# taz.de -- Musiker Tony Conrad: Die Ökologie des Wummerns
       
       > Tony Conrad (1940–2016) ist eine Legende der New Yorker Avantgarde.
       > Erinnerungen eines Freundes und Musikerkollegen.
       
 (IMG) Bild: Spielerische Herangehensweise: Tony Conrad mit seiner Violine
       
       Als Tony Conrad das erste Mal auf meinem Radar auftauchte, blinkte der wie
       verrückt: Denn Conrad stand direkt vor mir, im August 1994, es war im
       Hothouse, einem Club in Chicago. Seinen Namen kannte ich schon aus Victor
       Bockris’ Buch „Uptight: The Velvet Underground Story“. Außerdem hatte mir
       Jim O’Rourke, mit dem ich damals bei Gastr del Sol spielte, wenige Monate
       zuvor Aufregendes berichtet: Jim war von einem Festival zurückgekommen und
       hatte von der dortigen Aufführung von Conrads „Early Minimalism: April
       1965“ geschwärmt.
       
       Von nun an stand Tony Conrad auf Jims Liste von Leuten, mit denen er
       unbedingt zusammenarbeiten musste. Die Sterne standen günstig, denn Jeff
       Hunt hatte gerade „Outside the Dream Syndicate“, das gemeinsame Album von
       Tony Conrad und der Krautrockband Faust, auf seinem Label
       wiederveröffentlicht. Hunt war begierig, Conrad in ein Aufnahmestudio zu
       lotsen.
       
       Ich bin immer wieder aufs Neue überrascht, wenn ich höre, woran Conrad
       beteiligt war. Gelegentlich fällt der Name „Zelig“, wenn von seinem
       Schaffen gesprochen wird: Wie der Protagonist in Woody Allens Film ist
       Conrad tatsächlich an einer unwahrscheinlichen Folge von historisch
       bedeutsamen Ereignissen zugegen: Anfang der Sechziger studiert er
       Mathematik in Harvard, ist Zeuge, als Martin Luther King 1963 seine „I have
       a dream“-Rede in Washington hält und demonstriert gegen die US-Premiere von
       Stockhausens „Originale“. Conrad spielt eine wichtige Rolle bei der
       Gründung von Velvet Underground und ist ein Pionier des strukturellen Films
       und der Medienkunst.
       
       Das erfasst nicht annähernd seine Bedeutung als Scharnier an den
       Schnittstellen von Musik, experimentellem Film, visueller Kunst und
       Performance. Virgil ist daher der passendere Rollenname, den ihm der
       Kunsthistoriker Branden W. Joseph in seiner Betrachtung „Beyond the Dream
       Syndicate: Tony Conrad and the Arts after Cage“ zudenkt: Darin gibt Conrad
       Auskunft über das Inferno, das im New Yorker Underground der Sechziger
       tobte.
       
       An diesem Abend im August 1994 haben wir uns jedenfalls persönlich kennen
       gelernt, während eines Konzerts von Gastr del Sol und Tortoise. Ich
       erinnere mich an seinen Filzhut, und ein charakteristisches, ansteckendes
       Lachen. Auch erinnere ich mich daran, wie er mit seinen nicht enden
       wollenden und durchaus schrägen Fragen den Leuten das Gefühl gab,
       interessant zu sein – eine sokratische Vorgehensweise, nur ohne das
       didaktische Drumherum.
       
       ## Gegen Pythagoras
       
       Einige Tage später fanden wir uns bei Steve Albini im Studio ein, um
       „Slapping Pythagoras“ aufzunehmen, Conrads erstes Studioalbum nach mehr als
       20 Jahren. Das Zusammentreffen eines halben Dutzends Gitarristen, die auf
       „Slapping Pythagoras“ spielen sollten, fühlte sich an wie eine ungewohnte
       Form von Unterricht. Conrad erklärte uns die Intonation – und die
       verheerenden politischen Konsequenzen der pythagoräischen Überzeugung,
       Harmonie sei Zeichen für eine naturgegebene himmlische Ordnung – auf
       verschwurbelte und gleichzeitig hochverdichtete Weise. Hie und da gab es
       unsicheres Gelächter, was von unserem exzentrischen Lehrer goutiert wurde.
       Er lachte mit.
       
       Die Session wurde zum Experiment, bei dem sechs Gitarristen – gewissermaßen
       gegen ihr Können – die offenen Saiten ihrer horizontal vor ihnen liegenden
       Instrumente anschlagen sollten. Akkorde zu greifen war weder erwünscht noch
       erlaubt. Dazu summte ein entmutigender 60-Hz-Grundton aus sechs
       Verstärkern. Um einen Referenzton zu finden, nach dem wir die Gitarren
       stimmen konnten, fragte Conrad, wer die lauteste Ausstattung hatte.
       Vermutlich war es Kevin Drumm, der eine abgewetzte weiße Fender-Mustang mit
       Einspulentonabnehmer benutzte. Conrad drehte den Verstärker bis zum
       Anschlag auf und nutzte das 60-Hz-Gewummer zum Stimmen der Instrumente.
       
       Wir stellten uns erstaunlich ungeschickt an, als es daran ging, die
       rhythmischen Grundstrukturen für die sechs einzelnen Stimmen auf den
       kopierten Notenblättern zu entziffern, die Conrad ausgehändigt hatte. Es
       dauerte, bis es uns gelang, uns durch das Stück zu fräsen – hie und da
       unterbrochen von Krach, der beim Anschlagen der Saiten entstand,
       rhythmischen Ungenauigkeiten und Verspielern. Am Ende haben wir das Stück
       in einem Take aufgenommen, eine aufgewühlte und zügellose Soundwelt, in der
       man sich verlieren kann.
       
       Mir fiel damals vor allem die spielerische Herangehensweise Conrads auf,
       der mit den Möglichkeiten mehrspuriger Aufnahmen experimentierte.
       Retrospektiv stelle ich fest, dass diese Haltung viel mit der von John Cage
       gemein hat: Cage versuchte, das Beste aus der Situation im Studio zu
       machen. Er war sich des Unterschieds bewusst zwischen diesem Setting und
       der einmaligen, nicht wiederholbaren Konzertatmosphäre. Warum sollte man
       nicht die Möglichkeiten untersuchen, die eine bestimmte Situation bereit
       hält?
       
       Bevor wir etwas davon mitbekamen, nahm Jim O’Rourke schon ein Solo auf, für
       das er Steve Albinis Rasentrimmer benutzte. Ich spielte über einen
       Percussion-Track. Das war die Vorbereitung für den von Conrad gewünschten
       Wechsel zwischen einem tiefen, dichten und einem lichten, eher
       zerbrechlichem Sound. Schlussendlich spielte ich den Percussion-Part mit
       Albinis Baseballhandschuhen an, mit denen ich auf ein Kissen einschlug, und
       einem aufgerollten Mikrofonkabel, das ich an ein leeres Glas schlenkern
       ließ.
       
       ## Furchteinflößende Lautstärke
       
       Heute ist es einfacher, den Einfluss randständiger Musiken in der
       zeitgenössischen Popmusik zu verstehen. 1994 wirkte Conrads Musik im
       Kontext von Underground-Rock absolut seltsam. Erst zehn Jahre später traten
       Sonic Youth zusammen mit dem japanischen Noise-Künstler Merzbow vor einem
       riesigem Publikum in Roskilde auf. An den ersten Soundcheck von Conrad
       erinnere ich mich wegen dessen furchteinflößender Lautstärke noch gut.
       
       Erst dachte ich, was ich hörte, wäre enormes Feedback, wogendes Wummern,
       und dass gleich die Anlage in die Luft gehen würde. Doch mir dämmerte
       allmählich, dass das, was ich zunächst für Feedback im unteren
       Frequenzbereich gehalten hatte, in Wahrheit eine Tonfolge war, die Conrad
       auf einer Violine produzierte, zwei Noten gleichzeitig streichend, das
       Ergebnis extremer Verstärkung. Und er manipulierte diese zerstörerischen
       tiefen Frequenzen zusätzlich, in dem er Druck und Position seiner linken
       Hand auf dem Griffbrett der Geige nur geringfügig veränderte.
       
       Ich reagierte auf dieses Szenario absolut emotional. Mein Körper fühlte
       sich an, als würde er angegriffen, was mich auf eine Art zum Lachen
       brachte, die ich von mir noch nicht kannte.
       
       Als Conrads Wege sich in den Neunzigern mit der Indierock-Welt kreuzten,
       lernten wir Jüngeren auch von seinem subversivem Verhältnis zur
       Öffentlichkeit. Ich erinnere mich an ein gemeinsames Interview. Alle waren
       darauf bedacht, jeweils etwas über ihre aktuellen Alben zu erzählen. Conrad
       hingegen holte aus und beschwerte sich darüber, dass man in seiner
       Heimatstadt Buffalo auf das Auto angewiesen sei. Wäre er jünger, würde er
       nach Chicago ziehen und sein Auto verkaufen, denn in Chicago würde der
       öffentliche Nahverkehr noch funktionieren.
       
       ## Bassige Streichermusik
       
       Das einzige, was Conrad bei diesem Interview über seine Musik sagte, war,
       dass er im Grunde noch immer sehr ähnliche Musik mache wie schon 30 Jahre
       zuvor – das war zu der Zeit, als die „Early Minimalism“-Box herauskam –,
       aus dem einfachen Grund, weil er es unnötig finde, etwas wegzuwerfen, wenn
       man es doch noch gut gebrauchen könnte. Ich fing an, Conrads Hingabe für
       verstärkte, wummernd bassige Streichermusik als durch und durch ökologisch
       zu begreifen.
       
       Nach Conrads Tod im April brauchte ich etwas Zeit, bevor ich über ihn
       schreiben konnte. Ich beschränke mich in diesem Text auf die Zeit, in der
       ich ihn persönlich kennenlernte. Im März 1998 verbrachte ich eine Woche in
       Buffalo, um mit Conrad und anderen Musikern für die Premiere von Pauline
       Oliveros’ Stück „Primordial/Lift“ zu proben. Kurz darauf verließ uns das
       Glück.
       
       Wir hatten geplant, etwas in seinem Heimstudio aufzunehmen, aber Buffalo
       wurde von einem Schneesturm heimgesucht, Tony Conrad und ich schlitterten
       über einen vereisten Highway, um Tonbänder zu kaufen. Unser Versuch,
       Equipment an der Universität von Buffalo auszuleihen, wurde von einem
       unnachgiebigen Werkstudenten torpediert. Ich hatte erlebt, wie Conrad
       gegenüber engstirnigen Tonmeistern stets Ruhe bewahrte. Aber jetzt platzte
       ihm der Kragen.
       
       Später im Studio trat er aus Frust einen Kartonstapel um, mit dem er
       vorhatte zu arbeiten. Plötzlich beugte er sich grinsend vor und sammelte
       den Inhalt eines Kartons auf: „Hieran solltest du deine Freude haben, ha!“
       Heraus purzelte eine Schachtel, auf der John Cales Adresse in New York
       stand. Ich öffnete sie und fand eine verblichene Taschenbuchausgabe des
       Romans „The Velvet Underground“ von Michael Leigh.
       
       Conrad hatte das Buch in den Sechzigern auf der Straße in Manhattan
       gefunden, in der er in den Sechzigern zusammen mit Cale wohnte. Den
       Buchtitel nahm Cale 1965 für seine neue Band her. „Alter Falter!“, sagte
       Conrad, „Sollte ich mal lesen!“ Mit diesen Worten schleuderte er das Buch
       durchs Studio, und wir gingen wieder an die Arbeit.Aus dem amerikanischen
       Englisch von Sylvia Prahl
       
       Der vorliegende Text erschien in längerer Fassung zuerst im New Yorker
       Magazin „Music & Literature“. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung
       
       8 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) David Grubbs
       
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