# taz.de -- Neues Album von PJ Harvey: Musik über die Schlechtigkeit der Welt
       
       > PJ Harvey versucht auf „The Hope Six Demolition Project“, die Plumpheit
       > klassischer Protestsongs zu vermeiden. Ein Drahtseilakt.
       
 (IMG) Bild: Das Mythische mit dem Journalistischen verbinden: PJ Harvey
       
       An der National Mall in Washington, D. C. finden sich etliche Gedenkstätten
       und Museen. Dort, wo 1963 die Bürgerrechtsbewegung in der Parkanlage gegen
       die Rassentrennung demonstrierte, konnte man 2009 etwa Barack Obamas
       Amtseinführung als Präsident beiwohnen.
       
       Die britische Künstlerin PJ Harvey interessierte sich bei ihrem Spaziergang
       über die National Mall jedoch nicht nur für die offizielle
       US-Geschichtsschreibung: In dem Song „Medicinals“ – zu finden auf ihrem
       neuen Album mit dem sperrigen Titel [1][„The Hope Six Demolition Project“]
       – besingt sie die Zaubernuss, das Lorbeergewächs Sassafras und andere
       indigene Heilkräuter, die hier wuchsen, als die Hauptstadt noch Sumpfland
       war.
       
       Und siehe da, beim genaueren Hinschauen entdeckt sie: Diese Pflanzen
       sprießen immer noch im Schotter. Nur dass sich die Native Americans
       zwischenzeitlich einem anderen Schmerzmittel zugewendet haben: „With her
       Redskins cap on backwards / What’s that she’s singing? / As from inside a
       paper wrapper / She sips from a bottle / A new painkiller / For the native
       people.“
       
       Hmm. Das soll die Pointe dieses Songs sein, der einen so einen tollen Sog
       aufgebaut hatte? Ebenfalls „hmm“, als sich die Rezensentin beim Summen des
       Refrains von „The Wheels“ ertappt, der so eingängig, so catchy daherkommt.
       Und sich in der seltsamen Situation wiederfindet, beim Abwasch über
       verschwundene Kinder in einem nicht näher definierten Kriegsgebiet zu
       singen. Deren Zahl wird übrigens auf 28.000 geschätzt.
       
       Irritation ist ja erst einmal nichts Schlechtes. Zumal einen die Schelte,
       die Harvey für den Eröffnungssong ihres Albums erhielt, ähnlich ratlos
       zurückließ. Man wollte umgehend für sie Partei ergreifen, schließlich ist
       ein Song keine Zeitungsreportage. Lokalpolitiker und Community-Aktivisten
       hatten sich über ihre Darstellung des Washingtoner Bezirks „Ward 6“
       beklagt, weil Harvey in „The Community of Hope“ singt: „Now this is just
       drug town, just zombies.“ Als „Piers Morgan der Musikwelt“ wurde sie dafür
       beschimpft. Morgan ist ein gar nicht zimperlicher britischer
       Boulevardjournalist, der in den USA eine beliebte Fernsehshow hat.
       
       Schon in den neunziger und nuller Jahren hatte Harvey immer wieder damit zu
       tun, dass ihre Songtexte allzu wörtlich genommen wurden. Ja, was für
       Psychomacken bei ihr ferndiagnostiziert wurden! Und das nur, weil Harvey
       mit ihrer Künstlerpersona mehr Fantasie und Mut zur Grenzgängerei an den
       Tag legte, als man das Frauen im Popgeschäft gemeinhin zugestand.
       
       Vor diesem Hintergrund überrascht kaum, dass sie sich in den letzten Jahren
       Themen zuwendete, die man kaum autobiografisch deuten kann: Mit dem zu
       Recht gefeierten Vorgängeralbum „Let England Shake“ (2011) gelang PJ Harvey
       eine subtile, vielschichtige, und dabei realistisch blutgetränkte Reflexion
       der Kriege, die ihr Heimatland über die Jahrhunderte geführt hat.
       
       ## Der Sound: roher, muskulöser
       
       Mit ihrem neuen Album bleibt die 46-Jährige diesem quasijournalistischen
       Ansatz treu, auch wenn ihr Sound roher, muskulöser und wieder näher an
       ihren bluespunkigen Anfängen ist. Das Ergebnis: ein vielschichtiger,
       zumindest musikalisch gelungener Reigen. Ihren thematischen Fokus hat
       Harvey dabei erweitert. Mit dem Fotografen Seamus Murphy reiste sie nach
       Afghanistan, in den Kosovo und nach Washington, D. C: „to smell the air,
       feel the soil and meet the people“, um aus ihrer etwas naiv anmutenden
       Agenda zu zitieren. Auch der letztjährige Gedichtband „The Hollow of the
       Hand“ ist ein Ergebnis dieser Zusammenarbeit.
       
       Harveys Drahtseilakt, Musik über die Schlechtigkeit der Welt zu komponieren
       und dabei Empörung und potenzielle Plumpheit klassischer Protestsongs zu
       vermeiden, funktioniert mal besser, mal weniger gut. Vieles bleibt vage –
       angefangen bei der Frage, warum sie an genau diese Orte gereist ist. Oder
       eben, was die Reisen bei ihr ausgelöst haben.
       
       Auf musikalischer Ebene regten sie Harvey offenkundig zu Songs an, die
       weniger verfeinert als die des Vorgängeralbums, bisweilen sogar regelrecht
       überbordend daherkommen. Letzteres ist etwas gewöhnungsbedürftig angesichts
       der Thematik.
       
       Auf der Textebene wirken so gerade die eher unkonkreten Bilder schlüssig.
       Zumindest erhellender als das des eingangs erwähnten, von seiner Kultur
       entfremdeten Native American, dem nur der Griff zur Flasche geblieben ist.
       
       Vom Klischee zur Exploitation ist es eben nur ein kleiner Schritt.
       
       15 Apr 2016
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.universal-music.de/pj-harvey/videos/detail/video:392788/the-hope-six-demolition-project-trailer
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stephanie Grimm
       
       ## TAGS
       
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