# taz.de -- Kommentar Ukraine: Landschaft ohne Blüten
       
       > Die Ukraine ist jetzt der EU assoziiert – und steht vor dem Kollaps. Es
       > gab zwar einen Machtwechsel, aber das System ist das gleiche geblieben.
       
 (IMG) Bild: „Schokoladenkönig“ und ukrainischer Präsident: Petro Poroschenko.
       
       Für die Ukraine gibt es hierzulande zwei schroff entgegengesetzte
       Deutungsmuster. Nennen wir sie der Einfachheit halber das Helmut-Schmidt
       und das Daniel-Cohn-Bendit-Muster. Das Schmidt-Muster geht so: Russland –
       Atomwaffen, Regionalmacht, Gaslieferant – ist für uns wichtig. Die Ukraine
       – keine Atomwaffen, keine Macht, kein Gas – ist unwichtig.
       
       Wer das nicht versteht und wegen Krim und Donbass nach harten Sanktionen
       ruft, verwechsele Außenpolitik mit einer Tagung der Evangelischen Akademie.
       Außerdem sei die Ukraine im realpolitischen Blick irgendwie kein richtiger
       Nationalstaat und zähle seit 300 Jahren zur Einflusssphäre Moskaus.
       Interessensphären anzuerkennen ist ein Grundprinzip – es zu verletzen, wie
       die EU es mit dem Assoziierungsabkommen mit Kiew tut, ist gefährlich. Denn
       wer Interessenräume missachte, setze rasch das ganze Haus in Brand.
       
       In der realpolitischen Perspektive kommt etwas Wesentliches kaum vor: Die
       Ukraine ist ein souveräner Staat. Es stimmt: Das Land hat seine Freiheit
       1991 nicht erkämpft, die Unabhängigkeit fiel ihm unversehens zu, weil
       Jelzin die Sowjetunion auflöste. Die ukrainische Nationalbewegung war in
       den 150 Jahren zuvor klein, ungewöhnlich erfolglos und manchmal
       faschistisch. Das macht die Ukraine aber nicht zu einem russischen
       Protektorat. Trotz der Spannungen zwischen West- und Ostukraine, zwischen
       zur EU und nach Moskau strebenden Teilen gibt es eine kollektive nationale
       Identität. Im Kalten Krieg galt, dass Stabilität vor nationaler
       Souveränität geht. 2014 ist das anachronistisch.
       
       Im Cohn-Bendit-Muster ist Kiew Schauplatz des Ringens zwischen einer
       Freiheitsbewegung und russischem Imperialismus, zwischen Demokratie und
       Diktatur. Im Westen locken Wohlstand, Rechtsstaat, Freiheit, im Osten droht
       die asiatische Despotie. Ex occidente lux! Putins Aggression habe einen
       einfachen Grund: Er fürchte eine prosperierende, liberale Ukraine, eine
       Maidan-Bewegung vor dem Kreml, die sein autoritäres Regime zum Einsturz
       bringen würde.
       
       Auch der antitotalitäre Blick weist Blickverkrümmungen aus dem letzten
       Jahrhundert auf. Denn es ist kurzsichtig, den Maidan als als Wiedergänger
       von 1989 und Fortsetzung des Befreiungskampfes osteuropäischer
       Zivilgesellschaften gegen das russische Diktat zu lesen. 1989 war eine
       Revolution, die die Gesellschaften radikal umstülpte, die Diktatur durch
       Demokratie ersetzte.
       
       ## Exorbitante Korruption
       
       In der Ukraine gab es im Februar keinen System-, nur einen Machtwechsel.
       Das Parlament ist noch immer das gleiche, der Alltag von exorbitanter
       Korruption durchzogen, das Justizwesen verkommen. Die Demokratie ist noch
       immer eher die Fassade der Macht, nicht deren Regulativ. Nur der Oligarch,
       der an der Spitze steht, ist ein anderer. Um zu verstehen, was Präsident
       Poroschenko kann und nicht kann, ist 1989 belanglos. Seine Vorlage ist die
       Orangene Revolution 2004, als schon mal die zur EU strebenden Kräfte die
       Macht hatten und jämmerlich scheiterten.
       
       Auffällig ist, dass die Schmidt- und die Cohn-Bendit-Positionen
       Wiederaufführungen aus den 80er Jahren sind. Sie gleichen dem Zwist
       zwischen SPD-Entspannungspolitikern, die auf die Staatenlenker in Moskau
       und Warschau fixiert waren, und grünen 68ern, die auf zivile Revolten gegen
       den Staatssozialismus setzten. Doch beide Muster wirken 2014 verrutscht,
       wie alte Passepartouts, die für das neue Bild nicht passen.
       
       Die Ukraine ist in desolatem Zustand. Finanzen stehen kurz vor dem Kollaps
       – auch ohne den von Putin geschürten Krieg im Donbass. Die Idee der
       Antitotalitären, dass aus dem Armenhaus zwischen Lwiw und Donezk blühende
       Landschaften werden, die Russland zur Freiheit verführen, ist eine
       Seifenblase: bunt, schillernd, flüchtig. Ein Träumer, wer glaubt, dass das
       Assoziierungsabkommen mit der EU Kiew dieser Fantasie in den nächsten
       Jahren näher bringen wird.
       
       27 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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