# taz.de -- Tunesiens Südwesten: Mit Joghurt gegen Terrorismus
       
       > In Sidi Bouzid löste die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi die
       > Jasminrevolution aus. Eine Reise ins südtunesische Hinterland.
       
 (IMG) Bild: Jugendliche in der Landwirtschaft, doch auch diese liegt in der einst fruchtbaren Region darnieder.
       
       „Mach mich glücklich.“ Ein Satz, den Besucher aus den Nachbarländern
       Tunesiens fürchten. Aber auch tunesische Autofahrer müssen die Bitte der
       Verkehrspolizisten mit einem 10-Dinar-Schein erwidern, umgerechnet 5 Euro,
       um trotz angeblicher Geschwindigkeitsüberschreitung weiterfahren zu dürfen.
       
       „Es ist der absolute Werteverfall, der unsere Gesellschaft bedroht“,
       schimpft der Tankwart und wirft den Polizisten auf der anderen Straßenseite
       einen abschätzigen Blick zu. „Vor deren Korruption habe ich noch mehr Angst
       als vor den Extremisten.“
       
       Je weiter man sich von der Hauptstadt in den Südwesten, Tunesiens
       Armenhaus, begibt, desto heruntergekommener werden die Dörfer. Gelangweilte
       Jugendliche schlagen in Cafés die Zeit tot, auch die Polizeikontrollen
       werden seltener. Der tunesische Staat ließe sich hier schon lange nicht
       mehr blicken, sagt der Tankwart in Kairouan. Dann zeigt er auf die Baukräne
       an einem Moschee-Neubau und schimpft: „Mit Geld aus Saudi-Arabien.“
       
       Vor Sidi Bouzid solle man bloß nicht mehr anhalten, rät sein Kollege. 60
       Kilometer weiter stehen maskierte Männer auf der Straße. Es ist eine
       Spezialeinheit der Polizei aus dem Küstenort Sfax, die die Landstraße
       sichern soll. Während ein schwer bewaffneter Trupp einen aus dem Feldweg
       zur Linken kommenden Mofafahrer martialisch stoppt, verlangen ihre Kollegen
       die Papiere der Autofahrer. Ihre Mienen verraten, dass die Lage ernst ist:
       In den Mghila-Bergen hinter den Feldern haben militante Gruppen die
       Kontrolle übernommen und kommen nachts bis an die Straße, warnt ein Soldat.
       
       ## Eine grausige Tat
       
       Bis Sidi Bouzid, dem Geburtsort des Arabischen Frühlings, sind es nur noch
       wenige Kilometer. Doch fünf Jahre nach dem Sturz Ben Alis berichten
       tunesische Medien über das Dorf Daouar Slatniya. Dort oben am Hügel war
       Ende November ein 16-jähriger Hirte von Anhängern des „Islamischen Staates“
       umgebracht worden. Mabrouk Soltani hatten die Vermummten der „Jund
       al-Chilafa“-Gruppe schon Wochen zuvor zwischen Schafen auf einer Anhöhe
       entdeckt. Sie unterstellten ihm, ein Informant der Polizei zu sein. „Wenn
       wir dich hier noch einmal sehen, bringen wir dich um.“
       
       Unter Tränen berichtet sein Cousin in einem Café über das zweite Treffen
       mit den Unbekannten. Nachdem sie ein Geständnis mit der Videokamera
       aufnahmen, enthaupteten sie Mabrouk und befahlen seinem Cousin, den Kopf in
       einer Plastiktüte nach Hause zu bringen. Das Video stellten die Männer auf
       Facebook. Es dauerte einen Tag, bis sich die ersten Sicherheitskräfte
       blicken ließen.
       
       Auch jetzt wirkt die Handvoll Soldaten an dem Kontrollpunkt vor der sanften
       Hügelkette verloren, die den Milizen Schutz bis zur 80 Kilometer entfernten
       algerischen Grenze bietet. Vor dem Haus seiner Eltern sitzt der Cousin von
       Mabrouk und starrt vor sich hin. „Die Felder und Berge in der Umgebung sind
       das Einzige, was wir haben, jetzt traut sich kaum noch jemand, allein
       Wasser zu holen.“
       
       Die einzige große Investition der tunesischen Regierung waren wohl die rund
       1.500 Euro Entschädigung, die den Angehörigen Mabrouks gezahlt wurde. Die
       Straßencafés sind voll mit jungen Männern, in deren Gesichtern
       Hoffnungslosigkeit steht. „Wir haben Angst vor der Polizei und seit
       Mabrouks Tod vor den Extremisten, die wir aus der Schule kennen“, sagt
       Mabrouks Bruder.
       
       ## Korrupte Polizisten
       
       Auf der Hauptstraße der 35.000-Einwohner-Stadt Sidi Bouzid stauen sich die
       Autos. Vor der Polizeistation stehen blauweiße Mannschaftstransporter mit
       vergitterten Scheiben. Ein Beamter beobachtet betont lässig die Passanten,
       die Stimmung ist gelassen. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Auf der
       gegenüberliegenden Häuserwand erinnert ein Plakat von Mohamed Bouazizi an
       den 17. Dezember 2010. Der Student hatte sich hier mit Benzin übergossen
       und angezündet. Als er Wochen später an seinen Verletzungen im Krankenhaus
       starb, erschütterten die Straßenproteste die arabische Welt.
       
       Nun scheint er auf den Polizisten auf der anderen Straßenseite
       herabzuschauen. „Es war die Willkür der Beamten, die Bouazizi zur
       Verzweiflung trieb“, sagt Houssam Shugar. Der 28-Jährige leitet das
       Lokalbüro der Organisation Sanad gegen Folter. „Ich erinnere noch genau,
       wie er von der Tankstelle um die Ecke mit einem Kanister in der Hand ging.
       Ich dachte, er würde den Tank seines Mofas auffüllen, mit dem er Gemüse auf
       dem Markt brachte.“
       
       Zuvor hatte man ihm offizielle Papiere zur Arbeit auf dem Markt verweigert.
       Er verkaufte trotzdem weiter, die Polizisten wussten seinen illegalen
       Status für sich selbst zu nutzen, jeden Morgen wanderten paar Dinare in
       deren Taschen.
       
       Dass ausgerechnet eine Frau in Uniform ihn demütigte, sorgt in den
       Männerrunden der heruntergekommenden Straßencafés noch immer für Empörung.
       Houssam steht vor dem Denkmal für den Helden der Jasminrevolution – ein
       Gemüsekarren aus Beton. „Dass die Behörden die Bürger, die sich spontan vor
       der Wache versammelt hatten, mit Tränengas verjagten, war der eigentliche
       Anlass für das Lauffeuer, das danach durch Tunesien ging.“
       
       ## Die Straße ähnelt einer Müllkippe
       
       An der wirtschaftlichen Misere im Südwesten Tunesiens hat sich seither
       wenig geändert. Geld, Investitionen und Jobs bieten die Touristenorte an
       der Küste und das 400 Kilometer entfernte Tunis.
       
       Nicht geteerte Dorfstraßen, die man eher in Zentralafrika vermutet, führen
       zum Büro von Houssams Vater. Als Gerichtsvollzieher hat es Mohamed Rabhi zu
       einem bescheidenen Wohlstand gebracht. Doch die Straße vor dem kleinen Haus
       mit Garten im Stadtteil Moli ähnelt einer Müllkippe. Katzen und Hunde
       suchen zwischen Plastikflaschen und Abfall nach Verwertbarem.
       
       „Der einzige Grund dafür, dass es noch keinen zweiten Aufstand gegeben hat,
       ist die Anwesenheit der Terrorgruppen in den Wäldern und Bergen. Wir Bürger
       und Aktivisten sind gefangen in dem Konflikt zwischen Polizei, Armee und
       dem ‚Islamischen Staat‚ oder denen, die sich dafür ausgeben.“
       
       Houssam spricht nicht gern über den Job seines Vaters, denn viele können
       ihre Schulden nicht zurückzahlen. Sein Engagement gegen Folter macht ihn
       zum Sprecher der vielen jungen Männer, die den Staat nur in Form von
       Polizeiwillkür kennen.
       
       Heute nimmt er den Fall von Mohamed Aissi zu Protokoll, der an einem
       Kontrollpunkt festgenommen und auf der Wache geschlagen wurde. Der
       55-jährige Arbeiter geriet mit den Uniformierten in Streit. Dass er kein
       Geld habe, um sich freizukaufen, nahmen sie ihm nicht ab, sagt er.
       
       ## Hier werben Islamisten Netzwerke
       
       Viel mehr, als Mohameds Fall zu Protokoll zu nehmen, bleibt dem Aktivisten
       nicht. Geld für ein Büro oder Rechtsanwälte haben sie nicht. „Auch die
       Aktivisten sind in den letzten Jahren nach Tunis abgewandert, dort hoffen
       viele neben Jobs auch noch auf Kultur und persönliche Freiheiten. Die
       Musiker der einzigen Band aus Sidi Bouzid sind letzte Woche nach Tunis
       gezogen“, sagt Houssam.
       
       Neben der Flucht nach Tunis oder weiter nach Europa hat der Krieg im
       benachbarten Libyen eine weitere Option ermöglicht: das Leben im
       bewaffneten Widerstand in den Bergen. Der Weg dorthin führt meist über
       Kairouan, der Stadt der Moscheen. Hier werben Islamisten-Netzwerke, mit
       Geld aus den Golfstaaten und Waffen aus Libyen versorgt, um die
       Perspektivlosen.
       
       Seifedine Rezugui, der am 30. Oktober am Strand von Sousse mehr als 38
       Touristen erschoss, wurde in einer Hinterhofmoschee in wenigen Wochen
       radikalisiert und wütete in dem Hotel, in dem er zuvor als Animateur
       gearbeitet hatte. Es ist jedoch nur eine kleine Minderheit, die ihre Wut
       auf Polizei und die Elite in Tunis zu den Extremisten treibt, gibt Houssam
       Rabhi zu bedenken.
       
       Die vielen Kanister entlang der Landstraßen im Süden zeigen, wie sehr sich
       die Schmuggelwirtschaft weiter vom Schmugglernest Ben Guardene an der
       libyschen Grenze nach Norden frisst. Das im Nachbarland subventionierte
       Benzin – 1 Liter kostet rund 10 Cent – wird mittlerweile sogar in den
       Touristenorten Sousse oder Sbeitla am Straßenrand verkauft. Anstatt zu
       investieren, ziehe sich der Staat immer weiter zurück, sagt Aktivist Rabhi.
       
       Das aggressive Verhalten der Polizei zeige doch nur, wie sehr sich die
       Männer auf verlorenem Posten fühlen, glaubt auch Ramzi Omri. Wie Hussam
       Rabhi hat sich der Softwarespezialist entschlossen, in Sidi Bouzid zu
       bleiben. Der schmale 28-Jährige steht mit einer weißen Schutzhaube und
       einem Kittel im Kontrollraum von „Delice“. Die Jogurt- und Milchfabrik
       steht oberhalb der 50.000-Einwohner- Stadt inmitten von Olivenhainen und
       den ertragreichen rotbraunen Feldern, die die Gegend einst zur Kornkammer
       des Römischen Reiches machten.
       
       ## Über Politik wird nicht gesprochen
       
       Die verbreitete Milchwirtschaft lockte drei Investoren aus Tunis an, die
       mit der „Delice“-Fabrik die größte private Investition Südwesttunesiens
       wagten. Ramzi Omri zeigt stolz die von ihm programmierte App, mit der sich
       die zwei Hektar große Anlage bequem von der ganzen Welt aus steuern lässt.
       
       „Hätten wir eine bessere Infrastruktur, bessere Straßen und mehr
       Sicherheit, würden sich aufgrund der billigen Löhne und der ertragreichen
       Landwirtschaft mehr Betriebe ansiedeln“, glaubt Omri.
       
       Die Gefahr der Gruppen in den Bergen halten viele der 100 Arbeiter bei
       „Delice“ für übertrieben. „Die Terrorgefahr ist für die Politik und Polizei
       eine Ausrede, den nötigen Reformprozess zu verzögern“, sagt auch Ramzi. Die
       Inhaber der Fabrik seien die Einzigen von der Elite in Tunis, die sich für
       den armen Südwesten interessieren. „Dabei bekämpfen wir mit Joghurt den
       Terrorismus, indem wir Perspektiven schaffen“, sagt Ramzi und lacht.
       
       Mit Fragen über Politik braucht man in Sidi Bouzid niemandem zu kommen.
       Selbst Sirnajmeddine Abbassi winkt hämisch ab. Der lokale Nidaa-
       Tounis-Vertreter hat die Ränkespiele in der ehemaligen Regierungspartei
       satt. Auch der 45-Jährige glaubt, dass nur ein wirtschaftliches
       Investitionsprogramm die Jugend davon abhalten wird, sich in die Berge,
       nach Syrien oder Europa abzusetzen. Doch anders als zu römischen Zeiten sei
       mit Landwirtschaft eben kHier werben Islamisten Netzwerkeein schnelles Geld
       zu verdienen, sagt er. Und man braucht viel Geld, um die Felder zu
       bewirtschaften. Daher gehören viele Flächen jetzt Großgrundbesitzern von
       der Küste, die vor allem für ihre Hotels günstige Lebensmittel benötigten.
       
       „Wenn wir stärker nach Libyen oder Europa exportieren könnten und wenn in
       Libyen Ruhe einkehren würde, kann man die jungen Leute von den Schmugglern
       und Extremisten fernhalten“, klagt der Familienvater, der überlegt, eine
       eigene Partei zu gründen.
       
       Gemeinsam mit Houssem Rabhi dokumentiert er Fälle von Polizeigewalt. Letzte
       Nacht gab es im Dorf Zaafria eine Razzia. Die Aktivisten fahren an
       idyllischen Olivenhainen und saftigen Feldern, auf denen Kühe grasen,
       vorbei. Ein Bauer beklagt, dass um Mitternacht fünf Wagen mit schwer
       bewaffneten Polizisten aufgetaucht seien und seine Tür eingetreten hätten.
       „Dort schliefen meine Töchter, stellen Sie sich das vor“, beschwert er
       sich.
       
       Die Polizisten suchten nach den Terroristen in den zehn Kilometer
       entfernten Bergen, die sich im Ort mit Nachschub versorgten, glauben
       Houssem Rabhi und Sirnajmeddine Abbassi. „Wir wollen keine Bewaffneten
       hier“, sagen die versammelten Nachbarn. „Mit oder ohne Uniform.“
       
       Über Politik wollen sie nicht sprechen. „Würde man uns in Ruhe arbeiten
       lassen, wären wir schon zufrieden“, sagt einer. Dann steigt er auf seinen
       Traktor und fährt aufs Feld. Seinen Sohn hat er schon länger nicht gesehen,
       berichten die Umherstehenden. „Der ist in den Bergen, in Libyen oder in
       Europa.“
       
       20 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mirco Keilberth
       
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