# taz.de -- Filmfestival in Cannes: Das Spiel mit der Sinnlichkeit
       
       > Die Goldenen Palmen sind verliehen. Zwei Dinge haben das Filmfestival
       > geprägt: die Neigung zur Tragikomödie und der Umstand, dass Geld eine
       > große Rolle spielt.
       
 (IMG) Bild: Siegerkuss in Cannes: „La vie d’Adèle. Chapître 1 & 2“ erzählt offen und freizügig die Liebesgeschichte zweier Frauen.
       
       CANNES taz | Blau, weiß, rot: Das sind nicht nur die französischen
       Nationalfarben, es sind auch die Farben, mit denen sich konservative
       Franzosen schmücken, wenn sie gegen die rechtliche Gleichstellung von
       Schwulen und Lesben marschieren. 150.000 Demonstranten zog es laut Polizei
       am Sonntag zur Kundgebung in die Nähe des Pariser Invalidendoms, viele
       schwenkten die Trikolore oder blaue, weiße oder rote Wimpel mit
       Mama-Papa-Kind-Piktogrammen. Die Demonstration verlief zunächst ohne
       Zwischenfälle, gegen Abend kam es zu Ausschreitungen.
       
       Zur selben Zeit, 900 Kilometer südöstlich von Paris, nimmt die Farbe Blau
       eine ganz andere Bedeutung an. „Le bleu est une couleur chaude“ („Blau ist
       eine warme Farbe“) lautet der Titel einer Graphic Novel von Julie Maroh,
       die dem Film, der die Goldene Palme der [1][66. Filmfestspiele von Cannes]
       erhält, als Vorlage dient. Der französisch-tunesische Regisseur Abdellatif
       Kechiche hat Morehs Buch als „[2][La vie d’Adèle]. Chapître 1 & 2“ fürs
       Kino adaptiert; offen und freizügig verhandelt sein Film das Coming of Age
       einer Schülerin in Lille, die sich in eine Kunststudentin verliebt.
       
       Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Darstellerin der
       Hauptfigur Adèle, Adèle Exarchopoulos, dem Film eine schier überbordende
       Sinnlichkeit schenkt. So gern schaut man ihr zu, dass man nach drei Stunden
       Laufzeit überrascht ist und fast wehmütig wird, wenn die Kamera Adèle von
       hinten filmt, während sie eine Straße heruntergeht, in die Tiefe des Bildes
       herein, und man ahnt, dass dies die letzte Einstellung ist.
       
       Abdellatif Kechiche ist ein Regisseur, der sich darauf versteht, sinnliche
       Momente in Szene zu setzen: wie Adèle Nudeln mit Tomatensugo isst, wie das
       Sonnenlicht ihre hellbraune Iris durchscheint, wie ihre Zunge ihre
       Schneidezähne umspielt, bevor sie Emma (Léa Seydoux) zum ersten Mal küsst.
       
       Oder auch, wie sie, an einer Auster kauend, das Muschelfleisch im Mund hin
       und her schiebt, bevor sie es mit Mühe schluckt. Das macht deutlich, dass
       sie an diese Art von Essen weder gewöhnt ist, noch Gefallen daran findet,
       an der Konsistenz nicht, am Geschmack nicht und schon gar nicht daran, dass
       eine Auster, beträufelt man sie mit Zitronensaft, noch zuckt, das heißt,
       noch lebendig ist, wenn man sie im Mund hat.
       
       ## Quintessenz der Lust
       
       Doch damit ist auch ein Problem des Films umrissen. Bisweilen geht Kechiche
       zu deutlich vor, zu didaktisch, etwa dann, wenn Emma erklärt, die Freiheit,
       sie selbst zu sein, habe sie durch die Lektüre von Sartres Texten entdeckt.
       Oder wenn der Schichtunterschied zwischen den beiden Liebenden – Adèle
       stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, Emma aus einer arrivierteren
       Familie – in zahlreichen Details betont wird.
       
       Die lange Sexszene, die während des Festivals für Furore sorgte, ist denn
       auch weniger deshalb problematisch, weil sie so zeigefreudig wäre, sondern
       weil sie bebildert, was ein schnöseliger Galerist in einer anderen Szene
       als Quintessenz weiblicher Lust beschreibt: dass sie maß- und uferlos sei
       und der weibliche Orgasmus mit dem männlichen nicht zu vergleichen sei.
       
       In solchen Momenten hat man den Eindruck, der Regisseur verfolge ein
       differenzfeministisches Programm, das sich, so man es zuspitzt und zu Ende
       denkt, von den Vorstellungen der konservativen Pariser Demonstranten gar
       nicht allzu sehr abhebt: Hier wie dort setzt man voraus, dass die
       Unterschiede zwischen Männern und Frauen naturgegeben seien.
       
       Die Jury, in diesem Jahr unter Vorsitz von Steven Spielberg, widmete die
       Goldene Palme denn auch nicht Kechiche allein; ausdrücklich erkannte sie
       die Leistung der beiden Schauspielerinnen Léa Seydoux und Adèle
       Exarchopoulos an; und die drei nahmen die Trophäe gemeinsam – und sichtlich
       gerührt – entgegen. Eine leichte Entscheidung war es sicher nicht, da sich
       in diesem Jahr besonders viele preiswürdige Filme im Wettbewerb des
       Festivals versammelten. Das Einzige, was fehlte, war ein Film, der die
       Grenzen des narrativen Kinos überwunden hätte, ein Solitär wie Leos Carax’
       „[3][Holy Motors]“ (2012) oder Apichatpong Weerasethakuls „[4][Uncle Bonmee
       Who Can Recall His Past Lives]“ (2010).
       
       ## Hohe Qualität
       
       Insgesamt aber war das Niveau erstaunlich hoch, angefangen bei Jia Zhangkes
       „Tian zhu ding“ („[5][A Touch of Sin]“), einer gewagten Mischung aus
       Realismus und Genrekino, die von der prekären Situation von vier Menschen
       im gegenwärtigen China handelt und die den Preis für das beste Drehbuch
       erhielt. Arnaud Desplechins Film „[6][Jimmy P. – Psychotherapy of a Plains
       Indian]“ ging leider leer aus, dabei war er so anrührend wie
       außergewöhnlich.
       
       Jenseits aller Psychiatriefilm-Klischees geht es darin um eine
       Psychotherapie in den USA der späten 40er Jahre; der Patient, ein
       indianischer Kriegsveteran, gespielt von Benicio Del Toro, und der
       Therapeut, ein Immigrant aus Rumänien und Überlebender des Holocaust
       (Mathieu Amalric), kurieren sich darin gegenseitig.
       
       Auch Arnaud des Pallières ging leer aus, obwohl seine Kleist-Adaption
       „Michael Kohlhaas“ – mit Mads Mikkelsen in der Rolle des rechtschaffenen
       Pferdehändlers – in ihrer Kargheit und ihrer Konzentration berückend war.
       Der Film schmiegt sich an Kleists zerhackte und zugleich dynamische Sätze
       an, indem er von Nahaufnahmen zu Totalen wechselt und Schnitte einsetzt wie
       der Schriftsteller die Kommata.
       
       Hirokazu Kore-Edas Film „Soshite chichi ni naru“ („[7][Like Father, like
       Son]“) erhielt verdient den Preis der Jury; der japanische Regisseur
       erforscht, wie Familienbande sich verheddern, als zwei Elternpaare
       entdecken, dass ihre fünf Jahre alten Söhne bei der Geburt vertauscht
       wurden. Die Frage, was mehr zählt, die biologische Herkunft oder die Liebe,
       die zwischen Eltern und Kindern gewachsen ist, treibt die Figuren um;
       Hirokazu Kore-Edas mise en scène ist makellos, seine erzählerische
       Anordnung vielleicht ein wenig zu schematisch: Es sind die Wohlhabenden,
       die erst lernen müssen, was es heißt zu lieben, während die ärmere Familie
       voller Herzlichkeit, Güte und Wärme ist.
       
       ## Die Güte von Fremden
       
       Die Brüder Joel und Ethan Coen steuerten „Inside Llewyn Davis“ bei, einen
       Film, der traurige und komische Momente souverän verbindet. Er spielt im
       New York der frühen 60er Jahre und konzentriert sich auf einen Folksänger,
       der erfolglos bleibt, weder Geld noch Wohnung hat und sich deshalb auf die
       Güte von Freunden und Fremden verlassen muss. Die wiederum stößt er vor den
       Kopf, wann immer er kann. Großartig sind die Szenen, in denen Llewyn Davis
       (Oscar Isaac) bei einer Autofahrt nach Chicago einem Musiker aus New
       Orleans begegnet, gespielt von John Goodman, der Llewyn verhöhnt und
       verspottet und zugleich irdischer Statthalter einer Voodoo-Gottheit zu sein
       scheint.
       
       Die Coens bekamen für „[8][Inside Llewyn Davis]“ am Sonntagabend verdient
       den Großen Preis der Jury. Ihr Film vereint zudem zwei Dinge, die dieses
       Festival prägten: zum einen die Neigung zur Tragikomödie, die sich auch in
       anderen Filmen – etwa in Valeria Bruni Tedeschis autobiografischer Fiktion
       „[9][Un château en Italie]“, Alexaner Paynes Familienfilm „[10][Nebraska]“
       oder Jim Jarmuschs wehmütiger Vampirgeschichte „[11][Only Lovers Left
       Alive]“ – bemerkbar machte, zum anderen den Umstand, dass Geld eine große
       Rolle spielt.
       
       Mal fließt es in Strömen und wird ostentativ verprasst wie in Baz Luhrmanns
       Eröffnungsfilm „[12][The Great Gatsby]“, mal war es in der Vergangenheit im
       Überfluss vorhanden, nun aber nicht mehr („Un château en Italie“), mal
       mangelt es an allen Ecken und Enden wie in Jia Zhangkes „Touch of Sin“ oder
       [13][Mahamat-Saleh Harouns „Grisgris“].
       
       Selten gab es filmübergreifend so viele Szenen, in denen Geld gezählt wird
       und Banknoten in die Kamera gerückt werden, und vielleicht ist das ein
       Krisensymptom. Wer Geld hat, muss bekanntlich nicht darüber sprechen. Wer
       keins hat, dem wird es zur Obsession.
       
       27 May 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.festival-cannes.fr/en.html
 (DIR) [2] http://www.kino-zeit.de/filme/trailer/la-vie-d-adele-chaptire-1-2
 (DIR) [3] http://www.youtube.com/watch?v=KoQfXOaQsqw
 (DIR) [4] http://www.youtube.com/watch?v=Jk-EoUb0nvg
 (DIR) [5] http://www.kino-zeit.de/filme/trailer/a-touch-of-sin
 (DIR) [6] http://www.guardian.co.uk/film/video/2013/may/23/jimmy-p-psychotherapy-trailer-video
 (DIR) [7] http://www.kino-zeit.de/filme/trailer/like-father-like-son
 (DIR) [8] http://www.youtube.com/watch?v=LFphYRyH7wc
 (DIR) [9] http://www.kino-zeit.de/filme/trailer/un-chateau-en-italie
 (DIR) [10] http://www.youtube.com/watch?v=gZ6Wgg4BGuo
 (DIR) [11] http://www.kino-zeit.de/filme/trailer/only-lovers-left-alive
 (DIR) [12] http://www.youtube.com/watch?v=rARN6agiW7o
 (DIR) [13] http://www.festival-cannes.fr/en/archives/ficheFilm/id/11409856.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cristina Nord
       
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