# taz.de -- Enger Blick: Vom Blick aus dem Fenster
       
       > Zeigt man 40 der zahllosen Arbeiten Pablo Picassos, muss ein Thema her:
       > Das Bucerius Kunstforum in Hamburg hat als solches das Fenster
       > auserkoren.
       
 (IMG) Bild: Fenster als Grundbedingung des Malens: Picassos „Liegende mit Buch“.
       
       HAMBURG taz | Am Hamburger Rathausmarkt gibt es eine Picasso-Ausstellung.
       Wieso scheint das nicht mehr so wirklich interessant? Einer der wichtigsten
       Künstler des 20. Jahrhunderts ist so sehr in den klassischen Kanon erhoben,
       dass man glaubt, dieser ständig zitierte Kunst-Heilige habe uns eigentlich
       nichts mehr zu sagen. Die Mutti von Klein Erna glaubt, ihre Tochter könne
       das auch – aber Klein Erna weiß von ihrer Kunstlehrerin, dass Mutti irrt.
       Denn Picasso konnte in Malerei, Zeichnung und allen Drucktechniken, in
       Skulptur und Keramik einfach alles: Realismus, Kubismus, Neo-Klassizismus,
       Surrealismus, Abstraktion und Rekonkretisation und letztlich den eigenen
       Picassoismus.
       
       Zeigt man also an einem doch relativ kleinen Ausstellungsort wie dem
       Bucerius Kunst Forum etwa 40 der insgesamt vermutlich 50.000 Arbeiten des
       unbestrittenen Großmeisters, muss ein Thema her, damit die Auswahl mehr als
       zufällig ist. Das Bucerius Kunstforum hat für die aktuelle Schau das
       Fenster zum Thema erkoren. Das funktioniert zwar für Bilder aus allen
       Werkphasen, ist aber per se auch nicht besonders interessant. Denn das
       Fenster, insbesondere das des eigenen Ateliers, ist bei fast jedem Maler
       ein nahe liegendes Thema. Schon 1435 hat etwa Leon Battista Alberti in
       seinem Traktat „De Pictura“ jedes Bild als Blick aus dem Fenster definiert.
       Bewusst gemalte Fensterblicke eignen sich seitdem gut zur Formulierung der
       eigenen Bildtheorie, insbesondere bei der Lichtführung des Barock, den
       Sehnsuchtsmotiven der deutschen Romantik und den Vexierbildern von René
       Magritte.
       
       Doch die Malerei ist nicht nur theoretisch fensteraffin. Auch wenn es nicht
       um eine Positionierung zum Blick in die Ferne geht, sondern um die
       Darstellung des Interieurs, ist das Fenster logischerweise zentral: Ganz
       praktisch und grundsätzlich ist das Fenster die natürliche Lichtquelle für
       die Wahrnehmung und Strukturierung des Innenraums. Das gilt erst recht für
       die Fotografie, die in der Hamburger Ausstellung ebenfalls reichlich
       vertreten ist. Denn wenn es auch die Bilder von Picasso sind, die seinen
       Ruhm begründen: Bilder, die den Maler selbst zeigen, braucht es, um den
       Geniekult zu mehren.
       
       Die fast 50 hier zusätzlich gezeigten Picasso-Aufnahmen von Fotografen wie
       Robert Doisneau, Edward Quinn oder David Douglas Duncan haben es inzwischen
       jedoch zu eigenem Kunststatus gebracht. Sie dienen in der Schau auch ganz
       unmittelbar dazu, die gemalten Situationen mit dem konkreten Fenster zu
       vergleichen: Ja, die Fensterabschlüsse am Atelier in der Villa „La
       Californie“ in Cannes hatten tatsächlich diese seltsam ovalen
       Jugendstilformen, die Palmen waren da.
       
       Die Betrachter können also zufrieden sein: Das in der Versammlung von
       sieben Arbeiten zu diesem Lebensabschnitt immer auftauchende Detail
       entspringt keiner Künstlerwillkür, sondern korrekt wiedergegeben. In der
       Tat fordert die Hängung in Hamburg zu solchen banalen Vergleichen heraus.
       Und leider sind auch manche der Saaltexte – anders als sonst – oft ziemlich
       banal.
       
       Ist eine gemalte Tomatenpflanze vor einem geschlossenen Fenster wirklich
       Symbol der Hoffnung auf Frieden? Weil sie auch mal Paradiesapfel hieß und
       das Bild von 1944 stammt? Und was bedeutet der Satz, dass eines der Bilder
       „nichts mit Matisse zu tun“ habe, wenn dieser einer kunsthistorisch
       vergleichenden Katalog-Argumentation entsprungene Gedanke in der
       Ausstellung völlig zusammenhanglos bleibt?
       
       Die Idee zur Suche nach dem Fenstermotiv ging übrigens von einem kleinen
       Bild von 1900 aus. Im Picasso Museum in Barcelona fiel der Künstlerin
       Esther Horn ein nur 50 mal 32 Zentimeter großes Bild auf, bei dem der Blick
       aus dem Fenster genauso gut eine vor dem Fenster im dunklen Atelier
       abgestellte Leinwand sein könnte: Die kleinen Eckenschrägen des
       mehrteiligen Fensters könnten die typischen Spannkeile eines Keilrahmens
       sein. 
       
       Allerdings bedeutete das, dass man sich das dargestellte Bild als auf der
       Rückseite bemalt oder gar transparent vorstellen muss. Da es aber schon
       damals weitere Bilder mit verhängten oder verschlossenen Fenstern gab, ist
       es gut möglich, dass der erst 19-jährige Picasso hier selbstreflexive
       Bild-Diskurse gemalt hat. Im Sinne eines künstlerischen Umgangs mit
       Kunstgeschichte ist das auch dann eine originelle Entdeckung, wenn Picasso
       selbst darüber nur verwundert gelacht hätte. Jedenfalls taucht das
       Fenstermotiv – gerade auch im Changieren mit der Fläche der Bildleinwand –
       im späteren Werk immer wieder auf.
       
       Das überraschendste aller Exponate dabei ist ein gemäßigt kubistisches Bild
       von 1953 aus dem Bestand des Israel Museums in Tel Aviv. Ein Fenster
       manifestiert sich indirekt als ein helles Lichtfeld hinter einem Bett mit
       einer Frau. Mittig über allem liegt ein großer dunkler Schattenumriss eines
       Menschen. Der Maler wirft seinen eigenen Schatten über die Frau und die
       Szene. Doch mehr noch wirkt es, als sei jemand in eine Projektion des
       Bildes geraten.
       
       Die Bildebenen werden mehrdeutig: Als wäre der Künstler zwischen Fenster
       und Staffelei getreten, liegt sein Schatten weniger auf der Situation, als
       auf dem gemalten Bild der Szene. Es ist das genaue Gegenteil des Bildes von
       1900: Statt dass die Leinwand die Welt draußen vor dem Fenster darstellt
       oder vorgaukelt, blickt man jetzt wie ein Voyeur in das Zimmer.
       
       „Picasso und die Mythen“ hieß die Eröffnungsausstellung des Bucerius
       Kunstforums im Jahr 2002. Und mit „Picasso. Fenster zur Welt“ verabschiedet
       sich nun die Direktorin Ortrud Westheider. Im April geht sie als Leiterin
       an das Museum Barberini nach Potsdam, eine neue Stiftung des Milliardärs
       Hasso Plattner. Sie hinterlässt am Rathausmarkt eine alle Werkphasen
       umfassende Picasso-Ausstellung mit Arbeiten aus Museen in Paris und New
       York, Tel Aviv und London, Málaga und Barcelona. Das ist dann doch etwas
       keineswegs Alltägliches, das ruhig einen Blick auf Picassos kreative Welt
       verdient.
       
       30 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hajo Schiff
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Pablo Picasso
 (DIR) Malerei
 (DIR) Bucerius Kunst Forum
 (DIR) Cannes Cannes
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) New York
 (DIR) Fotografie
 (DIR) Tanz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Ausstellung im Bucerius Kunst Forum: Venedig war immer das andere
       
       Seit Jahrhunderten arbeiten Künstler daran mit, Venedig zu einem
       vermarktbaren Gesamtkunstwerk zu machen. Das hat etwas von Selbstvergottung
       
 (DIR) Literatur-Illustrationen von Salvador Dalí: Mit Schubladendenken durch die Weltliteratur
       
       Peinliche Figur mit albernem Zwirbelbart oder arbeitswütiges Genie? Das
       Kunsthaus Stade zeigt das grafische Werk von Salvador Dalí
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Geld ist ein Monster
       
       Jodie Fosters Post-Finanzkrisen-Thriller baut auf einer hübschen Prämisse
       auf. Am Buffet stürzen sich die Gäste dichtgedrängt auf die besten Nudeln.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Schwache Quote an der Croisette
       
       Das französische Filmfestival beginnt: Mit regressiver Nabelschau,
       Eskapismus und Regisseurinnen in der Minderheit.
       
 (DIR) Kunstauktion in New York: Weltrekord für Picasso-Bild
       
       Noch nie wurde ein Bild teurer versteigert als ein Ölgemälde von Picasso.
       Ein Unbekannter ersteigerte es bei einer Auktion für fast 180 Millionen
       Dollar.
       
 (DIR) Fotograf René Burri gestorben: Che und Picasso vor der Kamera
       
       Im Alter von 81 Jahren ist der Schweizer Fotograf René Burri gestorben. Am
       berühmtesten ist seine Fotoserie von Ernesto „Che“ Guevara.
       
 (DIR) Foto-Ausstellung Dijkstra: Mutmaßungen über Picasso
       
       Jungs und Mädchen im Club – damit wurde Rineke Dijkstra bekannt. „The Krazy
       House“ heißt die Ausstellung der Fotografin in Frankfurt.