# taz.de -- Debatte EU nach dem Brexit: Das Gespenst im Schrank
       
       > Mit abwartender Mehrdeutigkeit kommt Angela Merkel dieses Mal nicht
       > durch. Der Zerfall der EU ist erstmals im Bereich des Möglichen.
       
 (IMG) Bild: Augen zu und durch?
       
       Angela Merkels Reden klingen nach dem Austrittsvotum der Briten wie immer:
       intellektuell und emotional niedertourig. Ihre jüngste Regierungserklärung
       ist das übliche Kunststück der Mehrdeutigkeit. Die Kanzlerin hat offenbar
       keinen Plan. Das ist nicht unbedingt schlecht, denn Ziellosigkeit kann
       gerade in Krisen nützlich sein. Die Gefahr, sich zu verrennen, ist
       geringer, die Offenheit für Neues größer. Wer kein Ziel hat, kann nicht
       scheitern. Also: Merkel, die ruhige Maklerin – alles geht weiter wie
       bisher?
       
       Eher nicht. Diese EU-Krise ist anders. Der Brexit ist womöglich das
       Wetterleuchten eines rechtspopulistischen Aufstands gegen eine Europäische
       Union, die schon vorher Risse hatte. In der Eurokrise setzte sich der
       Norden unter Merkels Führung rüde auf Kosten des Südens durch. Die
       Flüchtlingskrise erhellte schlaglichtartig, dass in Budapest und Warschau
       chauvinistische Regime regieren, mit denen eine postnationale
       Wertegemeinschaft kaum möglich ist.
       
       Der Brexit hat nun erstmals das bislang Undenkbare, den Zerfall der EU, in
       den Bereich des Möglichen gerückt. Merkels Krisendiplomatie mag zunächst
       einmal beruhigen. Doch ein muddling through reicht in der gegenwärtigen
       Situation nicht aus. Was tun?
       
       Natürlich müssen sich die Freunde der EU scharf gegen den Rechtspopulismus
       wehren. Die Rückkehr zu den Nationalstaaten bringt übelste Ressentiments
       gegen Fremde hervor und ist auch wirtschaftlich fatal.
       
       ## Realität, keine Fantasie
       
       Allerdings gibt es zwischen dem Rechtswähler, der sich in Sachsen von
       Flüchtlingsströmen überschwemmt sieht, und dem EU-Skeptiker, der 2017 den
       Front National wählen wird, einen Unterschied. Die Bedrohung des
       sächsischen Abendlandes existiert nur in den Angstfantasien paranoider
       Pegida-Anhänger. Diesem Rassismus ohne Fremde ist mit Argumenten nicht
       beizukommen.
       
       Die Sache EU und Rechtspopulismus ist komplizierter. Wenn man das
       hypertrophe Getöse von Marine Le Pen und Nigel Farage abzieht, stellt man
       fest: Sie haben in einigen Punkten recht. Die EU ist keine Diktatur, wie
       die Rechten suggerieren. Aber EU-Bürger können eine Regierung in Brüssel
       nicht abwählen. Das ist Realität, keine Fantasie. Dieses Problem löst man
       nicht durch Britenbashing.
       
       Das Gros der Gesetze wird mittlerweile aus Brüssel übernommen. De facto ist
       das eine Teilentmachtung der nationalen Parlamente. Das wäre keineswegs
       schlimm, wenn die Gesetzgebung in Brüssel mit soliden checks and balances
       funktionieren würde. Doch so ist es nicht. Das EU-Parlament ist nach wie
       vor schwach, die Exekutive so übermächtig wie sonst nur in autoritären
       Regime.
       
       Merkel und Co sorgen pragmatisch dafür, dass letztlich immer mehr
       Befugnisse nach Brüssel wandern. Dies „stellt die Völker vor vollendete
       Tatsachen, zu denen sie sich keinen Willen bilden konnten und die sie
       deswegen als ihnen oktroyiert empfinden“. Das hat kein rechter Nationalist
       geschrieben, sondern der liberale Exverfassungsrichter Dieter Grimm.
       
       ## Der Sauerstoff jeder Demokratie
       
       Wenn die Eliten weiter so tun, als gäbe es in Brüssel kein
       Demokratiedefizit, wird das Gespenst im Schrank immer größer. Ohne
       grundlegende Reform wird die EU wohl früher oder später implodieren. Nötig
       ist eine Regierung, die die Bürger zwischen Lissabon und Posen bei
       Missfallen zum Teufel jagen können. Denn die Möglichkeit, die Herrschenden
       abwählen zu können, ist der Sauerstoff jeder Demokratie. Das Paradoxe ist,
       dass diese Reform die Regierungen der EU-Staaten ins Werk setzen müssten,
       die sich damit selbst entmachten würden.
       
       Berlin ist nach dem Brexit in der EU mächtiger denn je. Es wäre klug, wenn
       Deutschland sich, wie früher unter Kohl, kleiner macht, als es ist, um
       Europa größer zu machen. Ob Merkel das sieht, ist nicht zu erkennen. Hat
       sie ein Ziel, wie die EU in zehn Jahren aussehen soll und wie sie für die
       Bürger von Athen bis Amsterdam demokratischer, zugänglicher, attraktiver
       wird? Falls nicht, wird auch das cleverste Krisenmanagement nichts nutzen.
       
       1 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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