# taz.de -- Freihandel in Südostasien: Der Drache, der Tiger und die Armen
       
       > Ein von Singapur angeführter Wirtschaftsraum bildet die Globalisierung im
       > Kleinen ab: Der Handel boomt, Wohnen ist teuer, Slums entstehen.
       
 (IMG) Bild: Die Regierung zerstört illegale Fischerboote in Batam, auf den Riau-Inseln
       
       Am Ende des einen Kilometer langen Damms, der die Insel Singapur mit der
       malaysischen Stadt Johor Bahru verbindet, liegt das Bandar-Viertel.
       Freitagabends sind die Caféterrassen voll. Viele der angeheiterten Gäste
       kommen aus Singapur. Die Chefs der Hotels, Bars und Restaurants sind
       Malaysier, die einfachen Angestellten großenteils Indonesier, darunter auch
       einige ohne legalen Status. Die Mischung ist durchaus typisch für die
       Arbeitsteilung zwischen den drei Ländern.
       
       Das Begriff „Wachstumsdreieck“ stammt aus den 1980er Jahren und wurde am
       17. Dezember 1994 zur offiziellen Bezeichnung erhoben, als Singapur,
       Malaysia und Indonesien das Indonesia Malaysia Singapore Growth Triangle
       (IMS-GT) gründeten. Die Eckpunkte dieses Dreiecks sind Singapur, die
       malaysische Hafenstadt Johor Bahru und die indonesischen Riau-Insel. Das
       Gründungsdokument war weder ein Abkommen mit präzisen Vertragsklauseln noch
       ein Entwicklungsprogramm mit festem Zeitplan. Es beschränkte sich darauf,
       die ohnehin laufenden Entwicklungen zu unterstützen.
       
       Bei der Unterzeichnung erklärte damals Lee Hsien Loong als
       stellvertretender Ministerpräsident von Singapur, es gehe vor allem darum,
       „die Geschäftsbeziehungen über Grenzen hinweg zu fördern und zu
       erleichtern“. Die Initiative wurde als Beispiel für die regionale
       Entwicklung in einer globalisieren Welt präsentiert, in der Staatsgrenzen
       ihre Bedeutung verlieren. In diesem Sinne wollen die Partner darauf
       hinarbeiten, ihre jeweiligen komplementären Stärken – an Kapital, an Boden
       und an Arbeitskräften – durch Kooperation besser zur Geltung zu bringen.
       
       Entstanden ist das Projekt in den Büros des Singapore Economic Development
       Board. Auf dem winzigen Territorium des Stadtstaats Singapur, der von 1987
       bis 1994 ständig zweistellige Wachstumsraten erzielt hatte, fehlte es den
       Unternehmen an Raum; zugleich trieb die starke Nachfrage nach
       Arbeitskräften (die Arbeitslosenquote lag nahe null) die Löhne in die Höhe.
       Insofern schien es vernünftig, ein Projekt „komplementärer Entwicklung“
       anzugehen, um den dringenden Bedarf an Raum, Arbeitskräften und Rohstoffen
       abzufangen.
       
       ## Kapital, Arbeitskraft und Boden
       
       Die Nordspitze des Dreiecks bildet Singapur, das über Kapital,
       qualifizierte Arbeitskräfte, beste technologische und kommerzielle
       Infrastrukturen sowie über den Zugang zum Weltmarkt verfügt. An der Basis
       des Dreiecks liegt im Osten Malaysia, das halbqualifizierte Arbeitskräfte,
       „angepasste Technologien“ und grundlegende Infrastrukturen sowie Rohstoffe
       und Land zu bieten hat. Den westlichen Eckpunkt schließlich bilden die
       indonesischen Riau-Inseln, die über unqualifizierte Arbeitskräfte und
       lediglich einfache Technologien verfügen, aber auch über große
       Rohstoffvorkommen und Riesenflächen ungenutzten Landes.
       
       Gegenüber dem „Drachen“ Singapur lauerte der „Tiger“ Malaysia auf seine
       Chance. Der Ballungsraum um Johor Bahru hat sich zu einer großen
       Industriezone entwickelt. Obwohl es nach wie vor politische Spannungen
       zwischen beiden Ländern gibt, die vor allem auf die Umstände des
       Ausschlusses von Singapur aus der Malaysischen Konföderation (1965)
       zurückgehen, hat die Regierung in Kuala Lumpur gegen den Kapitalzufluss aus
       Singapur nichts einzuwenden.
       
       Indonesien stand 1994, als der Vertrag über das Wachstumsdreieck
       unterschrieben wurde, noch unter der Herrschaft von General Mohammed
       Suharto. Damals musste das Land, auch wegen der rückläufigen
       Erdöleinnahmen, ein vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der
       Weltbank verordnetes Programm der „Strukturanpassung“ durchziehen. Der
       Dreiecksplan bot dem Inselstaat die Chance, die geografisch günstige Lage
       des Riau-Archipels zu nutzen. Die Inselgruppe zwischen der Küste Sumatras
       und Singapur liegt am Kreuzungspunkt der maritimen Handelsrouten zwischen
       Asien, Australien, Europa und dem Nahen Osten, verfügt aber auch über ein
       Reservoir billiger Arbeitskräfte.
       
       ## Die weltweit größte Milliardärsdichte
       
       22 Jahre danach hat Singapur nicht nur den zweitgrößten Containerhafen der
       Welt (nach Schanghai) und den viertgrößten Finanzplatz (nach London, New
       York und Hongkong), sondern auch die größte Milliardärsdichte. „Ohne die
       regionale Perspektive wäre es für Singapur schwieriger, wenn nicht
       unmöglich gewesen, seine Rolle als Weltstadt zu behalten“, urteilt Milica
       Topalovic, die am Future Cities Laboratory von Singapur arbeitet. Und in
       einem Bloomberg-Artikel heißt es geradezu überschwänglich: „Die
       beherrschenden Kräfte der Ökonomie des 21. Jahrhunderts sind Globalisierung
       und Urbanisierung: Aus ihrer Kombination entsteht eine Metropole, die weit
       über Grenzen, Kulturen und Währungen hinausgeht.“ Wobei unerwähnt bleibt,
       dass 2015 in Singapur 500 000 der 5,5 Millionen Einwohner unterhalb der
       Armutsgrenze lebten.
       
       Auf malaysischer Seite florieren Handel und Immobiliengeschäfte dank der
       Kundschaft aus Singapur, die hier viel billiger einkaufen kann. Und auch
       billigeren Wohnraum findet, wie die Bloomberg-Analyse vermerkt: „Da es im
       Süden Malaysias preiswertes Bauland gibt, strömt das Geld über die Grenze.“
       Dazu gehören die 3,4 Milliarden Dollar, die Singapur in das Projekt
       Iskandar Malaysia investiert. Die Riesenanlage mit Industrie- und
       Hafenzonen, Wohnanlagen und Einkaufszentren ist seit 2006 im Bau. Bis 2025
       soll sie sich auf eine Fläche erstrecken, die dreimal so groß ist wie
       Singapur, und Investitionen von 100 Milliarden Dollar absorbiert haben, die
       800 000 Arbeitsplätze schaffen sollen.
       
       Während 150 000 Malaysier tagtäglich zum Arbeiten über die Grenze gehen,
       will sich das malaysische Johor Bahru nicht mit der Rolle als
       Industrievorort des reichen Singapur begnügen. Neben einem industriellen
       Sektor (IT-Technik, Petrochemie, Schiffsbau) sind die beiden zum Projekt
       Iskandar gehörenden Hafenterminals Pasir Gudang und Tanjung Pelepas
       entstanden, die direkt mit den Häfen von Singapur konkurrieren.
       
       Was Indonesien betrifft, so sind die meisten Projekte und Investitionen auf
       den beiden Riau-Inseln Bintan und Batam zu verzeichnen. Bintan hat sich, da
       nur eine Fährstunde von Singapur entfernt, auf Tourismus spezialisiert. Im
       Norden der Insel sind Feriendörfer und Luxushotels auf einer Fläche von 23
       000 Hektar entstanden. Der internationale Flughafen rechnet für 2017 mit
       3,5 Millionen Passagieren.
       
       ## Niedrige Löhne, lockere Gesetze
       
       Dagegen ist Batam zum Industriezentrum geworden. Zahlreiche Unternehmen mit
       Sitz in Singapur haben ihre Aktivitäten 20 Kilometer weiter auf die Insel
       verlegt, wo die Gesetze viel lockerer und die Löhne viel niedriger sind –
       während sie weiterhin von den Freihandelsabkommen profitieren, die Singapur
       nicht zuletzt mit den USA geschlossen hat.
       
       Seit 2007 haben die Riau-Inseln den Status einer Freihandelszone. In den 13
       Industrieparks, die das Amt für Industrielle Entwicklung von Batam
       verwaltet, sind fast 600 ausländische Unternehmen angesiedelt, vor allem
       Montagebetriebe großer IT-Konzerne (Sanyo, Panasonic, Siemens, Sony,
       Toshiba, Epson) und Zuliefererfirmen für Werften. Insgesamt sind hier rund
       300 000 Arbeitskräfte beschäftigt, zwei Drittel davon Frauen.
       
       Dieser Boom hat eine starke Zuwanderung von anderen Inseln des
       indonesischen Archipels ausgelöst. Deshalb ist die Bevölkerung von Batam
       binnen 30 Jahren von einigen zehntausend auf 2 Millionen Menschen
       angewachsen. Und während die meisten früher Fischer waren, ist die
       Bevölkerung heute rein städtisch geworden. Da die Immobilienpreise ständig
       steigen, ist für viele eine Wohnung unerschwinglich. Zehntausende Familien
       hausen in Slums.
       
       Das Versprechen auf ein besseres Leben zieht tagtäglich neue Zuwanderer an.
       Und weil es mehr Bewerber als Stellen gibt, landen viele im informellen
       Sektor, inklusive der Prostitution. Die Anwerbefirmen sitzen vor allem auf
       Java und Sumatra, die Einheimischen haben daher kaum Chancen auf bezahlte
       Jobs.
       
       Für die Fischerei ist die Entwicklung verheerend: Die Küste zugebaut, die
       Mangrovenwälder zerstört, das Meer durch Industrieabwässer und den
       gigantischen Schiffsverkehr verdreckt. Ihrer alten Einkommensquelle
       beraubt, betätigen sich manche Fischer – aber auch Betreiber von Taxibooten
       – gelegentlich als Piraten oder lassen sich von kriminellen Organisationen
       für größere Operationen anheuern. Im ersten Halbjahr 2015 wurden um Bantam
       mehr als 100 Piratenüberfälle registriert, darunter acht Entführungen von
       Öltankern in den Straßen von Malakka und Singapur.
       
       Die Konjunktur schwächelt, die Auftragsbücher der Werften sind leer – und
       die Unternehmen weichen sofort in andere Länder der Region aus, wo die
       Löhne niedriger und die Arbeiter gefügiger sind. Seit Anfang des
       Jahrtausends sind auf Batam Gewerkschaften aktiv. Heute sind sie in einem
       Drittel der Unternehmen vertreten und geben sich trotz aller Probleme
       kämpferisch.
       
       Für den Zeitraum bis 2020 prognostiziert Toh Mun Heng, Professor an der
       National University of Singapore Business School, für das Dreieck ein
       jährliches Wachstum von 5,7 Prozent, was an der ökonomischen Hierarchie
       innerhalb des Dreiecks freilich kaum etwas ändern wird. Singapur liegt mit
       seinem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 83 066 Dollar (kaufkraftbereinigt)
       weltweit an dritter Stelle (hinter Katar und Luxemburg), Indonesien
       hingegen mit 10 651 Dollar auf Platz 103. In Malaysia beträgt das
       Durchschnittseinkommen 850 Dollar pro Monat, in Indonesien nur 130 Dollar.
       
       Für die Geografin Nathalie Fau sind diese Unterschiede nicht etwa die Folge
       von Funktionsstörungen, die es innerhalb des Wachstumsdreiecks zu
       korrigieren gilt, sondern im Gegenteil die Basis, auf der das ganze Modell
       beruht: Das IMS-GT setze die Prinzipien der internationalen Arbeitsteilung
       vielmehr auf regionaler Ebene um: „Sein Funktionieren beruht auf einem
       dreifachen Gefälle zwischen den Anrainerstaaten der Meerenge: einem
       ökonomischen (Arbeitskosten, Industrialisierungsniveau und Anteil des
       Dienstleistungssektors), einem demografischen (Verfügbarkeit von
       Arbeitskräften) und einem politischen (Protektionismus oder Freihandel).“
       
       ## Die Kluft wird immer tiefer
       
       Die Hoffnung auf einen fairen Anteil am Wachstum für alle drei Partner ist
       ebenso illusorisch wie das Zukunftsversprechen eines Territoriums ohne
       Grenzen in einer strahlenden Global City. Zu den nationalen Grenzen sind
       längst neue, interne Demarkationslinien hinzugekommen: So können Waren, die
       auf den Riau-Inseln produziert werden, nicht mehr unbeschränkt ins übrige
       Indonesien gelangen, weil Jakarta den Verkauf von Waren aus zollfreien
       Zonen eingeschränkt hat, um lokale Produzenten zu schützen. Und zwischen
       den drei Eckpunkten des Dreiecks können zwar Waren und Kapital nahezu
       ungehindert zirkulieren, nicht aber die Menschen.
       
       Während die Bewohner der Riau-Inseln bis Anfang der 1980er Jahre oft nach
       Singapur fuhren, um einzukaufen oder Verwandte zu besuchen, können sie
       solche Reisen heute kaum noch unternehmen, weil die Kluft zwischen ihrem
       Lebensstandard und dem des Stadtstaats immer tiefer geworden ist.
       
       Nach der Krise von 1997/1998 hat Singapur die Grenzkontrollen verstärkt, um
       die illegale Einwanderung tausender Arbeitsloser zu stoppen. Nach 9/11
       wurden die Kontrollen unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Terrorismus
       erneut verschärft. Doch zum Haupthindernis für den Grenzverkehr ist seitdem
       das wirtschaftliche Gefälle geworden. Die entfesselte Entwicklung im
       Wachstumsdreieck hat den meisten Menschen letzten Endes mehr Beschränkungen
       gebracht als die versprochene Mobilität.
       
       Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
       
       7 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Philippe Revelli
       
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