oder Zigaretten handelte, nicht um Menschen.
       
       Dass unbedarfte Migranten im Freien ein Feuer zum Kochen oder Aufwärmen
       machen und so fahrlässig einen Brand auslösen, hält er für abwegig. „Die
       haben doch nur Kekse oder so etwas dabei. Kocht man Kekse?“ Dass Migranten
       Brandstifter sind, ist Sakis Terzidis’ Narrativ. Mit dieser Meinung ist er
       nicht allein. Immer mehr Menschen in der Region Evros hetzen gegen
       Migranten und [2][beschuldigen sie der Brandstiftung]. Für die Migranten
       ist die Region nur eine Zwischenstation ihrer Route. Viele wollen weiter
       nach Deutschland. Einheimische halten sie bei ihrer Flucht auf, nehmen sie
       eigenhändig fest und übergeben sie dann an die Polizei. Es ist eine neue
       Eskalationsstufe in der Migrationsfrage.
       
       Terzidis startet wieder seinen Traktor. Nach einer weiteren Viertelstunde
       Fahrt durch eine verbrannte Landschaft ist sein Ziegenstall auf der
       Rückseite des Hügels erreicht. Die Szenerie ist gespenstisch. Zuletzt hatte
       er zwanzig Ziegen, die er alleine versorgte. Ein mühsamer Job. Seine Tiere
       rettete er früh, als der erste große Waldbrand, das Melia-Feuer, in der
       Region tobte. Er brachte das Vieh in den Hof seines Hauses in Agnadia. Als
       er seinen zerstörten Ziegenstall das erste Mal sah, musste er heulen. „Das
       war mein Leben“, seufzt er.
       
       Christos Kapnas, 26, stechender Blick, athletischer Typ, drückt einem so
       kräftig die Hand, dass es fast weh tut. Er diente bei den Gebirgsjägern der
       griechischen Streitkräfte. Kapnas wohnt im 431-Seelen-Ort Doriskos im
       Südevros, nur ein paar Autominuten von der türkischen Grenze entfernt. Im
       Sommer jobbt er in der Gastronomie, ab September ist er arbeitslos. Untätig
       ist er nicht. Christos Kapnas nimmt Migranten fest. Auf offener Straße, auf
       Feldern, in Wäldern, in von Migranten vorübergehend bewohnten Häusern.
       Überall. Gezielt. Konsequent.
       
       Laut Kapnas treten die Lathrometanastes in Gruppen auf. Fünf, zehn oder
       zwanzig Leute. Meist sind das jüngere Männer. Nach dem Übertreten der
       Grenze schmeißen sie ihre Pässe weg. „Ich weiß, wo ihre Routen verlaufen.
       Ich halte sie an, frage sie nach ihren Namen, nach Papieren. Haben sie
       keine Papiere, fordere ich sie mit energischer Stimme dazu auf, stehen zu
       bleiben. Ich trage keine Waffe. Eine klare Ansage reicht, um ihnen Angst
       einzujagen: ‚Ich diskutiere nicht mit euch!‘ Sie fügen sich, fallen auf die
       Knie – und die Sache ist vorbei. Ich rufe die Polizei.“
       
       Nur selten leiste jemand Widerstand, so Kapnas. „Vielleicht versucht einer,
       mit einem ins Gespräch zu kommen, zu verhandeln. Fasst mich jemand an,
       werfe ich ihn sofort auf den Boden und fessele ihn.“ Womit? „Mit den
       Schnürsenkeln seiner Schuhe.“ Die Ordnungshüter kennen ihn. Nach zehn,
       fünfzehn Minuten komme die Polizei und nehme die Migranten mit, sagt
       Kapnas. Ob sie sie auf die Polizeiwache brächten oder in die Türkei
       zurückdrängen würden, wisse er nicht.“ Wie oft er Migranten festgenommen
       habe? “In den letzten drei, vier Jahren etwa fünfhundert Mal“.
       
       Flüchtlinge aus Kriegsgebieten würde er akzeptieren, fügt er hinzu, aber
       „nicht aus Ländern, in denen kein Krieg herrscht“. Er findet, dass
       Menschen, die illegal über die Grenze kommen, sich der Polizei stellen
       sollen. Andere Leute in seinem Dorf seien ebenfalls „selbsternannte
       Sheriffs“, so Kapnas. Sie seien in seinem Alter, es gebe jüngere und viel
       ältere. „Diejenigen, die das nicht gut finden, beschimpfen uns als
       Faschisten oder Rassisten. Ich kann dazu nur sagen: Ich bin lieber ein
       Faschist als ein Idiot.“
       
       Blöd findet die Polizei Kapnas und Co offenkundig nicht. Gemeinsam würden
       sie im Evros patrouillieren – auf der Suche nach Migranten. „Die Polizei
       vertraut uns“, sagt Kapnas. Von den Politikern fühlt er sich im Stich
       gelassen. Der Spartaner Leonidas habe mit nur 300 Soldaten die
       übermächtigen Perser bekämpft, hebt er hervor. „Was tun heute die 300
       Abgeordneten in Athen?“, frage er sich. Er gibt die Antwort. „Sie ist nicht
       druckfähig.“
       
       Kapnas hat rote Linien. Verwerflich sei, was ein anderer „selbsternannter
       Sheriff“ am 22. August, auf dem Höhepunkt des Feuers im Südevros im Ort Nea
       Chili tat. In einem Video im Internet sagt ein griechisch sprechender Mann,
       er habe Migranten „eingesammelt“. „Ich habe ‚25 Stück‘ geladen“, gemeint
       sind Migranten, wobei er auf einen Autoanhänger zeigt. „Sie werden uns
       verbrennen. Sie werden uns verbrennen!“, ätzt er und öffnet die Tür. Im
       Innenraum sind einige Migranten zu sehen.
       
       „Der ganze Berg ist voll von ihnen“, poltert er hernach, um zu einem Pogrom
       aufzurufen. „Organisiert euch, um sie zusammenzutreiben!“, ruft er in
       seiner Tirade. Derweil ist bekannt, dass der Fahrzeugbesitzer, ein Albaner,
       seit mehr als dreißig Jahren im Evros lebt. Auf dem Video zieht er einen
       Anhänger, in dem 13 illegale Einwanderer syrischer und pakistanischer
       Herkunft festgehalten werden. Zwei Griechen haben ihm mutmaßlich geholfen.
       „Alle Migranten sind Brandstifter!“ Das ist das Narrativ des
       Entführer-Trios.
       
       Kapnas verurteilt ihr Vorgehen. „Migranten sind auch nur Menschen. Sie sind
       kein Müll, den man in einen Anhänger steckt.“ Sein Motto bleibe: „Ruf die
       Polizei an! Dreh kein Video!“ Sind die Migranten Brandstifter?“ „Das ist
       ein schwerer Vorwurf“, räumt Kapnas ein. Dass es im Evros so viele
       Brandherde gegeben habe, könne aber kein Zufall sein. Vorsätzlich einen
       Brand zu legen, könne nur in Absprache geschehen, unterstreicht er. Selbst
       wenn dies nur wenige Migranten betreffe: „Einen Schatten wirft das auf
       alle.“ Das ist Christos Kapnas’ Narrativ.
       
       [3][Die Region Evros] in Griechenlands äußerstem Nordosten ist nach dem
       gleichnamigen Fluss benannt (Türkisch: Meric) und bildet in
       Nord-Süd-Richtung in weiten Abschnitten die gut 200 Kilometer lange
       Festlandgrenze zur Türkei. Ab dem 19. August brannte die Region Evros.
       Zuerst wütete das Melia-Feuer im Südevros. Dass das Feuer in Melia nach
       einem Blitzeinschlag ausbrach, gilt als gesichert, wie offizielle Quellen
       bestätigen.
       
       Ab dem 21. August brach im [4][Dadia-Nationalpark] in Zentralevros ein
       weiteres Großfeuer aus. War auch hier ein Blitzeinschlag die Brandursache?
       Oder Brandstiftung? Die Ermittlungen laufen, Ergebnisse gibt es bisher
       keine. Es ist eine schwierige Suche, wie ein Feuer seinen Anfang nimmt.
       Vermutungen, Spekulationen, Vorwürfen und Bezichtigungen sind Tür und Tor
       geöffnet.
       
       Beide Großfeuer im Evros vereinten sich zu einem Megafeuer. In knapp drei
       Wochen fielen im Evros über 93.500 Hektar Land den Feuern zum Opfer. Das
       entspricht einer Fläche größer als die von Berlin. Das Evros-Feuer ist der
       größte Waldbrand in der EU seit Beginn der Aufzeichnungen. Der ökologische
       und ökonomische Schaden in der dünnbesiedelten, strukturschwachen Region
       Evros ist enorm. Demografisch und wirtschaftlich war der Evros schon vor
       dem Feuer ausgeblutet, nun liegen weite Teile in Schutt und Asche.
       
       Unstrittig ist, dass der Evros schon lange eine Migrantenroute darstellt.
       Die Migranten wollen hier nur eines: weiter. Ihr Ziel: vor allem
       Deutschland. Die Regierung in Athen unter dem konservativen Premier
       Kyriakos Mitsotakis brüstet sich damit, eine restriktive Flüchtlings- und
       Migrationspolitik zu verfolgen. Griechenland soll eine Festung sein. Laut
       dem Athener Migrationsministerium wurden in den ersten sieben Monaten
       dieses Jahres 11.672 illegale Neuankömmlinge registriert, die über die
       Festland- und Seegrenze nach Griechenland kamen, etwa ein Fünftel in die
       Region Evros. Dass es wirklich so wenige sind, glaubt im Evros keiner.
       
       So einer ist Georgios Chatzigeorgiou. Besonders sauer sei er auf die
       skrupellosen Schlepper. Er habe es nicht mehr gewagt, die einzige Autobahn
       im Evros zu benutzen. Schlepper würden in gestohlenen, mit Migranten
       vollbesetzten Autos nicht nur mit Karacho durch die Orte im Evros, sondern
       auch als Geisterfahrer auf der Fernstraße in Richtung Thessaloniki rasen,
       um der sie jagenden Polizei zu entkommen. Zwei tödliche Unfälle hätten sich
       zuletzt ereignet, klagt er. „Das Migrantenproblem hat schlimme
       Auswirkungen auf unser Leben“, sagt Chatzigeorgiou. Nach heftigen Protesten
       der Einwohner kontrolliert die Polizei die Ein- und Ausfahrten der
       Autobahn. Chatzigeorgiou begrüßt das.
       
       Der 48-Jährige ist Ortsvorsteher im 486-Seelen-Ort Avantas im Südevros. In
       einem schicken Lokal am Hauptplatz nimmt er einen Schluck vom servierten
       Erfrischungsgetränk. Das Feuer, das aus Melia kam, habe 80 Prozent der
       Waldfläche von Avantas vernichtet. Dabei hatte Chatzigeorgiou Avantas als
       Wanderparadies etabliert. Das sei nun vorbei. „Da, wo alles grün war, ist
       nur noch Asche.“ Das Feuer in Melia sei „sicher auf einen Blitzeinschlag“
       zurückzuführen, sagt er. Mit Blick auf die Ursache des anderen Großfeuers
       im Dadia-Nationalpark, das weiter nördlich wütete, sei „nichts
       auszuschließen“, ebenso nicht ein „feindlicher Akt“ der Türkei. Das ist
       Georgios Chatzigeorgious Narrativ.
       
       Ortswechsel in den zentralen Evros, wo das Großfeuer im Dadia-Nationalpark
       ausbrach. Jannis Dermentzoglou, 68, von Beruf Gerichtsvollzieher,
       Mitgründer der nationalkonservativen Parlamentspartei Griechische Lösung
       (Elliniki Lysi/EL) bittet zum Gespräch in sein Wahlkreisbüro im Herzen der
       Gemeinde Soufli, einen Steinwurf von der Grenze zur Türkei entfernt. „Das
       war früher die Bäckerei meines Großvaters. Sehen Sie, das ist der Ofen“,
       sagt er sichtlich stolz.
       
       Das Ambiente lässt keinerlei Fragen offen. Überall hängen Plakate seiner
       Partei, auf denen das Konterfei des Parteichefs und Sprüche wie „Hellas
       zuerst! Die Griechen zuerst! Machen wir Griechenland wieder griechisch!“
       prangen. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Buch mit dem Titel
       „Migranteninvasion und griechische Krise“.
       
       Nirgendwo sonst holt die Griechische Lösung so viele Stimmen wie im Evros,
       einer traditionell konservativen Region. Bei den jüngsten Parlamentswahlen
       Ende Juni holte sie hier 8,83 Prozent der Stimmen, ein doppelt so hoher
       Stimmenanteil wie im Rest des Landes. Nationalistische Positionen gedeihen
       in der Grenzregion, der Nährboden dafür ist fruchtbar. Wie das Athener
       Forschungsinstitut Eteron in einer jüngsten Studie ermittelte, gaben 6,1
       Prozent der Griechen an, eine „nationalistische Gesinnung“ zu haben. Bei
       den EL-Wählern schnellt der Wert auf 24,2 Prozent in die Höhe. Ideologisch
       verankert im Nationalismus sehen sich 3,6 Prozent der Wähler [5][der
       konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia.]
       
       Dermentzoglou lästert nicht nur über die [6][Syriza-Regierung], die das
       Zepter in Athen von 2015 bis Juli 2019 in der Hand hielt. „Mitsotakis ist
       viel schlimmer“, schimpft er. Plötzlich blickt er wie ein Bluthund: „Tag
       für Tag kommen 500 bis 1.000 Migranten über den Fluss Evros. Sie gehen in
       die Berge.“ Der stramme Rechte enthüllt: „In meinem Keller habe ich dreißig
       weggeworfene Pässe.“ Für ihn ist klar: „Die Schmuggelmigranten legen die
       Feuer!“ Warum sie das tun? „Dahinter steckt Erdoğan in Rücksprache mit
       Mitsotakis! Damit der Evros keine Wälder mehr hat und die Türkei einfacher
       einfallen kann.“ Das ist Jannis Dermentzoglous Narrativ.
       
       [7][Apropos Türkei]: Ilias Vintsis, 46, Ortsvorsteher des 409 Einwohner
       zählenden Orts Dadia, mitten im gleichnamigen Nationalpark, sieht es als
       „wahrscheinlich“ an, dass hinter dem jüngsten Feuer im Nationalpark die
       Türkei stecke. Ankara wolle die griechischen Militäranlagen im Evros, wo
       sich Griechen und Türken bis auf die Zähne bewaffnet gegenüberstehen, „ohne
       Wald besser beobachten können“, ist er überzeugt. Das Feuer in Dadia gehe
       auf „vorsätzliche Brandstiftung“ zurück, ist er sich sicher.
       Blitzeinschläge? Fehlanzeige. Die Migrantenströme im Wald seien „ein sehr
       großes Problem“.
       
       Höchstpersönlich sei er im Wald während des Feuers auf Migrantengruppen von
       zehn oder mehr Leuten gestoßen, obgleich im Nationalpark der Zutritt für
       jeden schon bei hoher oder akuter Brandgefahr streng verboten ist. „Was
       haben die Migranten im Wald zu suchen?“, fragt Vintsis rhetorisch. Seine
       prompte Antwort: „Unter ihnen sind Dschihadisten.“ Sie führen Böses im
       Schilde. Das ist Ilias Vintsis’ Narrativ.
       
       Säcke, Kleidungsstücke, Plastikverpackungen. Dora Skartsi ärgert sich. „Das
       ist doch kein Nationalpark mehr!“ Sie muss es wissen. Skartsi, 60,
       Forstwissenschaftlerin, Vogelkundlerin, Leiterin der Gesellschaft für
       Biodiversität mit Sitz in Dadia, kennt den Wald so gut wie ihre
       Westentasche. Ob an Wegen, in Tälern oder auf Hügeln: Hunderte Müllkippen
       lägen überall verstreut herum. „Dieses Jahr hat das überhand genommen“,
       klagt Skartsi.
       
       Nicht nur dies sei ein klarer Indikator dafür, dass die Zahl der Migranten,
       die durch den Wald ziehen oder sich darin tagelang verstecken, um auf den
       nächsten Schlepper zu warten, merklich zugenommen hat. „Bei Löscheinsätzen
       mit der Feuerwehr haben wir siebzig Migranten im brennenden Wald gefunden,
       obwohl sich niemand dort aufhalten sollte.“ Skartsi glaubt nicht daran,
       dass „die Migranten uns verbrennen wollen“.
       
       Ihre Präsenz im Wald sei jedoch eine weitere reale Gefahr in der langen
       Liste möglicher Brandursachen. „Aus Fahrlässigkeit, schreiben Sie das bitte
       in Großbuchstaben“, wie sie betont. Die Migranten kochten im Wald, hätten
       Gaskartuschen dabei. „Das Risiko ist gewaltig.“ Das dürfe man „nicht unter
       den Teppich kehren.“ Stellen Sie sich vor, Tausende Bewohner einer Stadt
       gingen in einen Park, um dort zu picknicken – trotz Brandgefahr!“ Das ist
       Dora Skartsis Narrativ.
       
       ## Neue Eskalationsstufe erreicht
       
       Mit dem Narrativ, Flüchtlinge und Migranten als Brandstifter zu
       bezichtigen, ist für die Rechtsanwälte Aikaterini Georgiadou und Jannis
       Patzanakidis eine neue Eskalationsstufe in der Migrationsfrage erreicht.
       „Es begann damit, den Migranten als Invasor zu sehen. Inzwischen ist der
       Migrant nicht nur der Invasor, sondern auch der Brandstifter, der
       Griechenland auslöschen will“, sagt Patzanakidis. Gerade ist er mit seiner
       Kollegin Aikaterini Georgiadou von dem Aufnahmelager für Flüchtlinge und
       Migranten in Fylakio im Nordevros zurückgekehrt. In einer Herberge in
       Soufli gewähren sie der taz Einblicke in die Aufsehen erregende Causa der
       13 Migranten, die ein Albaner mit der Hilfe zweier Griechen „einsammelte“,
       in einen Anhänger steckte und per Video zum Pogrom gegen Migranten aufrief,
       die „uns alle verbrennen wollen“.
       
       Der Fall sei ein Novum. „So etwas ist noch nie passiert“, sagen Georgiadou
       und Patzanakidis unisono. Das Duo vertritt die acht Syrer und fünf
       Pakistaner. Ihnen gehe es gut. Zuerst seien die Pakistaner an jenem
       ominösen 22. August von dem Täter-Trio in den Anhänger gepfercht worden.
       Erst Stunden später seien die Syrer dazugekommen. Die Täter hätten Frauen
       und Kinder aussortiert. Triage pur.
       
       Wer in den Anhänger gesteckt wurde, sei in Lebensgefahr geraten. „Sie
       standen davor, in Ohnmacht zu fallen, zu sterben. Sie konnten in diesem
       Käfig keine Luft holen“, so Georgiadou. Sie hätten gegen die Wände des
       Anhängers geschlagen, ohne dass jemand antwortete. „Ein Migrant hat uns
       gesagt, er habe nichts mehr verstanden, als er nach Stunden aus dem
       Anhänger steigen durfte“, ergänzt Patzanakidis. „Die Menschen standen unter
       Schock. Als sie gehört haben, dass ausgerechnet ihre Entführer sie der
       Brandstiftung bezichtigen, haben sie nur gestaunt.“
       
       Die gute Nachricht ist: Das Entführer-Trio kam in Untersuchungshaft, alle
       13 Migranten wurden ohne jegliche Auflage freigelassen. Ein erster Erfolg
       für das smarte Advokaten-Duo Georgiadou und Patzanakidis. Sie lassen nicht
       locker. Die 13 Migranten wollen Asyl, ferner eine Aufenthaltserlaubnis aus
       humanitären Gründen. Das griechische Gesetz sieht das vor. Denn sie seien
       Opfer verbrecherischer Taten mit rassistischem Motiv geworden.
       
       An Premier Mitsotakis lassen die Rechtsanwälte kein gutes Haar. „Um sich
       der Verantwortung für das Ausmaß der Feuerkatastrophe zu entziehen, nährt
       Mitsotakis das Narrativ ‚der Migrant, der Brandstifter‘, indem er darauf
       hinweist, dass die Feuer auf den Migrantenrouten wüten“, sagt
       Patzanakidis.
       
       Mitsotakis tue dies, obschon im Wald von Avantas 18 Migranten einen
       grausamen Tod starben, als das Feuer sie erfasste, kritisiert der Advokat.
       Ihre verkohlten Leichen wurden am 22. August gefunden. 19 der 20 Brandopfer
       im Evros sind Flüchtlinge und Migranten. „Hätten wir einen Regierungschef,
       der eine klare Haltung einnimmt, hätten wir nicht so ein vergiftetes Klima
       in der Gesellschaft“, hebt Patzanakidis hervor.
       
       Der Advokat weist auf Mitsotakis’ Rede im Athener Parlament hin. Wortgetreu
       sagte er: „Alle, die (tot) im Wald gefunden wurden, hätten niemals dort
       sein dürfen. Die Behörden haben einen Notruf gesendet, in zwei Sprachen,
       auf Griechisch und Englisch. ‚Befehl an alle: sofortige Evakuierung!‘ Wir
       haben uns womöglich etwas anderes zu fragen: ‚Wer brachte sie dorthin? Was
       sind das für Nichtregierungsorganisationen, die auf einmal ein Bild (über
       deren Verbleib) haben?‘ Sind sie womöglich mitverantwortlich dafür, dass
       sie die Menschen dorthin führen, diese dann (vom Feuer) eingeschlossen
       sind, nicht evakuiert werden können und so ihr Leben verlieren?“ Das
       Megafeuer im Evros ist gelöscht. Verbrannte Erde allerorten. Der Kampf der
       Narrative geht weiter.
       
       20 Sep 2023
       
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       Die griechische Oppositionspartei Syriza hat ein neues Oberhaupt: Stefanos
       Kasselakis. Seine Vision ist ein progressives Griechenland.
       
 (DIR) Extremwetter in Griechenland: Biblische Katastrophe
       
       Hitzewellen, Waldbrände, Überschwemmungen. Die Debatte über den Klimawandel
       ist verhalten, aber Athen setzt auf erneuerbare Energien.
       
 (DIR) Folgen der Klimakrise: So heiß und so viel Regen wie nie
       
       Von Juni bis August war die Welt auf der Nordhalbkugel so heiß wie nie
       zuvor gemessen. Die Konsequenzen zeigen sich derzeit im Süden Europas.
       
 (DIR) Klimakrise und Wunsch nach Beständigkeit: Konservatismus wird zur Verheißung
       
       Unwetter und Brände zerstören gerade die südlichen Sehnsuchtsorte der
       Urlauber. Mit der Klimakrise gibt es keine Kontinuitäten, keine
       Sicherheiten.