# taz.de -- Ingeborg-Bachmann-Preis 2013: Niemand ist tot oder pervers
       
       > Impressionen vom 37. Bachmann-Wettlesen: Von Käfer-Nerds,
       > Jurydiskussionen, Schamhaarliteratur und der steten Angst vor dem Ende
       > des Bewerbs.
       
 (IMG) Bild: Sieger, die auf Trophäen starren: Katja Petrowskaja und Benjamin Maack.
       
       Der Ingeborg-Bachmann-Preis gilt als die wichtigste Auszeichnung für
       NachwuchsautorInnen. Er wird seit 1977 in Bachmanns Geburtsstadt Klagenfurt
       vergeben. Für taz.de verfolgte [1][Angela Leinen] die Tage der
       deutschsprachigen Literatur und das Rahmenprogramm mit Bürgermeisterempfang
       und Wettschwimmen. 
       
       Die Preise am Sonntag 
       
       „Fehlte nur noch, dass ich meine Mutter grüße. Und weil das die einzige
       Gelegenheit ist, in der ich mich das traue, grüße ich jetzt meine Mutter,
       danke, dass du wieder drei Tage zugeschaut hast.” Jury-Vorsitzender
       Burkhard Spinnen sprach die Schlussworte bei den 37. Tagen der
       deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, sie gingen im Gelächter unter.
       
       Er hatte zuvor ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz als „neuen, starken
       und dauernden Freund dieses Wettbewerbs“ begrüßt. Zwei Wochen vor Eröffnung
       des Bewerbs hatte ORF-Generaldirektor mit den Worten „Den Bachmann-Preis
       wird das Landesstudio Kärnten im kommenden Jahr ganz sicher nicht mehr
       durchführen” einen Sturm von Protesten und Diskussionen ausgelöst.
       
       Am Samstagnachmittag stellte er sich der Diskussion mit der Jury und wurde
       anschließend von den Jurorinnen Daniela Strigl und Meike Feßmann erst zum
       Abendessen, dann zum Lendhafen abgeschleppt. Möglicherweise haben sie ihn
       dabei so gründlich niedergebusselt, dass er noch in der Nacht die
       Eintrittserklärung zur Bachmannsekte unterschrieb: Am Lendhafen setzte er
       sich an die von der Klagenfurter Initiative #bbleibt aufgestellte Maschine
       und tippte „Bachmannpreis muss bleiben, weil er wichtig ist, weil die
       Bedeutung vielen bewusst geworden ist.“
       
       Darunter gingen die Sieger, die jetzt nicht die letzten sein werden,
       beinahe unter. Katja Petrowskaja aus Berlin gewann gleich im ersten
       Wahlgang – der Auszug aus ihrem Roman „Vielleicht Esther“, war eine
       „gelungene Geschichtsaneignung durch eine Nachgeborene“. Weitere Preise
       gingen an Verena Güntner (Kelag-Preis), Benjamin Maack (3sat-Preis) und
       Heinz Helle (Ernst-Willner-Preis), den Publikumspreis erhielt die
       Österreicherin Nadine Kegele.
       
       Roman Ehrlich unterlag zwar beim Ernst-Willner-Preis in der Stichwahl,
       hatte dafür aber zuvor den [2][Automatische-Literaturkritik-Preis der
       Riesenmaschine] verliehen bekommen. Bei diesem Preis werden alle Texte
       werden nach vorher festgelegten Punkten nahezu objektiv überprüft. Ehrlich
       hatte unter anderem den im vorigen Jahr eingeführten
       „Andreas-Stichmann-Pluspunkt: Niemand ist tot oder pervers (auch keine
       Tiere)“ erhalten.
       
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       Die Lesungen am Samstag 
       
       In meinen Ausführungen zur Bachmannpreis-Dramaturgie hatte ich einen Satz
       gestrichen: „Wer am allerletzten Leseplatz nicht gefällt, mit dem wird
       kurzer Prozess gemacht.“ Das war schon früher oft der Fall und auch die
       Diskussion zu Nikola Anne Mehlhorns Text „Requiem der Vierzigjährigen“
       geriet am Schluss kürzer als die eingeplante Übertragungszeit.
       
       Für diesen Fall sitzen im ORF-Garten aber immer schon Interviewgäste
       bereit, um direkt reinzugrätschen. Heute: Die erste Kandidatin des Tages,
       Hannah Dübgen. Ihr Text „Schattenlider“ war die Ansprache einer Mutter an
       ihr ohne Augen geborenes Baby. Außerdem Martin Kordic, der Lektor von Roman
       Ehrlich, welcher heute als Zweiter las und möglicherweise einmal sehr
       berühmt wird, sofern er sich einen Künstlernamen mit zielführenden
       Googletreffern zulegt.
       
       Sein Text, „Das kalte Jahr“ ist ein Romanauszug, das Buch wird vermutlich
       morgen nach der Preisverleihung schon in einzelnen Exemplaren verteilt
       werden. Roman Ehrlichs Ich-Erzähler kehrt in sein Elternhaus in einem Ort
       am Meer zurück, in eine Kältekatastrophe unklarer Ursache und Dauer hinein,
       in der die Menschen kaum noch die Tage unterscheiden können.
       
       ## Angenehme Unklarheit
       
       In seinem ehemaligen Kinderzimmer findet er den Jungen Richard vor, der
       sich seine Umgebung auf seltsame Art angeeignet hat und offenbar einen
       dunklen Plan verfolgt. Der einzige Blick aus dieser Welt nach außen wird
       durch Videomitschnitte versprengt empfangener Fernsehschnipsel hergestellt.
       Überwiegend positiv war das Urteil der Jury, in der Diskussion wurde viel
       gerätselt über die Pläne des Jungen, die Ursache der Katastrophe
       („post-apokalyptisch“) und überhaupt die offenen Stellen, die der Text
       lässt. Ein gutes Beispiel dafür, dass es dem Leser (und dem lesenden
       Rezensenten) Spaß macht, wenn ein Text nicht alles haarklein offenlegt.
       
       Nach Ehrlich las Benjamin Maack, der ebenso Preiskandidat sein dürfte. Der
       Junge Joachim ist ein Kerbtier-Nerd, er sammelt und vermisst mit großem
       wissenschaftlichen Ernst Käfer und geht das Thema „Mädchen“ mit ähnlichen
       wissenschaftlichen Methoden an – so verursacht er versehentlich ein
       Käfer-Inferno in seiner Butterbrotdose. Die Szene, in der die Mutter die
       gefundene Brotdose auf den Tisch stellt und Besteck danebenlegt, war für
       mich der aufregendste Moment der ganzen Veranstaltung, und das folgende
       Happy End (nicht für alle Käfer, zugegeben) der wärmste.
       
       Die Jury muss am Samstagabend über die preiswürdigen Kandidaten beraten und
       eine Shortlist für die Preisverleihung aushandeln, leider unter Ausschluss
       der Öffentlichkeit. Mein Tipp für die Shortlist: Larissa Böhning, Verena
       Güntner, Joachim Meyerhoff, Katja Petrowskaja, Cordula Simon, Roman Ehrlich
       und Benjamin Maack. Joker: Zé do Rock.
       
       Am Sonntag ab 11 Uhr wird dann offen abgestimmt. Direkt davor um 10.30 Uhr
       werden Kathrin Passig und ich im Garten des ORF-Theaters den mit 500 Euro
       dotierten „Automatische-Literaturkritik-Preis der Riesenmaschine“
       überreichen.
       
       Und bereits fest stehen die Sieger des diesjährigen
       Bachmann-Wettschwimmens: Stadtschreiberin Cornelia Travnicek und der Autor
       Martin Fritz siegten in der Kategorie „Stein“ (mit Aufblas-Schwimmhilfe),
       in der Kategorie „Forelle“ siegte Katharina „Wörtherseeforelle“ Wilts
       (Klett Cotta).
       
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       Vor den Lesungen am Samstag 
       
       Guten Morgen aus Klagenfurt, die Abende werden von Tag zu Tag länger, dafür
       fängt der Tag heute eine halbe Stunde früher an.
       
       Gestern war Selbstzahler-Abend in Klagenfurt, für die meisten von uns. Für
       den Prosecco, mit dem auf Michaela Monschein angestoßen wurde, hatten ein
       paar Leute zusammengelegt. Frau Monschein war als Organisatorin im November
       unter kaum noch fadenscheinig zu nennender Begründung („normale
       Personalentscheidung“) nach elf Jahren abgesetzt worden, ohne Dank und
       Blumen.
       
       Beides wurde gestern Abend am „Lendhafen“ nachgeholt, auf Initiative eines
       Bachmann-Fanclubs auf Facebook. Alle waren da, die Juroren, der sogenannte
       Literaturbetrieb und die Hooligans aus dem Internet. Schließlich war es
       Frau Monschein, die uns vor Jahren, als wir zum ersten Mal hierhin kamen,
       sofort der Veranstaltung einverleibte.
       
       Es scheint, als hätten sie den Lendhafen extra für unseren kleinen
       Selbstzahlerliteraturbetrieb hier errichtet. Der Lendkanal verbindet das
       Strandbad Maria Loretto mit dem ORF-Theater, dazwischen, ans Ende des
       Kanals, haben kluge Klagenfurter Menschen vor zwei Jahren einen
       Getränkeausschank und eine Bühne gestellt.
       
       Zwischen hohen Kaimauern, unter einer schmalen Brücke, ist Platz zum
       Herumstehen- und sitzen. Eine Literaturagentin sagte gestern abend: „Hier
       sieht man, wie der Bachmannpreis ins Internet fließt“. Vom
       Bachmannpreis-Public-Viewing, aus grünen Liegestühlen mit Bachmann-Zitaten,
       wird am Tag gelesen und getwittert. Am Abend werden die Gespräche über die
       Texte fortgesetzt.
       
       Es ist eine Art Graswurzelliteraturbetrieb, der sich hier unter die
       üblichen Verdächtigen mischt, unter die Verlagsvertreter, Lektoren,
       Agenten, Journalisten. Selbstzahler wie die Hildesheimer Studenten, die
       jeden Morgen das Spaßblatt Ingeborg herausgeben, mit dem Klatsch vom
       Vorabend und – zum Beispiel – einem Jurorenquartett (Ilma Rakusa,
       eingespieltes Preisgeld pro Kandidat: 7.000 Euro). Die Studenten gehören
       hier genauso dazu wie die Klagenfurter Literaturinteressierten und die
       Leute, die aus dem Internet nach Klagenfurt kommen. Hier am Lendhafen
       genauso wie beim Empfang des Bürgermeisters, bei dem auch ohne Einladung
       jeder eingeladen ist.
       
       Auf in den letzten Lesungstag: Im Lendhafen warten wir auf die neue
       Ingeborg und die Kandidaten des Tages: Hannah Dübgen, Roman Ehrlich,
       Benjamin Maack und Nikola Anne Mehlhorn.
       
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       Die Lesungen am Freitag 
       
       Die Dramaturgie dieser drei Lesetage ist immer ähnlich: Am Donnerstag geht
       es noch zivilisiert zu, da rauft die Jury sich zusammen, dreht erst langsam
       auf, kein Kandidat wird vernichtet, keiner vorzeitig zum Favoriten erklärt,
       wer weiß, was noch kommt? Auch wenn der Donnerstag kaum jemanden zum Sieger
       macht, so kann man doch mit einem blauen Auge davonkommen.
       
       Am Freitag, dem zweiten Lesungstag, wenn die Juroren den
       Bürgermeister-empfang vom Vorabend erst einmal überwunden haben, geraten
       sie in Fahrt. Am Samstag, die Vergnügungen der Nacht haben Spuren
       hinterlassen, muss, soweit noch nicht geschehen, unter zunehmendem Druck
       ein Preisträger verhaftet werden.
       
       Wer da die Jury leidlich unterhält, hat beste Preischancen. Der zweite Tag
       begann mit dem Text „Gott ist Brasilianer, Jesus anscheinend auch“ von Zé
       do Rock, einem Deutsch-Brasilianer, der seit etwa 20 Jahren in Deutschland
       wohnt, schreibt, das Deutsche neu erfindet, auf Kleinkunstbühnen auftritt
       und Filme macht. Sein Text liest sich, als hätte er in seinem
       Deutsch-Portugiesisch-Bayrisch-Mischmasch seine Reiseerlebnisse diktiert
       und von Dragon Dictate ohne Rechtschreibkorrektur in Schrift verwandeln
       lassen.
       
       Kein leicht lesbarer Stoff. Zé do Rock selbst liest etwa doppelt so
       schnell, wie ich das könnte. Ein Feuerwerk der guten Laune, mit Gewalt,
       Abgründen, viel Witz. Preiskandidat? Keine Ahnung, aber Burkhard Spinnen
       ist dafür zu danken, dass er uns am Morgen diesen Aufwecker-Vortrag
       geschickt hat.
       
       ## Vorbestellbare Romane
       
       Cordula Simon, die in Odessa lebende Grazerin, las eine
       Urgroßmutter-Geschichte vom Land, mit kindlichen Schuldgefühlen über den
       Tod des Bruders und Fluchtgedanken. Sie wies vor Beginn ihrer Lesung darauf
       hin, dass ihr Roman bald erscheine und man ihn auch schon vorbestellen
       könne. Moderator Christian Ankowitsch reagierte später: Fast alle Autoren
       hier hätten (vor-)bestellbare Romane.
       
       Autor Heinz Helle las eine Partnerschaftsgeschichte vor – unerwünschte
       Schwangerschaft der Freundin. Ein oft benutztes, schreckliches Wort dafür
       ist „Klagenfurttext“, mir rutschte es zum ersten Mal auch hinaus, aber was
       soll das eigentlich sein? Ein Text vielleicht mit übersichtlichem Personal
       (Mann, Frau) etwa gleichen Alters, das auf übersichtlichem Raum spielt
       (Urlaub ausgenommen) und in dem so etwas wie Arbeit nicht vorkommt. Das war
       von Helle sprachlich gut gemacht und sicher auch sehr treffend geschildert.
       
       Auf Twitter ploppten Kommentare der Art „genau wie bei mir“ auf. In der
       Jury-Diskussion wurde dann auch „gut gearbeitet“ von Burkhard Spinnen als
       großes Plus des Textes angeführt. Man könnte – nach den Well-made-Debatten
       am Vortag – auf die Idee kommen, dass Literaturkritik in Teilen dann doch
       nur der Versuch ist, seine Sympathie (interessiert mich/interessiert mich
       nicht), mit dem Anschein von Sachlichkeit zu umweben.
       
       „Gut gearbeitet“ kann großes Lob sein, „well made“ dagegen fungiert fast
       als eine vernichtende Schmähung. Philipp Schönthalers Ich-Erzähler im Text
       „Ein Lied in allen Dingen“ begleitet einen Star-Querflötisten, der dem
       Geiger David Garrett ziemlich ähnlich sieht, auf seiner Deutschlandtournee.
       Der Ich-Erzähler ist der Simultanübersetzer, erklärt er am Ende des Textes.
       Am Anfang wird der Flötist unterm Dach der SAP-Arena in Mannheim
       aufgehängt, damit er am Ende herunterfallen kann.
       
       ## Der Sturz und die Langeweile
       
       Wir erkennen das Tschechowsche Gewehr, das im ersten Akt an der Wand hängt,
       und im letzten Akt abzufeuern ist. Dazwischen passiert wenig, es wird sehr
       viel sehr detailliert beschrieben. Die Jury redete ausführlich über
       Langeweile und die Frage, ob er am Ende wirklich stürzt. Jurorin Hildegard
       E. Keller wollte den Autor fragen, wurde aber von den anderen davon
       abgehalten.
       
       Am Ende des Tages las Katja Petrowskaja aus ihrem kommenden Roman
       „Vielleicht Esther“, und nach der Jurydiskussion dürfte das zur Zeit die
       Favoritin für den Bachmannpreis sein. Im Text geht es um eine verschwundene
       jüdische Großmutter, über deren Schicksal nichts bekannt ist, nicht einmal
       der Name, „vielleicht Esther“.
       
       Die Enkelin imaginiert ihre Deportation, ihren Tod beim Massaker in Babij
       Jar, und verzögert ihren Tod erzählend durch Einschübe von Achill, einer
       Pflanze (Birkenfeige) und Überlegungen zur Poetologie. Die Juroren waren
       fast einhellig begeistert, bis auf Paul Jandl, der infragestellte, ob alle
       Handlungselemente wirklich sinnvoll zusammenhingen.
       
       Interessant ist die Frage, ob nicht die Ehrfurcht vor dem Stoff so groß
       ist, dass er die Kritik hemmt. Daniela Strigl sagte, sie hielte es nicht
       für nötig, als Literaturkritiker immer dazu zu sagen, „das war jetzt schon
       wirklich arg, was da passiert ist“. Sie wolle nicht „im Schatten dieses
       Grabsteins“ urteilen.
       
       Fazit des Tages: Literaturkritik findet statt. Wer wissen will, wie sie
       entsteht und mit welchen Fragen sie kämpft, soll sich die Klagenfurter
       Jurydiskussionen anschauen.
       
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       Vor den Lesungen am Freitag 
       
       In Klagenfurt laufen sich die fünf Kandidatinnen und Kandidaten für den
       zweiten Lesungstag warm. Während das Publikum sich im ORF-Theater (man hört
       von Platzverteilungskämpfen wie am Hotelpool), am sonnigen
       Public-Viewing-Lokal am Lendhafen oder draußen an den Geräten einrichtet,
       schnell ein paar Hinweise: Die Autoren lesen hier aus bislang
       unveröffentlichten Texten, die Juroren bekommen aber etwa zwei Wochen
       vorher ein Exemplar, falls sie sich vorbereiten möchten.
       
       Nur der Text von Katja Petrowskaja war gestern morgen schon für fünf
       Minuten öffentlich: Er wurde, bis es jemand merkte, statt dem Text von
       Larissa Böhning auf der Bachmannpreis-Internetseite zum Download
       freigegeben. Die Juroren müssen je zwei Kandidaten einladen. Wie sie das
       machen, das bleibt jedem überlassen. Wer hier vorlesen will, kann Texte an
       die Juroren schicken, die müssen diese vielen Einsendungen aber gar nicht
       lesen, sondern können auch Empfehlungen von Verlagen und Agenten folgen
       oder Autorinnen oder Autoren fragen, ob sie nicht gerade etwas Schönes für
       Klagenfurt da haben.
       
       In den ersten Jahren luden die Juroren einfach geschätzte Autoren ein, die
       brachten dann irgendwas mit, was sie gerade in Arbeit hatten, meist ein
       Romankapitel. Einerseits konnte es da zu unschönen Szenen kommen, wenn dem
       einladenden Juror dann doch nicht gefiel, was sein Kandidat mitbrachte.
       Andererseits war allen klar, dass über unfertige, unlektorierte Texte
       geredet wurde.
       
       Die Vorgabe, dass der Text unveröffentlicht sein muss, wird ernst genommen.
       1990 wurden gleich zwei Autoren nach ihren Lesungen disqualifiziert. Die
       arme Margit Schreiner hatte eine frühere Version bei einem Wettbewerb
       eingereicht, nichts gewonnen und gar nicht gewusst, dass der Text auf
       diesem Weg in eine Anthologie geraten war. Erstaunlich dabei, dass das –
       vor Google – irgendeiner Petze überhaupt aufgefallen war.
       
       Heute heißt „unveröffentlicht“ oft: Fünf Minuten vor Auslieferung.
       Verlagsvertreter reisen mit Exemplaren des fertigen Romans im Koffer nach
       Klagenfurt, um sie am Sonntagnachmittag vorab zu verteilen, wie 2010 mit
       Dorothee Elmigers „Einladung an die Waghalsigen“ (3sat Preis und
       Automatische Literatur Kritik Preis). „Das kalte Jahr“ von Roman Ehrlich,
       der am Samstag liest, erscheint am kommenden Montag.
       
       Es ist also gar nicht vorgesehen, dass Autoren sich die Jurykritik zu
       Herzen nehmen und ihre Texte bei Einsicht noch einmal überarbeiten können.
       Dazu passt nicht, dass Burkhard Spinnen in einem Interview in der vorigen
       Woche die Veranstaltung als „Nachwuchswettbewerb“ bezeichnete. Was soll da
       noch wachsen, wenn die Romane, aus denen gelesen wird, nur noch aus der
       Kiste ins Verkaufsregal geräumt werden müssen?
       
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       Die Lesungen am Donnerstag 
       
       „Die gekochte Ochsenzunge stand auf einer Porzellanplatte, mitten auf dem
       Küchentisch. Er war rein gekommen und hatte gedacht, da steht ein
       fleischiger Riesenpenis.“ Meinetwegen hätte Larissa Böhning ihren
       Romanauszug („Zucker“, erscheint demnächst) ruhig etwas später am Tag lesen
       können – nicht auf (meinen) nüchternen Magen.
       
       Klar, was man mit so einem Phallus-Nahrungsmittel macht: Mit großem
       scharfen Messer zerteilen, damit der Herr Freud eine Freud hat und dem
       anwesenden Heiratsschwindler der Appetit vergeht. Die Annemarie kommt aus
       Bayern, hat Krebs, sagt sie, noch sechs Monate – gibt es im Leben wirklich
       diese präzisen Todeszeitvorhersagen?, der Mann will ihr an die
       Elbchaussee-Villa, Sex findet statt.
       
       Jedenfalls schon mal eine interessante Geschichte, und wer da wen
       verarscht, muss der Roman zeigen. Das ist jedenfalls interessanter als der
       Text, der letzten Lesenden des Tages, Anousch Müller. Denn deren Sujet
       „Paar fährt in Urlaub und trennt sich dort“ ist durch – durcher als durch –
       und ohnehin eine Klagenfurt-Standardsituation. Immerhin ist die Hauptfigur
       Hypochonderin mit Lippenherpes, Schwären und Beulen, das gibt dem Text
       Farbe.
       
       Joachim Meyerhoff, der als Zweiter las, ist als Theaterschauspieler bekannt
       und hat eine große Fangemeinde, soweit das im Internet feststellbar ist.
       Ein junger Mann stiehlt einen Bildband, fährt schwarz, das ist voller
       Pointen, auch ganz guter Pointen, sehr lebhaft vorgetragen.
       Publikumspreisverdächtig. Nur: Immer wenn ich denke, dies wäre ein ganz
       guter Schluss, geht die Geschichte weiter, ohne dass etwas Neues passiert.
       
       Meyerhoff tritt sehr selbstbewusst auf. Er überzieht seine Lesezeit um
       sieben Minuten und erklärt der Jury am Ende seine Poetologie. Als müsste
       nicht der Text für sich sprechen. Normales Arbeitsrisiko, dass man verkannt
       wird. Die Österreicherin Nadine Kegele hatte ein schönes selbstgemachtes
       Stop-Motion-Autorenvideo, so einfach ist das, man braucht nicht mal eine
       Filmkamera dazu, eine einfache Digitalknipse genügt.
       
       ## Ersehnte Schwangerschaften
       
       Sie las einen sehr körperbetonten Text, mit vielen Brüsten, ersehnten und
       beobachteten Schwangerschaften, noch mehr noch größeren Brüsten. Schamhaare
       kamen auch vor. Wobei: Als hätten sich abgesprochen, tauchten Schamhaare
       heute in vier von fünf Texten vorgestellten auf. So wie im vorigen Jahr
       ständig Tiere getötet wurden. Literarischer Trend Schamhaarliteratur.
       
       Die Jury war unbegeistert, Burkhard Spinnen, der Nadine Kegele eingeladen
       hatte, versäumte es sogar, den Text gescheit zu verteidigen und wollte ein
       „nicht-gut-gemacht“-Sein als dessen besondere Qualität herausstellen. Mein
       Favorit des heutigen Tages ist „Es bringen“ (Romanauszug) von Verena
       Güntner. Ich lasse mir für gewöhnlich nicht gerne vorlesen, wahrscheinlich,
       weil der Text gehört so viel länger dauert. Verena Güntner las – trotz
       männlichem Ich-Erzähler, sehr passend.
       
       Eine Pubertätsgeschichte, Rollenprosa aus der Sicht eines 16-jährigen. Luis
       ist ein Früchtchen, lebt in prekären Verhältnissen, hat eine Mutter mit
       schlechten Zähnen, die aber – angenehm überraschend – nicht an allem Schuld
       ist. Zu „Jugendsprache“ fällt ja immer das Stichwort „authentisch“, und
       irgendjemand merkt irgendwo an: So reden 16-Jährige nicht.
       
       Doch erstens: Wer will das wissen? Selbst wer Kinder hat, kennt nur Kinder
       in einem bestimmten (bei Über-Literatur-Sprechenden in der Regel
       bürgerlichen) Umfeld, und weiß nicht, wie sie reden, wenn keiner dabei ist.
       Und es will ja auch keiner ein Buch in einer Sprache schreiben, die morgen
       schon wieder von vorgestern ist. Also muss eine Jugendsprache simuliert
       werden, die ungefähr abbildet, wie ein 16-Jähriger aus der Siedlung reden
       und denken könnte.
       
       Die Juroren waren überwiegend überzeugt, nur Burkhard Spinnen putzte die
       Autorin mit dem Prädikat „Well made“ herunter – zwischen den Zeilen, jaja,
       ganz gut gemacht. Diese Jurysprache muss man auch erstmal verstehen, da ist
       „gut gemacht“ gleichbedeutend mit uninspiriert, und das vielleicht
       Schlimmste, was gesagt werden kann ist: „Ein wichtiges Thema“ oder „ein
       ehrenwerter Versuch“. Mit [3][//twitter.com/NadineKegele:@NadineKegele] und
       [4][//twitter.com/Anousch:@Anousch] traten heute die beiden aktiven
       Twitterinnen unter den Teilnehmern auf.
       
       ## Falcos Schloss
       
       Gewittert wird während der Lesungen sehr lebhaft unter dem Hashtag #tddl.
       Nachlesen vergangener Kommentare ist weniger empfehlenswert, da fehlt dann
       der Bezug, Gleichzeitig mitlesen und mitmachen schon eher. Für heute ist
       die Arbeit getan, das Strandbad hat geöffnet „bis Badeschluss“, was an
       jedem Tag neu festgelegt wird.
       
       Am Abend lädt der Bürgermeister ins Schlösschen Maria Loretta am See ein.
       Da soll ja mal Falco gewohnt haben, dann verfiel es eine Weile und ist
       jetzt die Traumlocation für Hochzeiten und Offizielles. Der ORF muss dafür
       gar nichts bezahlen, das Büffet zahlt die Stadt. Nach der völlig frei
       gehaltenen und unüblich deutlichen Rede von Vizebürgermeister Albert Gunzer
       am Vorabend – keine Gesprächsbereitschaft über Einstellung des Bewerbs –
       habe ich in diesem Jahr das Gefühl: Der freut sich richtig, wenn alle
       kommen.
       
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       Die Eröffnungsrede am Mittwochabend 
       
       „Ein bizarres UFO“, nannte Tex Rubinowitz die Veranstaltung einmal. Der
       Literaturbetrieb reist nach Klagenfurt und verschwindet wieder, spurlos,
       und ohne mehr als nötig von der Stadt und der Organisation mitzubekommen.
       Der Eröffnungsabend besteht aus Reden örtlicher Verantwortungsträger, denen
       kaum jemand zuhört, hat ja mit Literatur nicht viel zu tun, der
       „Klagenfurter Rede zur Literatur“ und der Auslosung der Lesereihenfolge.
       
       Der letzte Punkt ist für gewöhnlich der Spannendste, vor allem für die
       Autoren. Aber ausnahmsweise ist zwischen dem „Bewerb“ 2012 und heute etwas
       passiert, wovon das UFO da draußen Notiz genommen hat: Im November wurde
       ohne überzeugende Begründung ORF-Redakteurin Michaela Monschein nach 11
       Jahren als Organisatorin des Bachmannpreises [5][abgesetzt].
       
       Und vor knapp zwei Wochen verkündete ORF-Direktor Alexander Wrabetz, 2014
       werde das Landesstudio Kärnten den Bachmannpreis „ganz sicher nicht mehr
       durchführen.“ Feiern wir heuer (hier sagt man „heuer“) Bachmannpreis, als
       wäre es das letzte Mal? Sind dieses Jahr mehr Leute angereist? Im Studio
       sind ohnehin zur Eröffnung keine Plätze mehr frei, draußen im Garten wird
       übertragen. Da ist auch die Luft besser.
       
       Glaubt noch jemand ernsthaft, dass es im nächsten Jahr keinen Bachmannpreis
       mehr geben wird? „Dann kommen wir eben nur zum Wettschwimmen her“, sagt
       jemand. Wrabetz ruderte nach drei Tagen schon wieder zurück, so am 25. Juni
       auf [6][//twitter.com/wrabetz:Twitter]: „@wrabetz das letzte Wort ist noch
       nicht gesprochen! Wir werden alles tun um #Bachmannpreis fortzuführen. wir
       brauchen Unterstützung. Gespräche folgen.“
       
       ## Randgruppenveranstaltung
       
       Womöglich hat das miteinander zu tun, die Absetzung von Frau Monschein und
       die Drohung, diese Randgruppenveranstaltung abzuschaffen. Als Frau
       Monschein gehen musste, sickerte durch, der Bewerb solle ab 2014 „fetziger,
       poppiger, fernsehtauglicher werden“. Das wurde ja schon einmal vor fünf
       Jahren versucht.
       
       Dieter „Max“ Moor als Moderator, weniger Juroren, weniger Kandidaten, nur
       noch zwei Lesetage. Soweit ersichtlich, fand das niemand gut, am Ende auch
       Herr Moor nicht. Wird da erst Feuer gelegt, dann im letzten Moment gelöscht
       und aus den Ruinen irgendwas Anderes gebaut? In ihren Ansprachen beteuerten
       alle mehr (Vizebürgermeister Albert Gunzer) oder weniger
       (ORF/3sat-Redaktionsleiter Hubert Nowak) vehement, dass der Wettbewerb
       erhalten werden muss.
       
       Nachdem 2009 Josef Winkler in seiner „Klagenfurter Rede zur Literatur“ die
       versammelte Mannschaft an örtlichen Honoratioren (darunter die Witwe von
       Jörg Haider) herunterputzte, traut man sich nicht mehr, der Rede nur mit
       halbem Ohr zu folgen.
       
       Michael Köhlmeier, ein Autor, der – kein Quatsch – so ziemlich alles kann,
       „hätte“ ohne die aktuelle Debatte um den Bachmannpreis eine halbe Stunde
       über Jörg Fauser geredet, der 1984 hier vor allem von Marcel Reich-Ranicki
       sehr schmerzhaft abgesnobbt wurde („Sie gehören hier nicht hin“). Tat
       Köhlmeyer dann auch, in einer langen „hätte ich erzählt, dass“-Rede.
       
       ## Rede gegen die Abmurksung
       
       Da hätte er nun zu dem oder jenem Schluss kommen können: Fordern, dass das
       künftig unterbleibt, damit es nie mehr jemandem geht wie Jörg Fauser. Oder
       eben so: „Nach einer Nacht Nachdenken habe ich mich schließlich dazu
       durchgerungen, mich in den Schulterschluss … einzuklemmen, auch auf die
       Gefahr, meine Nase einem unangenehmen Achselgeruch auszusetzen. In der Not
       werden eben Opfer verlangt.“
       
       Er endete mit dem Aufruf, alles gegen die Abmurksung des Bewerbes zu tun –
       und dabei Jörg Fauser nicht zu vergessen. Womit wir bei den
       Nebendarstellern des Abends angekommen waren: Den Autorinnen und Autoren,
       laut Köhlmeier die „Sektgläser“ auf dieser Kritikerparty. Die saßen lange
       fast unbemerkt im Studio herum, bevor sie dann am Ende endlich ihr
       Leseplatzlos ziehen durften.
       
       Die Juroren durften wenigstens mit Klatschmarsch einziehen. Heute lesen ab
       10.15 Uhr Larissa Böhning, Joachim Meyerhoff, Nadine Kegele, Verena Güntner
       und Anousch Müller. Laut Statistik (danke, Kathrin Passig) gab es in der
       Geschichte nur vier Bachmannpreisträger, die schon am Donnerstag gelesen
       haben. Aber Kopf hoch: If you can make it here on Donnerstagmorgen, you'll
       make it anywhere.
       
       4 Jul 2013
       
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