# taz.de -- Ein Jahr Flüchtlingscamp Oranienplatz: Der ständige Ausnahmezustand
       
       > Ein Camp mitten in Berlin, mitten in der Stadt: Viele der Flüchtlinge
       > sind von ihrem Kampf zermürbt. Aufgeben wollen sie deswegen trotzdem
       > nicht.
       
 (IMG) Bild: Ein Jahr schon gibt es das Flüchtlingscamp in Berlin-Kreuzberg. Der Bezirk sucht ein geeignetes Haus für sie zum Überwintern.
       
       BERLIN taz | Am Mittwochabend hält Hans-Christian Ströbele mit seinem
       Fahrrad mal wieder kurz am Camp. Kaum hat er sich zwischen die grauen Zelte
       auf eine Bank gesetzt, wird er von Patras Bwansi begrüßt, einem der
       Wortführer hier. Er gratuliere zum „Sieg“ im Bundestag, sagt der Ugander:
       „Stay strong!“ Der Grünen-Abgeordnete nickt. Er wisse doch, sagt Bwansi,
       sie kämpften weiter, es gehe um ihre Rechte. „Ich weiß“, sagt Ströbele.
       „Grundrechte.“
       
       Die Rollen sind längst eingespielt, der Kampf währt schon länger. Am
       Sonntag treten Bwansi und seine Mitstreiter seit genau einem Jahr für ihre
       Rechte ein, mit einem Protestcamp mitten in Kreuzberg, mitten in Berlin.
       Etwa 100 Flüchtlinge leben auf dem Oranienplatz, vor allem Afrikaner, fast
       alles Männer. Sechs Großzelte sind ihr Zuhause, dazu ein Dutzend kleinere,
       ein roter Bauwagen, ein Zirkuszelt für Versammlungen. „Kein Mensch ist
       illegal“, steht auf einem verschlissenen Banner.
       
       Dass sich Flüchtlinge ein Jahr lang dem deutschen Asylsystem verweigern,
       hat es hierzulande noch nicht gegeben. Alles begann im September 2012 mit
       einem Protestmarsch von rund 30 Flüchtlingen, vor allem Iranern. Zuvor
       hatte sich ein Landsmann in einem Würzburger Asylheim erhängt. Keine
       Abschiebungen mehr, forderten die Flüchtlinge, keine Sammellager, endlich
       Bewegungsfreiheit. 500 Kilometer liefen sie zu Fuß, von Würzburg nach
       Berlin, unterwegs schlossen sich weitere Flüchtlinge an. Am Ende landeten
       sie auf dem Oranienplatz in Kreuzberg, ein unspektakulärer Platz mit ein
       paar Bänken und etwas Rasen, und stellten dort ihre Zelte auf.
       
       Die stehen dort bis heute. Drinnen sitzen an diesem Mittwoch die Bewohner
       eng beieinander auf zusammengeschobenen Betten, zwischen Schlafsäcken und
       Decken. Es ist kalt geworden, der Wind zerrt an den Zeltplanen. Gedämpfte
       Gespräche, Musik läuft, jemand arbeitet am Laptop. Draußen köchelt auf
       einem Gaskocher Linsensuppe, im Zirkuszelt ist gerade Deutschunterricht.
       Campalltag.
       
       Doch der Alltag kostet Kraft. Am Anfang schauten noch Bundespolitiker
       vorbei, als ein Teil der Flüchtlinge vor das Brandenburger Tor zog und dort
       in Hungerstreik trat. Vier der Asylsuchenden durften im Innenausschuss des
       Bundestags sprechen, der Hungerstreik wurde abgebrochen. Die schwarz-gelbe
       Koalition sah die Sache als beendet an. Die Flüchtlinge kehrten ins Camp
       zurück. Immerhin: Der grün regierte Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg duldete
       das Protestlager.
       
       ## Nicht noch einen Winter
       
       Auf dem Platz üben sie sich jetzt in Durchhalteparolen. Man werde von Tag
       zu Tag stärker, sagt Bashir Zakariyar, ein kräftiger Nigerianer in blauem
       Kapuzenpullover und Sandalen, der seit Januar dabei ist. „Wir wollen nur
       unsere Freiheit, Menschen sein wie alle anderen auch.“
       
       Doch die Realität ist eine andere: Es fehlt eine Perspektive. Und nun kommt
       der Winter, der zweite. Viele Flüchtlinge sind erschöpft, im Grunde auch
       Zakariyar. Als vor ein paar Wochen einige Campbewohner die Straße draußen
       blockierten und Polizisten mit Räumung drohten, verlor Zakariyar die
       Fassung. „Tötet uns doch!“, schrie er den Beamten entgegen. „Wir haben
       nichts mehr zu verlieren!“
       
       „Müde und kaputt“ seien die Flüchtlinge, sagt auch die Berliner
       Integrationsbeauftragte Monika Lüke, einst bei Amnesty International. Sie
       könnten nicht nicht noch mal auf dem Oranienplatz überwintern. „Das wäre
       schlecht, für alle Seiten.“
       
       Bashir Zakariyar will bleiben. Der 40-jährige Nigerianer verließ sein Land
       schon vor 13 Jahren, ging mit seiner Familie nach Libyen. Dann kam der
       Krieg gegen Gaddafi. Zakariyar floh nach Lampedusa, im Boot, seine Kinder
       überlebten die Fahrt nicht. Sie ertranken. In Italien erhielt Zakariyar
       eine Aufenthaltsberechtigung, aber keine Arbeit. Also zog er weiter, nach
       Deutschland. Arbeit fand Zakariyar auch hier nicht. Aber er fand das Camp
       auf dem Oranienplatz.
       
       ## Viele kommen über Italien
       
       In den Zelten gibt es fast nur noch Männer wie Zakariyar. Afrikaner, mit
       und ohne Papiere, die meisten aus Italien kommen, die sagen: Hätten sie nur
       Arbeit, sie wären sofort weg hier. Sie haben ein neues Banner aufgehängt:
       „Lampedusa Village“.
       
       Von seiner Bank aus blickt Hans-Christian Ströbele, der gerade wieder in
       den Bundestag gewählte Grüne, genau auf das Transparent. Die Forderungen
       der Flüchtlinge seien richtig, sagt Ströbele. „Residenzpflicht,
       Lagerpflicht, das ist reine Schikane.“ Aber wird sich daran etwas ändern?
       Ströbele zieht die Augenbrauen hoch. Man müsse die Koalitionsverhandlungen
       abwarten. Sonst machten eben die Grünen weiter Druck.
       
       Doch die Stimmung droht zu kippen. Zwar bringen viele Berliner Lebensmittel
       oder Kleidung vorbei und spenden Geld, zwar dürfen die Flüchtlinge die
       Küche der alevetischen Gemeinde benutzen, geben Ehrenamtliche Deutschkurse,
       behandeln Ärzte gratis. Doch es gibt auch die Genervten, und nicht wenige
       davon sitzen gleich nebenan, im Altin Köse, einer türkischen Teestube.
       
       ## Messerstecherei und Fastenbrechen
       
       Männer spielen hier an runden Tischen Karten, Rauchschwaden hängen unter
       der Decke. „Das kann doch nicht ewig so gehen“, sagt einer. „Das war mal
       unser Platz.“ Die anderen nicken.
       
       Im Sommer eskalierte der Konflikt. Zu laut, zu vermüllt sei das Camp,
       hatten Anwohner schon zuvor kritisiert. Nach einem Streit rammte ein
       Deutschtürke einem Flüchtling ein Messer in die Schulter. Die Polizei kam
       mit einem Großaufgebot, der Bezirk berief einen Runden Tisch ein. Der
       Ramadan habe den Streit beruhigt, sagen sie heute im Altin Köse. Man habe
       sich mit den Flüchtlingen zum Fastenbrechen getroffen. Nicht diese seien
       das Problem, sondern die Ungewissheit, wie es mit dem Camp weitergeht.
       
       Eine Antwort darauf haben auch die Grünen nicht. Im letzten Jahr beschloss
       das Bezirksparlament mehrheitlich, den Protest zu unterstützen. Das, heißt
       es nun selbst bei der SPD, habe aber nur für den Winter gegolten, „nicht
       unbefristet“. Die Sache habe sich verselbstständigt, findet
       SPD-Bezirkschefin Julia Schimeta. Auch den Grünen fiele nicht viel mehr ein
       als regelmäßige Besuche im Camp. „Da dient einiges auch der Profilierung.“
       Das Camp, grüne Imagepflege? Ströbele winkt ab. „Flüchtlingspolitik ist nun
       wahrlich kein Thema, mit dem man Stimmen holt.“
       
       Auch Monika Herrmann, Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg und die
       einzige grüne Bürgermeisterin in Berlin überhaupt, zählt auf, wo der Bezirk
       hilft. Einen Sanitärcontainer stelle er, die Müllentsorgung werde bezahlt.
       Selbst als Flüchtlinge im letzten Dezember eine Schule unweit des Camps
       besetzten, wurde das geduldet. Eine Grünen-Abgeordnete schläft seit Wochen
       mit im Camp, hält den Kontakt zu Behörden. „Was wir im Bezirk tun konnten“,
       sagt Herrmann, „das haben wir getan.“
       
       ## Die CDU ist angewidert
       
       Fast wöchentlich besucht Herrmann, eine forsche Endvierzigerin, die
       Versammlungen im Camp. Eine Hand in der Hosentasche steht sie dort und
       erklärt, was der Bezirk nicht tun kann. Das Bleiberecht, das der Bund
       regelt. Dublin II, die europäische Asylvorschrift, wonach Flüchtlinge ihr
       Asylverfahren dort bekommen, wo sie zuerst europäisches Land betreten.
       
       Im Camp wird der Grünen-Einsatz honoriert. Als Herrmanns Amtsvorgänger
       Franz Schulz im August in den Ruhestand verabschiedet wurde, hielt auch
       Bashir Zakariyar eine Laudatio „für unseren Bürgermeister“. Bei der
       jüngsten Bundestagswahl zahlte sich der Einsatz dagegen nicht aus. Die
       Grünen verloren mehr Stimmen als alle anderen und landeten hinter
       Linkspartei und SPD.
       
       Der CDU und ihrem Innensenator Frank Henkel ist das Camp ohnehin zuwider.
       Seit Monaten schimpft Henkel über die „rechtswidrigen Zustände“, die
       Duldung des Bezirks, den dauerhaften Verstoß gegen die Residenzpflicht.
       Diese verbietet Flüchtlingen, ihren Landkreis zu verlassen. Eine Räumung
       scheut die CDU bislang dennoch. Auch Henkel weiß: Die Flüchtlinge wären ja
       nach einem Polizeieinsatz weiterhin da.
       
       ## Viele sind zurückgekehrt
       
       Bisher haben sich am Ende immer Helfer gefunden, auch wenn gerade „Die
       Tafel“ ihre Lebensmittelspenden eingestellt hat. Es ist diese
       Unterstützung, die Turgay Ulu glauben lässt, warum es bisher kaum Probleme
       mit der Polizei gegeben hat, etwa wegen der Verstöße gegen die
       Residenzpflicht. „Strafbefehle gegen 100 Flüchtlinge, das wäre ein
       Skandal.“
       
       Ulu, ein 40-jähriger Türke, kleine Brille, verschmitztes Lächeln, ist eine
       Ausnahme auf dem Oranienplatz. Er ist der Letzte, der von Anfang an, schon
       beim Protestmarsch quer durch Deutschland, dabei war. Die Iraner sind
       längst zurück in Bayern, setzten dort ihren Kampf mit einem Hungerstreik in
       München fort. Andere, vor allem Familien, haben sich in die besetzte Schule
       zurückgezogen. Wieder andere sind ganz in ihre Asylheime zurückgekehrt.
       
       ## Ein Stück Freiheit
       
       Ulu pendelt heute mit dem Fahrrad zwischen Camp und der besetzten Schule,
       wo er mit einem Mitstreiter in einem kleinen Zimmer übernachtet. Der
       Oranienplatz bedeute Freiheit für ihn, sagt Ulu, „immer noch“.
       
       Die Unfreiheit, berichtet er, habe er in deutschen Asylheimen
       kennengelernt, wo er zwei Jahre lebte. „Wie Gefängnis“, sagt Ulu.
       Schlechtes Essen, ständige Kontrolle, soziale Isolation. Dabei sei er aus
       der Türkei geflohen, weil er dort als kommunistischer Oppositioneller 15
       Jahre in Haft saß, gefoltert wurde. Es sind Leute wie Turgay Ulu, geflohene
       Politaktivisten, die den Widerstand in Kreuzberg am Leben erhalten. Man
       habe einen Winter überstanden, sagt Ulu, den zweiten werden sie auch
       schaffen. Sie hätten ja schon etwas erreicht: „Viele Leute wissen jetzt,
       wie Flüchtlinge hier leben müssen.“
       
       Auch Monika Herrmann glaubt nicht an ein schnelles Ende der Besetzung.
       Derzeit sucht sie nach einem geeigneten Haus für die Flüchtlinge. Auf dem
       Oranienplatz, sagt sie, bliebe dann nur ein Infozelt stehen. Auf dem Plenum
       im Camp habe sie für die Idee viel Zustimmung erhalten. Es wäre: eine
       Perspektive.
       
       Im Camp zieht sich Bashir Zakariyar fröstelnd die Kapuze seines Pullovers
       über. Die Idee mit dem Haus begrüßt er. Man lebe ja wie Obdachlose derzeit.
       „Aber das Haus erfüllt noch keine unserer Forderungen.“ Das Camp werde
       trotzdem bleiben.
       
       5 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konrad Litschko
       
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