# taz.de -- Die Wahrheit: Schiller und die Fertighaus-Poetry
       
       > Ein kleiner Abstecher nach Weimar bringt nicht nur Erkenntnisse zur
       > Hochkultur, sondern auch zu einer vermeintlichen Subkultur.
       
 (IMG) Bild: Das Schiller-Denkmal in Marbach: mit Blick auf das eigene Museum
       
       Über die Buchmesse vorvorige Woche ist alles Wesentliche bereits gesagt,
       deshalb erzähle ich von meinem Abstecher auf der Rückfahrt von Leipzig. Ich
       wollte nämlich mal Literatur aus anderer Perspektive auf dem Zeitstrahl
       betrachten, genauer: das Schillerhaus in Weimar inspizieren, den Geist ein-
       und ausatmen, Old-School-Verse inhalieren und aushauchen beispielsweise.
       
       Es lädt bekanntlich auch ein Schillerhaus in Lorch ein und eines in
       Rudolstadt, ein Schillerhaus in Bauerbach und eines im tschechischen Cheb,
       eines in Oggersheim; das in Marbach ist wohl das bekannteste, das
       Schillerhäuschen in Dresden das kleinste. Aber es bot sich nun das in
       Weimar an, lag halt mehr oder minder auf meinem Weg.
       
       Vom Weimarer Bahnhof aus spaziere ich etwa zwanzig Minuten zu Schillers
       Wohnhaus, eile über die knarrende Stiege in das zweite Obergeschoss, in das
       Arbeitszimmer und greife zu seinem Federkiel. Sofort strömen Kräfte bis in
       meine Fuß- und Fingerspitzen. Im Schädel blitzen etliche Synapsen in
       ungeahnten Sphären. Ich, der, soweit ich mich erinnere, noch niemals ein
       Theaterstück von Schiller in einem Saal miterlebt hat, öffne ein Fenster
       und vermag diese Verse aus dem Drama „Wallensteins Tod“ auswendig ins Freie
       zu rezitieren: „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit. / Leicht
       beieinander wohnen die Gedanken, / doch hart im Raume stoßen sich die
       Sachen.“ Alles passt. Das soll es hier schon gewesen sein, denke ich, der
       intuitive Plan ist aufgegangen.
       
       Nicht erleuchtet, aber beschwingt gehe ich zurück zum Bahnhof, steige in
       einen Zug nach Göttingen, wo ich umzusteigen habe. Leicht beieinander
       wohnen die Gedanken: Im Abteil liegt eine Broschüre aus Hannover, die
       Kulturveranstaltungen anpreist. Beim Durchblättern springt mir eine Reihe
       im Oktober ins Auge, die 21. deutschsprachigen Poetry Slam-Meisterschaften
       im Einzel- und Team-Wettbewerb.
       
       Hart im Raume stoßen sich die Sachen: Als ich damals von Poetry Slam oder
       Slam Poetry hörte, etwa in den mittleren Neunzigerjahren, habe ich
       Einfaltspinsel damit auch den Gestus einer wie auch immer gemeinten
       Subkultur, die Pose des Randständigen, Wuchtigen, Riskanten außerhalb der
       Hochkultur verknüpft. Als Gegensätze erweisen sich die Bezeichnungen längst
       nicht mehr, völlig zu Recht, es hat sie womöglich nie gegeben. Großverlage
       scharren mit den Hufen. Dackelt zudem nicht im Dunstkreis dieses Betriebs
       der hassenswerte Begriff „Kreativwirtschaft“ herum?
       
       Ein Sinnbild dafür, wer und was hier gemeint ist, könnten die Namen zweier
       Sponsoren dieser Meisterschaften verraten: Die „FertighausWelt“ und der
       „Verband der Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer e.V.“. Letztlich jedoch
       interessiert mich ein bisschen, ob jemand im Wettbewerb so poetische und
       gendermäßig inakzeptable Zeilen vorträgt wie der junge Schiller in dem
       Gedicht „Kastraten und Männer“, wo er die weiblichen Brüste „Halbkugeln
       einer bessern Welt“ nennt. Wäre er überhaupt angetreten?
       
       5 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dietrich zur Nedden
       
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