# taz.de -- Schlagloch Neoliberalismus: Sympathy for the Schnösel
       
       > Er hält sich für das Mitglied einer Klasse, die ihn ausbeutet und
       > verhöhnt. Dabei gehört der Schnösel zur Reservearmee des Neoliberalismus.
       
 (IMG) Bild: Dem herumirrenden Schnösel bietet die AfD eine neue Heimat
       
       Jede Bewegung, jede Partei, jede ideologische Kultur hat ihren
       Nachwuchsbereich. Das gilt auch für den Neoliberalismus. Er funktioniert im
       Mikrobereich der ökonomisierten Macht durch etwas, das wir die prekäre
       Herrschaft der Schnösel oder kurz Schnöselokratie nennen könnten. Schnösel
       sind die Türsteher und Straßenjungs des Neoliberalismus, die Laufburschen
       und Schaufensterpuppen, die Propagandisten und Prostituierten.
       
       Der Begriff Schnösel entstand wohl im 19. Jahrhundert aus dem Wortbereich
       Schnodder oder schnäuzen und beschreibt erst einmal etwas der „Rotznase“
       vergleichbares, bevor es sich, vielleicht mit einem Zwischenschritt von
       „altklug“ und „besserwisserisch“, in Richtung der Bedeutung von „junger,
       eingebildeter und eben rotzfrecher Mensch“ entwickelte.
       
       Im 20. Jahrhundert eroberte die Schnösel-Zuschreibung auch die
       Erwachsenenwelt. Es blieb indes in aller Vorstellung vom Eingebildeten,
       Ignoranten, Stutzerhaften und Anmaßenden auch etwas von „unreif“. Der
       Schnösel wurde zum Typus in Komödien, Operetten, Filmen und Karikaturen;
       das Happyend, wenn es für ihn eins gab, lag darin, dass er, etwa durch die
       Liebe, von seiner Schnöseligkeit kuriert wurde (wie der junge Heinz Rühmann
       in seinen frühen Filmen).
       
       Der Schnösel war zunächst ein Kind aus privilegiertem Haus, das sich gegen
       seine Umwelt arrogant und egozentrisch benehmen durfte, ohne dass er
       dadurch soziale Nachteile zu gewärtigen hatte. Ein Gewinner-Attribut, das
       freilich schon zuerst die Abwertung und dann auch den Abstieg beinhaltete,
       denn der Schnösel ist in der Regel nicht mehr in der Lage, das ererbte
       Unternehmen zu führen; der Schnösel macht kaputt, was seine Vorgänger
       aufgebaut haben.
       
       Es gibt in jeder Klasse, auch in der bäuerlichen, auch in der
       proletarischen eine je eigene Form von Schnöseln, doch zum Rollenmodell,
       zugleich Problem und Ideal, wird der Schnösel erst im Bürgertum. Der
       Schnösel drückt die ganze Widersprüchlichkeit dieser Klasse aus. Deshalb
       spielt er in ihrer Mythologie eine Schlüsselrolle. Doch erst in einer
       Mediengesellschaft kann der Schnösel von einem Rand- und Krisensymptom zu
       einem zentralen Lebensmodell werden.
       
       ## Ein betrogener Betrüger
       
       Interessanterweise taucht der Schnösel an signifikanten Stellen der
       Klassenbeziehungen auf. Im 19. Jahrhundert etwa ist er in den Komödien der
       Kleinbürger, der sich zum Groß-, Besitz- und Bildungsbürger aufplustert,
       und im 20. Jahrhundert, nun vor allem als Film-Figur, der „entwurzelte“
       Aufsteiger, der sich wunders was auf sich einbildet, indem er jede
       Modetorheit mitmacht. Und am Ende als betrogener Betrüger dasteht.
       
       Der Schnösel des Jahres 2014 verhält sich nicht viel anders. Er hält sich
       selbst für das Mitglied einer Klasse, die ihn in Wirklichkeit ausbeutet,
       wenn nicht gar verhöhnt, er macht bedingungslos jede Mode mit, die ihm
       verspricht, dazuzugehören, vielleicht sogar vornedran zu sein. Er erfüllt
       die Ideologie, an die die wirklichen Gewinner seines Systems kein bisschen
       glauben, mit manchmal fanatischem Ernst. Daher ist der Schnösel bereit, die
       ideologische Drecksarbeit zu leisten. Es ist der Schnösel, der Verachtung
       und Ignoranz offensiv zur Schau stellt.
       
       ## Freiheit, Neuheit und Party
       
       Der Schnösel glaubt fest an den Markt, an die Freiheit, an den Erfolg, an
       die Leistung, an den Optimismus, an den Fortschritt, an die erlösende Kraft
       von Markenartikeln. Seine drei Säulen sind Freiheit, Neuheit und Party. Vom
       Partymachen ist der Schnösel so besessen, dass er jede Party ruiniert, weil
       er aus ihr eine Feier der Selbstbestätigung macht. Wie bei den meisten
       Menschenarten werden auch die Schnösel erst unwirklich erträglich, wenn sie
       in Gruppen auftreten, in denen sie sich zu überschnöseln trachten.
       
       Gewiss gibt es auch den weiblichen Schnösel. Allerdings scheint er nicht
       auf die gleiche Weise uniformiert und auf Anhieb erkennbar. Auch der
       weibliche Schnösel zeigt vergleichsweise aggressiv die Zeichen der
       Eitelkeit und Selbstinszenierung: Frisuren, die verzweifelt versuchen,
       zugleich modisch und für den harten Aufstiegskampf betoniert zu sein,
       Kostüme, die sexy sein und zugleich als Kampfanzüge für den immerwährenden
       Wettbewerb dienen sollen, ein Lächeln, das vor allem Biss verrät.
       
       Vielleicht ist Ursula von der Leyen die Mutter aller weiblichen Schnösel
       oder die Dame von den Börsennachrichten. Auf jeden Fall kommen auch hier
       die Vor-Bilder vorzugsweise von amerikanischen Serien. Business Girls und
       Media Chicks.
       
       ## Individualschnösel und AfD
       
       Der Schnösel, keine Frage, ist sozial abgestiegen. Es ist die Reservearmee
       des Neoliberalismus. Dabei könnte man den Schnösel durchaus als ein
       Auslaufmodell sehen, eines, das endgültig in den Status der Selbstparodie
       umgekippt ist. Der Schnösel würde gewissermaßen der FDP entsprechen.
       
       Beide, die jungen Individualschnösel und die FDP, schaden dem System mehr
       als sie ihm nutzen, wenn sie es, während sie es propagieren zugleich
       entlarven. Doch ist der Schnösel selber flexibel genug, um notfalls
       militantere Positionen zu finden. Für den Schnösel in der Krise ist die AfD
       eine neue politische Heimat, man sieht im Nachbarland massenweise Schnösel
       in den Reihen des Front National. Die Schnösel-Mehrheit aber gibt sich –
       noch – betont unpolitisch.
       
       ## Das Kind der Reichen
       
       War der Schnösel einst das Kind der Reichen, das in Arroganz und
       narzisstischem Wahn die soziale Legitimation von Familie und Klasse
       verspielte, wurde er dann zum Sinnbild eines vom Kapitalismus zugleich
       hofierten und verratenen Bürgers.
       
       So ist der Schnösel nun auch am unteren Ende des sozialen Spektrums
       angelangt: Der Schnösel, der seine Ignoranz und Arroganz gegen die soziale
       Abwertung setzt, aber keine eigene „Leistung“ zu erbringen bereit ist, auch
       einer, der den Tag vor dem Fernseher verbringt und mit dem SUV zur
       Lebensmittelabholung bei der „Tafel“ fährt. Erbarmen!
       
       Wir, die wir unter der Schnöselokratie tagein und tagaus leiden müssen,
       wir, die wir Opfer der Mitleidlosigkeit des Schnösels sind, müssen mit ihm
       tiefes Mitleid empfinden. Denn auch der Neoliberalismus frisst am liebsten
       seine Kinder. Die Schnösel.
       
       8 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georg Seesslen
       
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