# taz.de -- Der lange Weg zur Einbürgerung: Endlich deutsch
       
       > Nationalstolze Sachbearbeiterinnen, viel Kaffee und Erziehungstipps:
       > zwölf Monate Ämtermarathon auf dem Weg zum deutschen Pass.
       
 (IMG) Bild: Das Objekt der Begierde: die Einbürgerungsurkunde der Bundesrepublik Deutschland.
       
       Schwarz, Rot, Gold sind die Farben auf dem fusseligen Schweißband am
       Armgelenk meiner Sachbearbeiterin. Es ist November, 8.30 Uhr, keine
       WM-Saison, und es die letzte Sachbearbeiterin, die ich passieren muss, um
       an mein Ziel zu gelangen. Ich sitze nervös auf dem grauen Polsterstuhl des
       Bürgeramts Berlin-Neukölln.
       
       Sie blättert mit Acrylfingernägeln durch meine Papiere, begutachtet das
       biometrische Foto, das hoffentlich bald meinen ersten deutschen Perso
       zieren wird. Dann wirft sie mir einen strengen Blick zu, ich grinse brav
       zurück. „Auf dem Foto sehen Sie zehn Jahre jünger aus, das geht nicht.
       Machen Sie ein neues und kommen Sie morgen wieder.“
       
       Morgen wiederkommen, das heißt: eine Wartenummer ziehen. Das heißt: um 7.15
       Uhr schon anstehen, um überhaupt eine Wartenummer ziehen zu können, die
       nicht erst am Nachmittag aufgerufen wird. Das heißt: mit Vordränglern
       streiten, die alle natürlich ganz eilig zur Arbeit müssen.
       
       Aber gut, sei’s drum. Nach dem zwölfmonatigen Ämtermarathon, den ich hinter
       mir habe, wird mich nichts mehr aufhalten können. Keine nationalstolze
       Sachbearbeiterin und kein türkischer Fotograf, dem ich tausendmal gesagt
       habe, dass er mein Gesicht bitte nicht retuschieren soll.
       
       Ich kriege das hin. Ich werde jetzt deutsch.
       
       ## Die Schulhofmuslimin
       
       Gern würde ich behaupten, dass mir meine Nationalität immer egal war, dass
       es keine Rolle spielte. Aber leider war es nie so. In dem badischen Dorf,
       in dem ich geboren und aufgewachsen bin, wurde ich von
       Supermarktangestellten auf Schritt und Tritt verfolgt.
       
       Die Kinder im Turnverein fragten mich, warum ich überall Haare hatte, und
       aus unerklärlichen Gründen hatte ich jedes Mal Tränen in den Augen, wenn
       neue Lehrer an der Grundschule wissen wollten, wo meine Eltern denn
       herkämen.
       
       Später auf dem Gymnasium, das sich in einer benachbarten Stadt befand, war
       ich dann nicht mehr die einzige Kanakin. Fast alle meine neuen Freunde
       kamen aus der ehemaligen Sowjetunion. Nichtdeutschsein war plötzlich cool.
       
       Und ich hatte noch nicht mal einen deutschen Ausweis = obercool. Jeder
       Lehrerin, die mich wegen Schwänzen oder Rauchen oder „Unverschämtsein“
       nachsitzen ließ, warf ich fortan Rassismus vor. Jede Mitschülerin, die mir
       keine Zigarette gab, nannte ich „Scheißkartoffel“. Und dann kam auch noch
       9/11, und ich war die gefährliche Schulhofmuslimin, voll Gangsta.
       
       ## Zum Waschmaschinenkauf ins Rathaus
       
       Natürlich wären all diese Dinge nicht anders gewesen, wenn meine Eltern
       sich und mich frühzeitig hätten einbürgern lassen (außer dem
       „Obercool“-Bonus unter den Spätaussiedlern natürlich). Wer in der
       süddeutschen Provinz Fatma heißt, fällt auf, da macht keiner eine
       Passkontrolle.
       
       Aber mit dem Erwachsenwerden und dem Umzug in diverse Großstädte, als es
       mir zunehmend leichter fiel, nicht mehr so identitär zu denken, kamen
       andere, pragmatischere Probleme hinzu. Für jeden Handyvertrag und jede
       Waschmaschine auf Ratenzahlung musste ich zum Rathaus rennen, um eine
       aktuelle Meldebescheinigung zu beantragen.
       
       Während des Studiums kam ich für kaum ein Stipendienprogramm infrage, weil
       sich die Mehrzahl nur an deutsche Staats- oder EU-BürgerInnen richtete. Und
       als ich zum ersten Mal nach Ägypten flog, eines der wenigen Länder, für die
       ich kein Visum brauchte, wurde ich aus Kairo direkt mit dem nächsten
       Flugzeug zurückgeschickt, weil Erdoğan am Tag zuvor die Übergangsregierung
       kritisiert hatte.
       
       Erdoğan. Was zum Teufel hat Erdoğan mit mir zu tun? Eine ganze Menge,
       lernte ich. Zumindest, solange ich den Halbmond auf meinem Reisedokument
       trug.
       
       ## Schulabschluss statt Einbürgerungstest
       
       Wäre ich vierzehn Jahre später geboren, könnte ich mir den ganzen Stress
       mit dem Einbürgerungsverfahren sparen. Denn erst seit dem Jahr 2000 gelten
       in Deutschland geborene Kinder als deutsch und erwerben direkt die
       Staatsangehörigkeit – vorausgesetzt, eines der Elternteile lebt seit
       mindestens acht Jahren rechtmäßig in Deutschland und besitzt einen
       unbefristeten Aufenthaltstitel.
       
       Alle anderen müssen die Einbürgerung beantragen und dafür einige
       Bedingungen erfüllen: keine Verurteilung wegen einer Straftat,
       eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts, bestandener
       Einbürgerungstest.
       
       Letzteres konnte ich immerhin umgehen, weil ich einen deutschen
       Schulabschluss habe. Ich musste nicht konfuse Fragen beantworten wie:
       „Welche Lebensform ist in Deutschland nicht erlaubt?“ (Die Antwort lautet:
       „d – Ein Mann ist mit zwei Frauen zur selben Zeit verheiratet“.)
       
       Doch hatte ich einen unbefristeten Arbeitsvertrag vorzulegen und über den
       gesamten Prozess hinweg, also zwölf Monate lang, immer wieder zu beweisen,
       dass ich keine Sozialleistungen beziehe. Und ich musste meine türkische
       Staatsbürgerschaft aufgeben – für das Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft
       bin ich vier Jahre zu früh geboren.
       
       ## Wie ein Brieftaube
       
       Emotional gesehen stellte das kein Problem dar, im Gegenteil: Seit der
       Sache in Kairo wollte ich den Halbmond sowieso schnellstens loswerden. Aber
       auf dem Türkischen Generalkonsulat stellte ich fest, dass dies der
       anstrengendste Part war. Denn für alle Angelegenheiten kann man Termine
       vereinbaren, nur wer sich ausbürgern lassen will, muss eine Wartenummer
       ziehen. Und mit einem einzigen Termin ist die Ausbürgerung nicht getan.
       
       In jeder Phase des Prozesses braucht das Bürgeramt eine Bestätigung vom
       Konsulat und das Konsulat eine Bestätigung vom Bürgeramt – jeweils als
       beglaubigte Übersetzung in der eigenen Amtssprache. Also zog ich Nummern
       und wartete, wartete und wartete, mal im Bürgeramt, mal im Konsulat.
       
       Ich trank Automatenkaffee, zahlte Gebühren, schrieb Artikel auf meinem
       iPhone (den unbefristeten Arbeitsvertrag durfte ich ja nicht aufs Spiel
       setzen) und flog wie eine Brieftaube hin und her, zwischen Westend und
       Südneukölln, mit kurzen Zwischenstopps bei einem bekifften Übersetzer in
       Kreuzberg.
       
       Irgendwann war es dann so weit. Ich bekam einen Brief. Nachdem mein alter
       Pass ungültig gestempelt wurde und Miss Deutschland mein neues Foto mit den
       authentischen Augenringen durchgewinkt hatte, wurde ich zur
       Einbürgerungszeremonie ins Rathaus Neukölln eingeladen.
       
       ## Wer heiratet denn hier?
       
       Ein letztes Mal sollte ich meine aktuelle Verdienstabrechnung mitbringen –
       und außerdem das „feierliche Bekenntnis“ auswendig lernen, das auf einem
       separaten Merkblatt stand.
       
       Kurz vor zwei steige ich eilig aus der U7 und ströme mit einer
       herausgeputzten Hochzeitsgesellschaft ins Rathaus. Im Plenarsaal bemerke
       ich dann, dass es sich bei den Männern in Anzügen und Frauen mit
       Hochsteckfrisuren um die fünfzig Neubürger und deren Angehörige handelt.
       
       Alle zwei Wochen findet hier eine solche Zeremonie statt, rund 1.000
       Menschen werden in Neukölln jährlich eingebürgert. Doch für jeden einzelnen
       scheint es etwas Besonderes zu sein. Fast jeden. Ich entdecke ein einsames
       Mädchen, das so gar nicht feierlich aussieht, und setze mich neben sie. Die
       Zeremonie beginnt mit klassischer Musik. Wir rollen mit den Augen.
       
       Das Trio spielt ein „Potpourri“ aus den Nationalhymnen aller 19 Länder,
       deren Pässe die Anwesenden hier gerade aufgeben. Die türkische kommt als
       letzte, ich höre irgendwen mitsingen.
       
       ## Amtliche Erziehungsratschläge
       
       Als später das deutsche Vaterland gemeinsam besungen werden soll, bewegen
       sich nur die Lippen der Beamten. Aber was soll‚s. Wenn Mesut Özil vor dem
       Anpfiff eines jeden Länderspiels schweigt, juckt es in der Regel ja auch
       keinen.
       
       Es folgt eine Rede, in der es um Demokratie geht, um Wahlrecht und um
       soziales Engagement. Irgendwann beginnt der Herr am Pult Erziehungstipps zu
       geben: „Ich sehe viele Kinder in diesem Raum, die später viel Gutes für
       unsere Gesellschaft tun können. Man muss sie nur entsprechend fördern.
       Bitte setzen Sie die Kleinen nicht den ganzen Tag vor den Fernseher. Lesen
       Sie ihnen regelmäßig etwas vor, besuchen Sie gemeinsam den
       Weihnachtsmarkt.“
       
       Das Mädchen neben mir gähnt. Ein Kleinkind fängt an zu schreien. Ich
       bereite mich innerlich darauf vor, dass der Redner gleich noch ein paar
       Gedanken zur Mülltrennung in Deutschland loswerden will. Er erspart es uns
       zum Glück. Wir werden nacheinander aufgerufen, um unsere Urkunden
       abzuholen.
       
       „Ich will diesen Satz nicht vor allen sagen. Voll peinlich!“, flüstert
       meine 16-jährige Banknachbarin mit leicht errötetem Gesicht. Ich stimme ihr
       zu, aber da müssen wir wohl durch. Und zwar ich direkt am Anfang wegen der
       alphabetischen Reihenfolge. Ich gehe nach vorne, nehme das Mikrofon und
       fühle mich ein bisschen komisch.
       
       „Ich erkläre feierlich, dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der
       Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr
       schaden könnte.“
       
       Das Publikum klatscht, ich erwidere zwei feste Händedrücke. Dann bekomme
       ich eine Mappe mit imprägniertem goldenen Adler. Das war es also. Ich bin
       ein Jahr älter, rund 400 Euro ärmer und endlich deutsch.
       
       13 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fatma Aydemir
       
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