# taz.de -- Debattenserie Schauspiel ohne Autor (4): Mehr Mut zur Neugier wagen
       
       > Aus theaterverlegerischer Sicht umkreisen deutsche Bühnen derzeit vor
       > allem sich selbst. Impulse, zumal aus dem Ausland, werden oft ignoriert
       
 (IMG) Bild: Manchmal ist das Stück klüger als die Regie: In Hamburg löste Johan Simons Inszenierung von Jean Genets „Die Neger“ trotz schöner Bilder keine Begeisterung und trotz N-Wort keinen Skandal aus.
       
       Die Frage nach der Notwendigkeit neuer Theaterstücke von zeitgenössischen
       Theaterautoren ist vermutlich ebenso alt wie die Diskussion über Form und
       Inhalt des Theaters an sich. Im 20. Jahrhundert gab es mehrere aufregende
       Wellen zeitgenössischer Dramatik, die immer auch ein Spiegel der jeweiligen
       gesellschaftlichen Konstellationen und Debatten waren. Neue Theaterautoren
       beziehungsweise ihre Werke zu entdecken und an die Bühnen zu vermitteln,
       war dabei immer eine besondere Herausforderung, die den Theaterverlegern
       zukommt.
       
       Der Merlin-Verlag mit seiner 60-jährigen Geschichte hat diesbezüglich so
       einiges erlebt: Die Durchsetzung des Autors Jean Genet auf deutschen Bühnen
       gelang in dem Moment im Laufschritt, als die Nachricht vom Skandal der
       Uraufführung des „Balkon“ durch Peter Zadek 1957 in London, in deren
       Vorfeld der Autor den Regisseur mit der Pistole bedroht hatte,
       durchgesickert war! Inzwischen ist Genets Werk ein Teil des
       unerschöpflichen Schatzes von Stücken, die zum weltweiten Kanon der
       Dramatik gehören und auf die Theaterregisseure und Dramaturgen quer über
       den Globus zugreifen.
       
       Und das ist gut so. Denn gute Theaterstücke sind ebenso zeitlos wie gute
       Romane. Sie haben kein Verfallsdatum und eignen sich vielleicht gerade,
       weil ihre Stoffe Teil des Bildungskanons sind, in besonderer Weise für eine
       gesellschaftsrelevante Neu-Interpretation auf der Bühne.
       
       Nichtsdestotrotz gibt es zu jeder Zeit Autoren, die die Form des Dramas für
       ihre Themen wählen. Es entstehen unzählige neue Theaterstücke, von denen
       die meisten nie auf die Bühne gebracht werden, nicht nur, weil ein Skandal
       wie der von London die Ausnahme ist, sondern vor allem, weil gute Stoffe
       und Texte sich an den Bedürfnissen der Theater orientieren müssen, wenn sie
       dort eine Chance erhalten wollen.
       
       Wonach aber suchen die Theater? Was erwartet man an deutschen Stadttheatern
       von zeitgenössischen Theaterautoren?
       
       Die Bedürfnisse der Theater sind immer ein Spiegel der gesellschaftlichen
       Situation. In einer Wohlstandsgesellschaft, in der kulturelle Kreativität
       Teil des Selbstverständnisses ist, gehört auch die Subventionierung und
       Förderung von zeitgenössischer Dramatik zum Konzept von Kulturpolitik. Ende
       der 90er-Jahre gab es in Deutschland einen erheblichen Aufwind für die
       deutsche Gegenwartsdramatik.
       
       An den Theatern wurden offensiv neue Stücke gesucht, Preise für junge
       Dramatik geschaffen. Aktuelle Themen und Befindlichkeiten sollten auf die
       Bühne gebracht werden, nicht zuletzt, um einem vermeintlichen Bedürfnis des
       nachwachsenden Theaterpublikums nach neuen Impulsen zu genügen.
       
       Eine Vielzahl von namhaften Dramatikern trat in dieser Phase auf den Plan,
       immer mehr Auftragsstücke wurden vergeben, sogar kleinere Stadttheater
       beteiligten sich an diesem Wettbewerb um die Entdeckung der neuen Autoren.
       In den Verlagen schärfte sich seitdem der Blick für die Absolventen der
       Schreibschulen in Leipzig, Berlin und Hildesheim.
       
       Tatsächlich wurde viel geschrieben und auch viel aufgeführt. Doch die
       wenigsten Stücke gelangten auf die große Bühne: Die meisten kamen und
       kommen bis heute auf kleinsten Studio- oder Probebühnen heraus, inszeniert
       von jungen Regisseuren oder Regieassistenten. In einer Vielzahl von Fällen
       blieb es bei einer einzigen Inszenierung, jener „ersten Nacht“ der
       Uraufführungsinszenierung, mit der sich die Theater die Aufmerksamkeit bei
       der Presse und in der Szene zu verschaffen suchten. Das Theater konnte sein
       Häkchen hinter die Förderung von Gegenwartsautoren machen.
       
       Der Autor aber blieb nicht selten auf der Strecke: Eine ernsthafte
       Autorenförderung erfordert auch die Zuwendung und Hilfestellung von
       Regieprofis. Hätte beispielsweise Andrea Breth seinerzeit Ulrich Zieger
       inszeniert, würden dessen Stücke heute vermutlich einen anderen Stellenwert
       am deutschen Theater haben. Übrigens blieb hier und da auch das von
       Regieexperimenten verschreckte Publikum auf der Strecke.
       
       Von der großen Welle der jungen Gegenwartsdramatik der 90er-Jahre sind nur
       wenige deutschsprachige Autoren wie Dea Loher, Roland Schimmelpfennig oder
       Elfriede Jelinek im Gedächtnis geblieben und bis heute am Theater präsent.
       Immerhin. Die Frage, ob sie noch in 20 Jahren aufgeführt werden, lässt sich
       derzeit noch nicht beantworten. Aber war das überhaupt das Ziel der
       Anstrengung?
       
       Nach der inzwischen deutlich abgeebbten Welle der Auftragsstücke kam die
       Welle der Dramatisierungen klassischer oder zeitgenössischer Prosawerke von
       Rang. Sie dauert bis heute an und bietet bisweilen exzellente
       Theatererlebnisse, wie die Umsetzung von Michel Houellebecqs „Unterwerfung“
       am Hamburger Schauspielhaus: Hier treffen eine herausragende Dramatisierung
       eines zeitrelevanten Stoffes – und kommerziellen Erfolges! – und das
       herausragende Können eines großartigen Schauspielers zusammen. Ein Erfolg
       auf großer Bühne!
       
       Es hat den Anschein, dass im Moment alle zufrieden sind. Freilich ist an
       einem solchen Erfolg der zeitgenössische Dramatiker nicht beteiligt.
       
       Aus theaterverlegerischer Sicht umkreisen die deutschen Theater in den
       letzten Jahren in erster Linie sich selbst. Es ist nicht von der Hand zu
       weisen, dass es dabei auch um kaufmännische Überlegungen geht. Denn die
       Phase der großen Subventionierungen ist mittlerweile vorbei. Ähnlich wie in
       den Literaturhäusern, wo es um Literaturvermittlung geht, sind es an den
       Theatern heute oft pekuniäre Überlegungen, die die Auswahl der Stücke,
       Autoren und Themen bestimmen: Je nach Ausrichtung des Hauses muss etwas
       geboten werden, das Erfolg verspricht und Publikum zieht.
       
       Anders als in den Verlagen, wo nach langfristig wirkmächtigen neuen Texten
       gesucht wird, die existenzielle, grundsätzliche Themen für das Theater als
       Ort der direkten Konfrontation von Spiel und Realität bearbeiten, suchen
       die Theater in Deutschland – das lässt sich auf den jährlichen
       Dramaturgen-Tagungen beobachten – nach neuen Theaterformen. Diskutiert
       werden die interkulturelle Gesellschaft, die Möglichkeiten für politisches
       Handeln, die Arbeitsbedingungen am Theater – Autoren und ihre Texte sind zu
       Randthemen geworden.
       
       Diese Suche nach dem eigenen Selbstverständnis spiegelt gewiss auch den
       allgemeinen gesellschaftlichen Wandel: Traditionelle kulturelle
       Institutionen haben ihr Alleinstellungsmerkmal eingebüßt und sehen sich mit
       der Konkurrenz durch multiple Angebote wie Reality-Shows und performative
       Theaterformen, TV- und Netflix-Serien oder die „kreative Plattform“ der
       sozialen Medien konfrontiert. Dass aber das Theater im Verbund mit den
       Theaterautoren einen wichtigen Beitrag zu gesellschaftlichen Debatten
       leisten kann, ist offenkundig.
       
       Interessante Impulse kommen in dieser Situation von ausländischen Autoren:
       Hat doch die Rezeption im Ausland bereits „bewiesen“, dass diese Werke von
       Belang sind. Aber selbst anderswo etablierte Autoren wie Olivier Py, Marie
       NDiaye und Joël Pommerat haben es bisweilen schwer, auf die große deutsche
       Bühne zu gelangen. Mal ist es die Angst, dem Publikum zu viel und zu
       Fremdes zuzumuten, mal die Sorge, in der eigenen Kreativität, dem offenbar
       identitätsstiftenden Credo des deutschen Regietheaters eingeschränkt zu
       werden. Dem werden oft genug der Autor und sein Werk geopfert.
       
       Im Zusammenspiel von Autor, Verlag und Theater sind die Theater am Zug: Die
       Kompetenzen und das Können sind allenthalben reichlich vorhanden, manchmal
       – so scheint’s aus Sicht des Theaterverlegers – fehlt es dem Theater wohl
       am Mut und am Vertrauen in die eigene Neugierde.
       
       3 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina E. Meyer
       
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