# taz.de -- Faszinosum Dienstmädchen: Die Treue zur Dienstbotenromanze
       
       > Wie ein Geist spukt das verführte Dienstmädchen durch die europäische
       > Literatur. In einer Studie widmet sich Eva Esslinger dieser Romanfigur
       
 (IMG) Bild: Auch Sigmund Freud war fasziniert vom Dienstmädchen - sein eigenes ließ er auf der Holzbank schlafen, gleich neben dem Hund.
       
       Als der Fall Dominique Strauss-Kahn diskutiert wurde, erkannte die
       Literaturkritikerin Ina Hartwig im IWF-Chef einen der libertinären Helden
       des Marquis de Sade. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken wiederum
       fühlte sich durch die Berichterstattung über die Affäre Strauss-Kahn an
       Samuel Richardsons Erfolgsroman „Pamela“ von 1740 erinnert.
       
       Jetzt liegt eine außerordentlich gut zu lesende Dissertation vor, beide
       Thesen noch einmal zu diskutieren. Eva Esslingers
       literaturwissenschaftliche Studie „Das Dienstmädchen, die Familie und der
       Sex“ untersucht die Karriere einer europäischen Romanfigur: des verführten
       Dienstmädchens. Dabei ist, wie sie sagt, der Begriff der Verführung ein
       Euphemismus, es geht um sexuelle Gewalt.
       
       Esslinger will über die bloße Motivgeschichte hinaus einen „Beitrag zur
       Analyse der sichtbaren und unsichtbaren Abhängigkeitsbeziehungen, die für
       die Institution der europäischen bürgerlichen Familie in der Zeit von der
       Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts konstitutiv sind“,
       liefern. In ihren literarischen Analysen verfolgt sie daher auch ein
       diskursgeschichtliches Interesse.
       
       An der Figur des Dienstmädchens, das sich zugleich innerhalb wie außerhalb
       der Familienordnung bewegt, werden die Paradoxien, Abgrenzungsstrategien
       und damit, wie Esslinger schreibt, in gewisser Weise das „Unbewusste des
       Familiendiskurses“ analysierbar.
       
       ## Tragödie der Abhängigen
       
       Obwohl die Geschichte des Dienstmädchens bis in unsere heutige Zeit
       weitgehend als Tragödie erscheint, hat Samuel Richardson die Protagonistin
       für seinen frühempfindsamen Bestseller der Komödie entwendet.
       
       Dass also die Form des Briefromans unrein war, in der Richardson die
       Geschichte von Pamela erzählt, die sich den sexuellen Annäherungsversuchen
       – bis hin zur drohenden Vergewaltigung – durch ihren Arbeitgeber so
       erfolgreich widersetzt, dass sie ihn sogar zur Änderung seines Lebens
       bewegen und ihn schließlich heiraten kann, erregte den Unmut der
       sogenannten Antipamelisten nicht weniger als der ständewidrige Aufstieg der
       Kammerzofe zur Hausherrin.
       
       Die Pamelisten dagegen goutierten in der Mischform aus Romanze, Komödie,
       Eheschrift und häuslichem Ratgeber das Aroma einer modernen Literatur. Auch
       der Roman, den Richardson mit „Pamela“ als neues literarisches Genre
       mitbegründet, ist ein Aufsteiger wie seine Heldin selbst.
       
       ## Liebe: der Moment, in dem sich die Hierarchie offenbart
       
       Bedeutete Liebe für Niklas Luhmann in Hinblick auf „Pamela“ den Entschluss
       zu heiraten, übersieht er, so Eva Esslinger, dass Liebe dort als jener
       kardinale Moment in der Beziehung der Geschlechter beschrieben werde, „in
       dem die Frau sich schlagartig ihrer Niedrigkeit bewusst wird“. Aus der
       aufmüpfigen Kammerzofe, die ihre Sache zu vertreten weiß, wird eine
       unterwürfige Hausfrau, deren einziges Anliegen es ist, dem Gatten jeden
       noch so kleinen Wunsch zu erfüllen.
       
       War ihr hierarchisches Verhältnis vor der Ehe klassenspezifisch codiert –
       was, wie die Komödie wusste, Raum für Widerspenstigkeit bot –, verwandelt
       es sich nach der Heirat in den totalen Rangunterschied der Geschlechter.
       Pamela fügt sich „mit vollem Herzen in die Rolle der Dienerin, die sie
       faktisch schon war“.
       
       Dass die Idee vom sozialen Aufstieg eine trickreiche Angelegenheit ist,
       darüber klärt de Sade die Leser mit „Les infortunes de la vertu“ (1787) ein
       halbes Jahrhundert nach „Pamela“ auf. Bei de Sade haben Tugend und Unschuld
       keine Chance. Justine, die sich nach dem Tod der Eltern als Dienstmädchen
       verdingt, wird betrogen, beraubt und vergewaltigt, während ihre Schwester
       Juliette als Mätresse zu Reichtum und Rang gelangt.
       
       ## De Sades verstörende Umschrift von "Pamela"
       
       Dem Marquis gelingt eine der verstörendsten Umschriften von „Pamela“, weil
       man, wie Esslinger meint, sich des Verdachts nicht erwehren kann, dass
       vieles von dem, was er mit grausamer Lust ausmalt, bei Richardson schon in
       nuce angelegt sei. Und so gesehen „radikalisieren die Sade’schen Fantasien
       von Unterwerfung und Blutvergießen nur eine Tradition der Frauenfolter, die
       ihre Anfänge bei Richardson findet“.
       
       Mit Juliette, die ausgerechnet als Mätresse ein weitgehend selbstbestimmtes
       Leben führt, könnte man meinen, lege de Sade seinen Lesern zudem den
       Gedanken nahe, dass Heirat keine Option ist, dieser Folter zu entkommen.
       Darin muss ihn Eva Esslinger im Schlusskapitel „Von der Magd als Braut zur
       Gattin als Magd“ bestätigen.
       
       ## Elias Cantettis Roman "Die Blendung"
       
       Elias Canettis Roman „Die Blendung“, in dem die fiktive Ehe eines
       Privatiers mit der Haushälterin in ein groteskes Desaster führt, ist die
       Blaupause seiner realen Ehe. Allerdings wird nicht Canetti von seiner
       Ehefrau Veza, sondern umgekehrt sie von ihm mit einiger Tücke aus ihrem
       eigenen Leben, auch ihrem literarischen, gedrängt.
       
       Und konträr zur Haushälterin, die in der „Blendung“ den Gatten allmählich
       aus der Wohnung vertreibt, steht den Hausangestellten bei ihren
       bürgerlichen Dienstherren kaum je ein eigener Raum zur Verfügung.
       
       ## Sigmund Freuds Dienstmädchen schlief auf der Bank
       
       Sigmund Freuds Dienstmädchen Paula Fichtl etwa verbrachte ihre Nächte auf
       einer Holzbank im Durchgang zwischen Ordination, Behandlungsraum und
       Wartezimmer, dort, wo auch der Hund seinen Platz hatte. Aber Freud schiebt
       das Dienstmädchen nicht nur räumlich beiseite.
       
       Er marginalisiert es auch innerhalb der Familienordnung. Während im Alltag
       seiner Patienten und bei ihm selbst vielfach von Dienstmädchen als
       mütterlichen Ammen und erotischen Initiationsfiguren die Rede ist, führt er
       gegenläufig dazu alle sexuellen und affektiven Dynamiken auf die
       Vater-Mutter-Kind-Triade zurück.
       
       Mit Freud stößt Eva Esslinger von der literarischen Fallgeschichte, als die
       sie auch Gustave Flauberts Versuch analysiert, mit „Un coeur simple“ die
       Dienstmädchengeschichte in eine moderne Heiligenlegende zu transformieren,
       zur psychoanalytischen Fallgeschichte vor.
       
       Es ist tatsächlich ein überaus spannender Aspekt, in der Dissertation zu
       verfolgen, wie sich der jeweilige erzählerische Ansatz der Autoren, das
       Dienstmädchen ins Spiel zu bringen, in der Form niederschlägt, zu modernen
       literarischen Lösungen führt oder zum Rückgriff auf ältere Muster.
       
       ## Persiflage des ödipalen Dreiecks
       
       Die psychoanalytische Fallgeschichte des Dienstmädchens zeigt nun, dass Eva
       Esslinger zuverlässig darlegen kann, wie Freud das Dienstmädchen einfach
       nicht loswird. Immer wieder und gerne zur Unzeit spukt es in seinen Texten
       herum.
       
       Und hat er dann seine familiäre Triade endlich erfolgreich etabliert,
       schaut sie verdächtig nach der Dienstbotenromanze der populären Literatur
       aus, deren Schema „Magd verliebt sich in den Dienstherrn und träumt von der
       Ersetzung/Tötung der Herrin“ fast als Persiflage des ödipalen Dreiecks
       erscheint.
       
       ## Strauss-Kahn: ein Sade'scher Unhold?
       
       Dominique Strauss-Kahn mag ein Sade’scher Unhold sein. Aber Nafissatou
       Diallo, die Strauss-Kahn zu Fall brachte, ist weder unschuldig noch
       tugendhaft. Sie ist vor allem Teil der global care chain, die einer ganz
       anderen, politischen Narration bedürfte. Wenn die deutsche
       Medienberichterstattung stattdessen das Muster von Richardsons „Pamela“
       bedient, zeigt sich einmal mehr die in der Frauenfrage verspätete Nation.
       
       Deutschland bleibt der Dienstbotenromanze treu. Und unwillkürlich, obwohl
       von Esslinger gar nicht thematisiert, stellt man fest, dass drei der
       einflussreichsten Persönlichkeiten dieser Republik, Friede Springer, Liz
       Mohn und Ursula Piëch, zwar nicht als Dienst-, doch in vergleichbarer
       Situation als Kindermädchen und Sekretärin zu Macht und Reichtum kamen.
       
       Eva Esslinger: „Das Dienstmädchen, die Familie und der Sex. Zur Geschichte
       einer irregulären Beziehung in der europäischen Literatur“. Wilhelm Fink
       Verlag, München 2013. 391 Seiten, 39,90 Euro
       
       17 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Brigitte Werneburg
       
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