# taz.de -- Deutsch-französische Nachkriegszeit: Das Staunen in der Fremdheit
       
       > Ein atmosphärisch verdichtetes Bild einer Epoche: Sylvie Schenks Roman
       > „Schnell, dein Leben“. Er erzählt eine Biografie im Schnelldurchgang.
       
 (IMG) Bild: Vom „Muff der fünfziger und sechziger Jahre“ ist hier keine Spur
       
       Das Du als Erzählperspektive in der Literatur markiert eine Halbdistanz. Es
       herrscht nicht die Unmittelbarkeit des Ichs, aber auch nicht der Abstand
       der dritten Person. Und zugleich schafft das Erzähl-Du ein Klima der
       fürsorglichen Reflexion. Genau dieser Tonfall ist es, der passend scheint
       für den neuen Roman von Sylvie Schenk: Die Erzählerin Louise befragt sich
       über ihr eigenes Leben und gibt zugleich Auskunft. „Schnell, dein Leben“
       ist eine Komposition aus Gegensätzen, die sich zwangsläufig miteinander
       vereinbaren lassen müssen.
       
       Da ist die Erzählerin, geboren kurz vor Kriegsende in einem französischen
       Alpendorf, in dem sie auch aufwächst. Und da sind die Verwandten im
       geografisch nicht allzu intellektuellen, aber meilenweit fernen Lyon, die
       auf die Verwandtschaft mit Verachtung herabschauen. Da sind immer wieder
       die Franzosen und die Deutschen.
       
       Und da ist nicht zuletzt immer wieder die harte Konfrontation der Gegenwart
       mit einer längst nicht abgeschlossenen Vergangenheit. In kurzen, jeweils
       thematisch strukturierten Kapiteln wird hier eine Biografie im
       Schnelldurchgang erzählt. Gerade einmal 160 Seiten braucht Sylvie Schenk,
       die bereits mehrere Bücher veröffentlicht hat, die in Deutschland aber noch
       keinen durchschlagenden Erfolg hatten. Schenk schreibt in deutscher
       Sprache; sie ist mit einem Deutschen verheiratet.
       
       Das ist eine der zentralen Geschichten des Romans: Anfang der 1960er Jahre
       nimmt Louise ihr Studium in Lyon auf. Sie ist naiv, ein wenig ängstlich und
       erfüllt perfekt das Klischee der kleinen Französin mit den großen Augen.
       
       Über ihre Studienfreundin Francine kommt sie in Kreise, die schon die
       ersten geistigen Beben der Studentenrebellion von 1968 vorwegnehmen. Zum
       Freundeskreis gehören zwei junge Männer, die von ihrer Herkunft her kaum
       unterschiedlicher sein könnten: Der Franzose Henri ist bei seiner
       Großmutter aufgewachsen, weil die Deutschen während der Besatzung die
       Eltern verschleppt und ermordet haben. Der perfekt Französisch sprechende
       Deutsche Johann wiederum ist ein Kind aus bürgerlichen Verhältnissen.
       
       ## Klischeevorstellungen und Realität zum Verwechseln nahe
       
       Er wird Louises Ehemann werden, und die so präzisen wie prägnanten
       Schilderungen des für Louise elementar fremden Haushalts der neuen
       Schwiegereltern, ihrer Gewohnheiten, Lebensselbstverständlichkeiten,
       Kulturselbstvergewisserungen gehören zu den Glanzstücken des Romans. Auch
       hier wieder: das Staunen in der Fremdheit.
       
       Schenk hat einen Blick für die sprechenden Details und ein Sensorium für
       die ambivalente Atmosphäre der Nachkriegsjahre. Man hat, das ist kein
       Einwand, über all das schon häufiger gelesen, aber selten wurde es so
       komprimiert und authentisch nachgezeichnet. Das ist die eine Seite.
       Trotzdem ist „Schnell, dein Leben“ ein höchst merkwürdiges Buch.
       
       Bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt hat Schenk
       einen Auszug aus ihrem Roman vorgelesen und ist auf eher verhaltene
       Begeisterung gestoßen, aus gutem Grund: Dieser Roman kann nur am Stück
       gelesen werden. Nur als Ganzes ist er als ein verdichtetes Bild einer
       Epoche zu verstehen. Einer Epoche übrigens, in der Klischeevorstellungen
       und Realität sich bis zum Verwechseln nahe kommen.
       
       Und damit mag es zu tun haben, dass „Schnell, dein Leben“ an vielen Stellen
       sprachlich nur sehr schwer auszuhalten ist. Schenk bedient sich nicht
       selten einer trutschigen Sprache, in der noch die abgegriffensten Floskeln
       zu ihrem Recht kommen. Spätestens, wenn vom „Muff der fünfziger und
       sechziger Jahre“ die Rede ist, möchte man ihr die Sprachpolizei auf den
       Hals hetzen. Angst vor Kitsch hat Schenk gewiss nicht.
       
       Der Höhepunkt dürfte jene Szene sein, in der Louise und Johann nach der
       Beerdigung von Johanns Vater dessen Vergangenheitsgeheimnis auf die Spur
       kommen: „Schon lange hat er seine Lippen nicht so fest und gierig auf deine
       gelegt, schon lange haben sich eure Zungen und euer Atem nicht so gemischt,
       ihr küsst euch, als sei es ein Abschied, ihr küsst euch, um mit euren
       Zungen, euren Lippen ein Bündnis zu schließen.“
       
       Der Roman liest sich ungeheuer gut. Man will das alles wissen, was da
       steht; das ist das Frappierende. Selten standen bravourös Gelungenes und
       befremdlich Misslungenes auf so engem Raum beieinander.
       
       28 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christoph Schröder
       
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