# taz.de -- Neoliberales London: „Wir müssen die Klassen abschaffen“
       
       > London, „Brutstätte und Multiplikator der Deregulierung“, könnte
       > Ausgangspunkt für eine neue Linke sein. Das hofft Doreen Massey,
       > kritisch-materialistische Stadtforscherin.
       
 (IMG) Bild: Herrschaft der Finanztürme: Im ökonomischen Sinne sei London eine paradigmatische Global City, sagt die Geographin Doreen Massey
       
       taz: Welches Image von London werden die Medien der Welt während der
       Olympischen Spiele präsentieren wollen? 
       
       Doreen Massey: Sie werden versuchen, London als wohlhabende, boomende und
       kulturell vielfältige Stadt zu präsentieren.
       
       So falsch ist das doch nicht. 
       
       Natürlich ist da auch was Wahres dran. Der Wahrheit am nächsten kommt, dass
       London im ökonomischen Sinne eine der paradigmatischen Global Cities ist.
       Es ist einer der Plätze, an denen die kapitalistische Globalisierung
       koordiniert wird. Und die besondere Rolle Londons ist die eines
       Finanzzentrums. Eine Rolle mit langer Geschichte, die aber in jüngerer
       Vergangenheit massiv expandierte, die internationaler und viel stärker
       explizit neoliberal geworden ist. Und die sowohl die metropolitane Ökonomie
       als auch das ganze Land immer mehr dominiert.
       
       Für Regionen außerhalb Londons und des Südostens wird es zunehmend
       schwieriger, wirtschaftlich zu bestehen, denn die City bestimmt die
       makroökonomische Politik. Das Scheitern des Nordens und der Erfolg der City
       hängen zusammen.
       
       Aber auch nicht alle Londoner profitieren, oder? 
       
       Die Dominanz der Finanzen mit ihren Auswirkungen auf Haus- und
       Grundstückspreise macht es kleineren Unternehmen fast unmöglich, in den
       Gegenden rund um die City zu überleben. Einer der Merkmale von Londons
       Wirtschaft war immer ihr Mix aus vielen kleinen Industrien, und deren
       Aussterben ist ein Ergebnis der Finanzaktivitäten und des
       Immobiliensektors. Aber überhaupt ist es schwierig, die soziale
       Reproduktion der Stadt durch die dafür notwendigen Arbeitskräfte
       aufrechtzuerhalten. Innerhalb Großbritanniens ist London die Stadt mit den
       größten sozialen Ungerechtheiten.
       
       In ihrem Buch „World City“ erklären sie, dass diese Entwicklungen ihre
       Wurzeln in den 1980er Jahren haben – als die Sozialdemokratie in die Krise
       geriet. 
       
       Ich denke, wir müssen erkennen, dass sie in Großbritannien wie auch
       generell in Europa in die Krise getrieben wurde, weil die Arbeiter zu viel
       verdienten, die Ideologie der Gleichheit tatsächlich damals sehr stark war
       und die Gewerkschaften sehr erfolgreich waren. Der Wohlfahrtsstaat hatte
       eine große Bedeutung. Und das Kapital konnte das nicht ertragen. Die
       Morgenröte der neoliberalen Periode war das Zurückschlagen von alter Elite
       und neuem Kapital, um die Initiative wiederzuergreifen und sich die Gewinne
       wieder zurückzuholen.
       
       Ein Vorgehen, das nicht reibungslos vonstatten ging. 
       
       Es fand ein Kampf zwischen sozialen Kräften statt, und es war nicht
       unausweichlich, dass der Neoliberalismus diesen Kampf gewinnen würde.
       Während der 80er Jahre war ich wie eine Menge anderer Linker im Greater
       London Council involviert. Das war ein echter Versuch, das Regieren von
       Städten anders zu denken – zum Vorteil der Bevölkerungsmehrheit. Wir
       wollten eine Art Alternativmodell zur Sozialdemokratie, denn wir hatten ja
       unsere eigene Kritik an einigen Aspekten des sozialdemokratischen
       Etatismus.
       
       Und was passierte? Es kam zu einem Kampf darum, welcher der Wege das Rennen
       machen würde. Interessant an der Situation in Großbritannien war, dass die
       nationale Labour Party dabei nichts zu sagen hatte. Die treibenden Kräfte
       waren außerparlamentarisch und konzentrierten sich oft rund um lokale
       Regierungen in den Städten. Wir hatten eine neue urbane Linke, die sich mit
       den streikenden Bergarbeitern zusammenschloss.
       
       Zwei doch sehr unterschiedliche linke Bewegungen an unterschiedlichen
       geographischen Orten. 
       
       Ja, und als Geographin habe ich mich natürlich damit auseinandergesetzt.
       Die Bergarbeiter hingen der in die Defensiove geratenen, alten Linken an
       und lebten in den heute strukturschwachen Regionen des Nordens und Westens.
       Aber die Leute vom Greater London Council reisten dorthin und bildeten
       Partnerschaften. Wir experimentierten, diese Dinge passierten so unheimlich
       schnell. Es gab den Versuch, über alle Gräben hinweg miteinander zu reden.
       Türkische Migranten und Schwule kamen in die Minenregionen, und die Leute
       dort setzten sich mit Menschen und Stimmen auseinander, die sie noch nie
       gehört hatten. Zu 99 Prozent war das eine positive Erfahrung.
       
       Die Geschichte der damals neuen urbanen Linken wird allerdings heute kaum
       noch überliefert. 
       
       Für Nicht-Linke steht der Greater London Council für all die Leute, die
       sagen: Nimm das Wort „Tafel“ (blackboard) nicht in den Mund, das ist
       rassistisch. Sie haben ihr Bestes getan in all den Jahren seit dem Ende des
       GLC, um das, was damals passierte, kontinuierlich schlecht zu machen, um
       dass Potenzial, dass der Erinnerung an diese Zeit innewohnt, auszulöschen.
       Und doch gibt es Verbindungen zwischen unseren Ideen und dem, was heute
       unter den Indignados oder bei Occupy diskutiert wird.
       
       Was waren denn überhaupt die Inhalte der neuen urbanen Linken im Greater
       London Council? 
       
       Wir versuchten, die Politik, Ökonomie und Kultur der Stadt neu zu
       überdenken; stärker von unten und breit gefächerter. Anstelle der großen
       Blöcke des Modernismus sollte eine Anerkennung von Differenz stehen, die
       auch dem Feminismus der 60er Jahre entsprang. Ich war zum Beispiel in einem
       Ausschuss, der eine ökonomische Strategie ausarbeitete. Wir wollten die
       Kontrolle durch die Arbeiter einführen, deren Rechte in den Fabriken
       verbessern, die Fabriken wieder flott machen, Genossenschaften ermöglichen.
       
       Angesichts des Niedergangs der verarbeitenden Industrie dachten wir aber
       auch darüber nach, was jenseits des Finanzsektors für Londons Wirtschaft
       künftig von Bedeutung sein könnte. Auch Hausarbeit war für uns ein
       Produktionssektor. Unsere Ökonomie ging von der Arbeit aus, die nötig war,
       um London für die Menschen lebenswert zu machen.
       
       Wann kam der Moment an dem Sie dachten, jetzt haben wir die Schlacht
       verloren? 
       
       Offensichtlich wurden wir von der rechten Presse gehasst; ein Indiz dafür,
       dass wir etwas richtig gemacht hatten. Aber dann verloren die Minenarbeiter
       ihren Streik. Und das Greater London Council wurde abgeschafft – ebenso wie
       andere englische Stadtregierungen. Während bedeutender historischer Momente
       realisiert man nicht, dass man in sie verstrickt ist, aber rückblickend
       lässt sich feststellen, dass die Periode der 80er Jahre ein Kampf darum
       war, welches London und, letzten Endes auch, welche Welt wir haben wollten.
       
       Aber warum sollten vergangene Kämpfe in London denn überhaupt eine Relevanz
       für den gesamten Globus besitzen? 
       
       London vielleicht noch mehr als New York oder andere US-Städte ist die
       Brutstätte für eine Ökonomie und Ideologie der Deregulierung,
       Privatisierung und des „allwissenden Marktes“ gewesen. Es hat eine Menge
       Anstrengungen unternommen, um zum nationalen wie globalen Multiplikator
       dieser Ideologie zu werden. Bei den Nachforschungen für mein Buch „World
       City“ verbrachte ich viel Zeit damit, die vom Finanzsektor und den von ihm
       abhängigen Branchen produzierten Papiere zu lesen. Sie pflegen zu sagen:
       Freie Märkte sind die besten, die Finanzen sind der Wachstumssektor der
       britischen Wirtschaft, ohne sie wären wir praktisch tot. Die Finanzen sind
       die goldene Gans.
       
       Eine Propaganda, die erfolgreich war. 
       
       Weil die neoliberale Ideologie zum common sense geworden ist. Wir bemerken
       ja nicht einmal mehr, dass wir sie denken: die Idee, den Markt nicht zu
       beeinträchtigen, Individualismus, Wettbewerbsfähigkeit. Ich würde sagen, so
       wird Hegemonie hergestellt. Ich kann nur für Großbritannien sprechen, aber
       sicherlich passiert das auch in anderen Ländern Europas: selbst die kleinen
       Leute werden materiell und ideologisch in den neoliberalen Diskurs
       hineingezogen. Deine Interessen werden in gewisser Weise mit denen des
       Kapitals auf eine Linie gebracht, denn nicht auf lange Sicht, sondern jetzt
       und sofort sorgst du dich darum, ob deine Hypothekenzinsen steigen oder
       dass Deine Pension verfallen könnte.
       
       Trotz der von ihnen gezeichneten Entwicklung, weisen Sie immer auch auf die
       verbleibenden, sozialdemokratischen Arrangements rund um den neoliberalen
       Raum der City hin. 
       
       Das ist meine Antwort auf Überdramatisierungen. Diese sind sehr lauten
       Stimmen aus den USA geschuldet. Und weil die Vereinigten Staaten eine so
       laute Stimme haben, wird diese hier oft kopiert ohne zu zutreffen. Noch
       haben wir einen nationalen Gesundheitsdienst, Überreste an Kollektivität
       und Solidarität, die innerhalb der Kultur der Vereinigten Staaten nicht in
       derselben Weise existieren. Manchmal driften die Leute in eine
       apokalyptische Sprache ab, die sagt: alles ist vorbei. Dem entgegne ich:
       seid vorsichtig, denn wir wollen doch verteidigen, was übrig geblieben ist
       und darauf aufbauen.
       
       Ausgerechnet die Labour Party war es, die entscheidend an der Etablierung
       der neoliberalen Hegemonie in Großbritannien mitwirkte. 
       
       Jeder wird zustimmen, dass New Labour unter Tony Blair sich komplett ans
       neoliberale Modell gebunden hatte. Stuart Hall vetritt die Auffassung, dass
       dies ein Neoliberalismus mit freundlichem Gesicht war, plus ein bisschen
       sozialdemokratische Umverteilung. Und er sagt, dass die Umverteilung selbst
       eine Reartikulierung des öffentlichen Sektors bedingt hatte, hin zu einem
       Denken wie in der Privatwirtschaft – als ein Teil der Herstellung von
       Hegemonie. Ich würde behaupten, Thatcher hat den Neoliberalismus hier
       etabliert, aber es war New Labour, das vermochte, die Arbeiterklasse, den
       Norden und Westen des Landes ideologisch zu indoktrinieren, genau aufgrund
       dessen, was es im öffentlichen Sektor unternahm.
       
       Die Indoktrinationen durch New Labour haben wohl so einige zentrale
       sozialdemokratische Begriffe aus der politischen Debatte verbannt. 
       
       Unter der traditionellen Sozialdemokratie wurde versucht, für die Rechte
       einer Gruppe, einer Klasse zu kämpfen. Aber heute reden sie nicht mehr über
       Gleichheit, sondern nur über Chanchengleichheit oder soziale Mobilität,
       über das individuelle Vermögen, dem eigenen sozialen Hintergrund zu
       entrinnen und in die Mittelklasse hochzuklettern. Doch was soll das mit der
       sozialen Mobilität? Das ändert nichts an den Strukturen? Was wir benötigen,
       ist zu allererst, die Klassen abzuschaffen. Unglücklicherweise fällt diese
       Entwicklung mit dem Aufstieg des Multikulturalismus insbesondere unter
       Liberalen zusammen.
       
       Was ist denn daran zu beklagen? 
       
       Mulitkulturalismus hat in vielen Dingen den Platz des Klassendiskurses
       eingenommen. Aber ich denke, beide sollten eine Allianz miteinander
       eingehen. Multikulturalismus wird oft genug auch von der Linken als etwas,
       über das man leicht reden kann, gesehen, weil es das eigene
       (Mittelklasse-)Dasein nicht in Frage stellt. Und Klasse wird als etwas
       Gestriges abgetan. Selbst die urbane Linke, die wir jetzt haben, fokussiert
       stark auf Migration.
       
       Oft wird die einheimische Arbeiterklasse ignoriert. Und die ist eben nicht
       nur weiß. Keine Klasse in diesem Land ist vermischter und stärker
       interethnisch integriert. Und natürlich ist es hierzulande das Kapital, das
       Migration möchte, weil es die Löhne der Arbeiterklasse niedrig halten will.
       Die Linke sollte nicht so tun, als ob das nicht der Fall sei. Wir haben uns
       schwierigen Fragen zu stellen, und manchmal verweigert sich die Linke
       diesen Fragen.
       
       Bleibt trotzdem das Problem des alltäglichen Rassismus auch in
       Großbritannien. 
       
       Doch können wir den Menschen nicht immer nur ihre Positionen vorwerfen.
       Wenn wir politisch erfolgreich sein wollen, müssen wir verstehen, wie es
       dazu kommt, dass sie so denken. Die Linke ist nicht gut darin. Wir sagen
       bloß: Oh, die sind rassistisch, die sind sexistisch. Die Bedingungen, unter
       denen sich solche Standpunkte ausbilden, verstehen wir nicht. Daher sind
       wir unfähig, ihnen, altmodisch gesprochen, ins Wort zu fallen, direkt mit
       den Leuten zu reden. Die rechte Presse ist dagegen sehr geschickt darin,
       sich an die Stelle armer Leute zu versetzen und zu sagen: Schaut, die
       Straße runter, da sind noch mehr arme Leute, und die leben von Euren
       Steuern.
       
       Sie spielen sehr effektiv verschiedene Gruppen armer Leute untereinander
       aus. Die Wut von Menschen aus der Arbeiterklasse, die sich gelegentlich
       Bahn bricht, kann ich verstehen, denn bis zu einem gewissen Grad werden sie
       von allen Seiten ignoriert, und von der Rechten dämonisiert. Und manchmal
       auch von der Linken, dafür dass sie rassistisch sind.
       
       In der Finanzkrise von 2007 und 2008 geriet die neoliberale Ideologie
       heftig ins Wanken. Warum nur vorübergehend, wie Sie sagen? 
       
       Ganz am Anfang gab es mal einen Moment, als jeder dachte: Hey, etwas sehr
       Grundlegendes könnte passieren. Die Menschen stellten Gier und
       Individualismus in Frage. Und dann verschwand der Moment wieder. Wenn man
       so will, schafften sie es, die Geschichte umzuerzählen. Es ist nun nicht
       mehr länger ein Problem der Banken, es ist eins der öffentlichen Ausgaben.
       Und wir dachten: Wie konnte das passieren. Aber sie haben sich darauf schon
       seit langem vorbereitet.
       
       Das ganze System implodierte und sie vermochten es dann, ihre ideologische
       Hegemonie wiederherzustellen. Weshalb ich mit Gramsci sage, dass wir im
       Moment eine ökonomische Krise haben, die die Vorbedingungen für einen
       größeren Wandel der Balance zwischen den sozialen Kräften ist. Doch solange
       wir keine ideologische und politische Krise haben, werden wir nicht zu
       grundlegenderen Fragen vorstoßen. Und das ist, denke ich, was wir im Moment
       hauptsächlich tun müssen: die Ideologie des Marktes herausfordern.
       
       Occupy hat das im vergangenen Herbst getan, als es sein Zeltlager vor den
       Stufen der St. Paul's-Kathedrale nahe den Banken der City aufschlug. 
       
       Ja, aber Occupy war sehr, sehr klein. Doch seine symbolische Präsenz und
       das Chaos, das es innerhalb der Kirche verursachte, waren bemerkenswert.
       Die Tatsache, dass Occupy fundamentale Fragen stellte, war wirklich
       beunruhigend für die Mächtigen. Mit der Ideologie des Neoliberalismus aufs
       Engste verbunden ist die Behauptung, dass es keine Alternative zu ihr gebe.
       Wir haben den Märkten zu gehorchen, Ökonomie ist keine Politik, sondern
       Wissenschaft. Und dann sagte Occupy: Gut, lasst uns einige fundamentalere
       Fragen stellen. Lasst uns doch sagen, dass es verschiedene Weisen gibt, die
       Dinge in Angriff zu nehmen. Deshalb musste man sich Occupy entledigen. Ich
       hielt mehrere Male Vorträge Universitätszelt und war auch an einer Gruppe
       unter dem Titel „Kartierung, Raum und Demokratie“ zum Thema der Beziehungen
       zwischen Raum und Demokratie beteiligt. Es gab dort einen Bienenstock
       voller Ideen. Occupy schaffte einen öffentlichen Raum, einen Ort, an dem
       Potenzial für die Entwicklung wirklicher Demokratie bestand. Es war
       unglaublich - und deshalb musste es weichen.
       
       Und jetzt ruhen ihre Hoffnungen mal wieder auf der Labour Party? 
       
       An die Labour Party hat man wohl immer zu viele Erwartungen! Es gibt
       natürlich auch Freunde von mir, die sich von ihr zu keinem Zeitpunkt
       irgendetwas von ihr erhofft haben. Doch ob man's mag oder nicht: Die Labour
       Party existiert, in der britischen Politik hat sie eine massive Präsenz.
       Und in gewisser Weise kann man ihr nicht aus dem Weg gehen. Selbst jene,
       die die repräsentative Demokratie ablehnen, wie einige der Leute rund um
       Occupy, finden sich selbst dabei wieder, verschiedentlich mit der Labour
       Party zu tun zu haben. Und das ist so, weil es in diesem Land keine linke
       Partei gibt; weder eine Syriza noch eine Linkspartei.
       
       Das liegt doch vor allem am Mehrheitswahlrecht in Großbritanniens. 
       
       Ja, und dennoch habe ich gegen eine Reform des Wahlsystems gestimmt. Ich
       möchte hier nicht eine Situation wie in Deutschland haben.
       
       Warum nicht? 
       
       Weil dort die FDP immer an der Macht ist. Von allen sind sie die
       Schlimmsten. Außerdem möchte ich eine richtige Opposition, ein starkes
       Pendeln der Macht zwischen den Parteien, richtige Politik; kein konstantes
       Oszillieren rund um die Mitte. Und ich denke, dass in der Labour Party im
       Moment wahrscheinlich mehr Potenzial steckt als in den deutschen
       Sozialdemokraten.
       
       Woran machen Sie das fest? 
       
       Ich finde Ed Milliband sehr, sehr interessant. Ich kenne ihn ein wenig, da
       er aus derselben intellektuellen linken Arena stammt. Und ich habe viel
       dafür übrig, dass er sich viel Zeit nimmt, um darüber nachzudenken, wie das
       neue Projekt aussehen könnte. Es ist nicht damit getan, mit sechs neuen
       Richtlinien daherzukommen. Ich denke, er möchte die Begriffe der Debatte
       ändern.
       
       Doch er sieht sich starken Zwängen innerhalb seiner Partei gegenüber. 
       
       Zu Beginn wurde er attackiert, weil jeder in der Partei zumeist die weiter
       rechts stehenden Kandidaten an der Spitze sehen wollte. Ed Balls und Ed
       Miliband aber repräsentierten den linken Flügel. Und Miliband ist weiter
       von Blair-Getreuen umgeben, pro-neoliberalen New Labour-Leuten, die ihn
       nicht das sein lassen wollen, was er gerne selber wäre. Dass kreiiert eine
       unangemehme Atmosphäre innerhalb der Partei. Gerade wegen dieser Stimmen
       sind die Schwierigkeiten, Labour auf substanzielle Weise zu bewegen, sehr
       groß. Für diese sorgen aber auch Teile des linken Flügels, die sagen, wir
       müssen nun mit den Liberaldemokraten sprechen. Ich bin nicht daran
       interessiert, mit den Liberaldemokraten zu reden.
       
       Aber so ließe sich eine Bresche in die recht wackelige konservativ-liberale
       Koalition schlagen, von der Großbritannien regiert wird. 
       
       Die Koalition hasse ich. Es ist wirklich dumm, dieses Wort politisch zu
       benutzen, aber ich hasse sie anders als ich einst Thatcher hasste. Und das
       hat was mit ihrer Klasse zu tun. All diese glatten Oberklasse-Jungs. Ich
       kam von der Sozialbausiedlung an die Universität in Oxford, und da lernte
       ich sie zu hassen. Das machte mich zur Sozialistin. Und nun regiert dieser
       Haufen wieder das Land. Thatcher musste die Arbeiterklasse gar nicht
       erreichen, in gewisser Weise konnte sie deren Stimme annehmen. Thatcher war
       eine sehr geübte Sprecherin und konnte an den Verstand der Leute
       appellieren.
       
       Schließlich kam sie aus einem Krämersladen. Dieser Haufen ist anders. Und
       Teil ihres Erfolgs ist es, dass sie damit irgendwie durchgekommen sind. Das
       derzeitige Ausmaß halbaristokratischer Herrschaft in diesem Land würde das
       18 und 19. Jahrhundert vor Scham erröten lassen. Aber darin liegt auch eine
       potenzielle Verletzlichkeit, denn am Ende wissen die derzeit Regierenden
       nicht wirklich, wie die Leute denken. Sie haben keine Ahnung, wie es ist,
       nach draußen zu gehen und einen Liter Milch zu kaufen. Und die Leute
       beginnen, ihre Inkompetenz an ihren Status als Oberklasse-Jungs zu heften.
       
       Wie sollte denn die Politik einer neuen urbanen Linken innerhalb dieses
       politischen Kontexts aussehen? 
       
       Gerade dreht sich eine Menge um das Recht auf Stadt und um urbane Kämpfe.
       In derselben Weise, wie mich die Überfokussierung auf Multikulturalismus
       besorgt macht, beunruhigt mich auch die übermäßige Konzentration auf
       Städte, nur weil wir uns gerade in ihnen befinden. Und auch eine Dominanz
       der Politik durch die großen Städte. Kann ja sein, dass dort die Dinge
       explodieren, in diesem Sinne ist es richtig, auf sie zu schauen. Aber es
       ist auch eine Form von Insularität und Selbstobsession, dass wir alle
       dorthin sehen, wo wir sind, anstatt nach außen gerichtet zu denken.
       
       Ich würde nicht die kleinen, furchtbar armen Städte im Norden vergessen
       wollen. Von London aus ist das praktisch ein anderer Planet. Auch sie haben
       Rechte und Bedürfnisse. Und es gibt ja auch noch ländliche Bewegungen. Man
       denke nur an die Zapatisten in Mexiko oder die Naxalisten in Indien. In
       Südamerika entspringen viele neue Ideen an Schnittstellen mit den indigenen
       Bevölkerungen ländlicher Gebiete ebenso wie mit den Indigenen, die in die
       Städte gekommen sind. Immer nehmen wir das Wort „urban“ in den Mund. Warum?
       Warum nicht „Gesellschaft“?
       
       1 Aug 2012
       
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 (DIR) Oliver Pohlisch
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       Betroffenen, meist jung, männlich und im Kapuzenpulli, fühlen sich unter
       Generalverdacht.
       
 (DIR) Olympische Marketingstrategie: „Die Bedrohung wird vorweggenommen“
       
       Checkpoints und Verteidigungszäune: Städte werden immer mehr in Green Zones
       verwandelt. Stadtforscher Stephen Graham über Olympia als Schaufenster der
       Sicherheitsindustrie.
       
 (DIR) Kolumne London Eye: Hilfe, Gespenster!
       
       Das Schlossgespenst Hui Buh ist in London angekommen. Überfüllte U-Bahnen
       und abgesperrte Straßen. Da bleiben die Londoner lieber zu Hause oder
       flüchten ganz aus der Stadt.
       
 (DIR) Fahrraddemo gegen Olympia in London: Tränengas für die Kritiker
       
       Fahrraddemonstranten protestieren gegen Olympia und werden festgenommen.
       Nun erhalten sie Hilfe von der Chefin von „Liberty“, die bei der Eröffnung
       die Olympiafahne trug.
       
 (DIR) Olympische Regatten an Englands Südküste: An der schrägen Insel
       
       Der Austragungsort der olympischen Segelwettbewerbe zwischen Weymouth und
       Portland ist ein fast vergessenes, geheimnisvolles Kuriosum. Wird er nun
       wach geküsst?
       
 (DIR) Großkonzerne bei Olympia: „Gesund, nachhaltig, zertifiziert“
       
       Es sollen die grünsten Spiele der Geschichte sein: Unter den Hauptsponsoren
       sind umstrittene Großkonzerne wie McDonald's, Coca-Cola, BP und Dow
       Chemicals.