# taz.de -- Klangkünstlerin Thessia Machado: „Jeder Sound ist Lärm“
       
       > Die brasilianische Künstlerin macht aus vielem Musik. Machado über
       > Verstärkerbrummen, Elektroschrott und den Mangel an Respekt vor
       > Maschinen.
       
 (IMG) Bild: An ihrem Arbeitsplatz in Berlin-Wannsee: Thessia Machado
       
       taz: Frau Machado, lassen Sie mich mit einem Jahrestag beginnen: Vor fast
       genau 100 Jahren, am 18. Mai 1917, wurde das Ballett „Parade“, wofür Erik
       Satie Musik komponiert hatte, uraufgeführt. Dafür hatte er eigens das
       sogenannte Flaschenklavier erfunden. Was bedeutet Ihnen heute Klangkunst
       auf selbst gebauten Instrumenten? 
       
       Thessia Machado: Schon im 18. Jahrhundert wurden viele seltsame
       Tasteninstrumente erfunden. Im 19. Jahrhundert fand eine gegenläufige
       Entwicklung statt, Orchester überall auf der Welt führten die gleichen
       Werke auf. Erst im frühen 20. Jahrhundert konnte sich auch durch den von
       Ihnen erwähnten Erik Satie mehr Experimentierfreude durchsetzen,
       präparierte Klaviere wurden damals etwa eingesetzt. Mit Einführung von
       elektrisch verstärkter Keyboards in den 1930ern nahm diese Bewegung an
       Fahrt auf. Ich selbst sehe mich in der Tradition von US-Elektronikpionieren
       wie David Tudor, der elektrische und elektro-mechanische Komponenten zur
       Klangerzeugung verwendete und in seine Stücke mit einbaute. Und zwar solche
       Komponenten, die ursprünglich nicht zur Generierung von Klang gedacht
       waren. Ich mag daran, dass man wie ein Ingenieur herum improvisiert und
       sich langsam vorwärtstastet.
       
       Nehmen wir den Oszillator, den Sie für das Stück „Interference“ konstruiert
       haben. Für meine naiven Ohren klingt sein nagelndes Geräusch wie ein
       Geigerzähler. Nicht sehr melodisch, aber wunderbar spröde. Was reizt Sie an
       dieser Klangkulisse? 
       
       Schon als Kind faszinierten mich Dinge jenseits der musikalischen Norm.
       Wenn mir jemand Gesetzmäßigkeiten nannte, war ich automatisch daran
       interessiert, intelligente Dislozierungen dafür zu finden. Etablierte
       Klangmuster von Musik sind ja bereits seit Langem erforscht, jenseits
       dieses Kanons gibt es viele Leerstellen. Deshalb hat John Cage unsere
       Aufmerksamkeit auf Nichtmusikalisches gelenkt: Den Klang eines Busses, das
       Quietschen einer Tür.
       
       In seinem Essay „Silence“ hat Cage schon in den Fünfzigern prognostiziert,
       dass wir uns stärker mit den Formen von Lärm auseinandersetzen werden. Wie
       würden Sie Lärm von jetzt aus betrachtet definieren? 
       
       Jeder Klang ist Lärm. Und Lärm ist immer auch Musik. Da gibt es nach meinem
       Verständnis fließende Übergänge, eine Trennung ergibt keinen Sinn. Musiker
       meiner Generation sind mit Elektrizität und elektrischen Geräten groß
       geworden, wir sind an das Summen von Hochspannungsmasten und das Rascheln
       von Frequenzen gewöhnt. Das Knacksen und Brummen, wenn MusikerInnen einen
       Verstärker anstöpseln, erfüllt mich mit Freude, weil ich weiß, dass daraus
       Klang entsteht. Auf dieses Knacksen reagiert mein Gehirn positiv.
       
       Für eine Klanginstallation haben Sie Plattenspieler und Tapedecks
       auseinandergenommen und wieder neu zusammengesetzt. Das erinnert mich an
       die Frühzeit von HipHop, als Laternenmasten für Verstärker angezapft wurden
       und DJs lernten, Turntables gegen die Bedienungsanleitung rückwärts zu
       drehen, und mit Platten zu scratchen. 
       
       Ja, das ist ein Beispiel für den kreativen Missbrauch von Gerät.
       Plattenspieler waren nur dazu gedacht, um Musik wiederzugeben. Mit HipHop
       wurden sie selbst zu einem Instrument. Mich interessiert an Plattenspielern
       ihr Antriebsriemen, ich baue diese mit Vorliebe aus und verwende sie für
       etwas anderes.
       
       Sie sind in Rio de Janeiro aufgewachsen, einer Metropole, mit der man
       weithin den Reichtum von Musik assoziiert. Inwieweit sind Sie von
       traditioneller Musik geprägt? 
       
       Meine Familie stammt ursprünglich aus dem Süden Brasiliens, ich bin in Rio
       aufgewachsen. Musik ist überall in der Stadt. Als Teenager habe ich Gitarre
       gespielt und die rhythmische Vielfalt bewundert. Als ich dann in die USA
       gegangen bin, habe ich das bewusst beiseite gelegt und mich für die
       bildende Kunst entschieden. Ich habe zunächst mit Bildhauerei begonnen und
       dabei bin ich bald auf Sound als Baumaterial gestoßen, mehr als dass ich
       dabei an musikalische Traditionen gedacht habe. Und doch interessiert mich
       Rhythmus nach wie vor, sowohl visuell als auch, was seinen Klang angeht.
       
       Maschinenlärm bedeutet auch Produktivität, etwa das rhythmische Rattern
       eines Fließbands. Wenn Sie sich Maschinen vornehmen, wenden Sie sich dann
       gegen ihre Funktion? 
       
       Ich sage mir immer, dass ich den Maschinen durch meine Eingriffe zu mehr
       Freiheit von ihren Verpflichtungen verhelfe, zu einer freieren Existenz.
       
       Sie beschäftigen sich ausschließlich mit analoger Elektronik. Was sagt
       Ihnen die digitale Sphäre? 
       
       Als gelernte Bildhauerin berühre ich gerne Material und beschäftige mich
       mit Mechanik. Ich nehme gerne Maschinen auseinander, um zu sehen, wie sie
       funktionieren. Software-Instrumente kenne ich auch, aber ihre taktile
       Qualität finde ich unterentwickelt. Und ihre Fehlerquellen zu ergründen,
       macht mir nicht so viel Spaß. Ich habe andererseits schon mit Bildschirmen
       und Handyscreens gearbeitet. Generell finde ich Geräte älterer Bauart
       leichter zu navigieren. Ich bevorzuge Geräte, mit denen man besser
       interagieren kann.
       
       Heute werden Maschinen kontinentübergreifend eingesetzt. Auch Ihre Existenz
       als brasilianische Künstlerin, die gerade Stipendiatin der American Academy
       in Berlin ist, hat einen globalen Aspekt. 
       
       Ich weiß nicht, ob das Einfluss auf meine künstlerische Arbeit nimmt. Aber
       generell fühle ich mich als Teil einer Gemeinschaft, die bestimmte
       Techniken und Strukturen nutzt, Konzerte und Performances macht und Zugang
       zu bestimmten Materialien hat. Diese Vernetzung wird durch das Internet
       erleichtert und bringt den Dialog in einen globalen Rahmen. Ich glaube
       nicht, dass es heute noch so etwas wie die isolierte Künstlergemeinschaft
       gibt.
       
       In seinem einflussreichen Buch „Noise – The political Economy of Music“ hat
       der französische Wirtschaftswissenschaftler Jacques Attali beschrieben, wie
       sich der Lärm des Alltagslebens in Musik materialisiert. Was sagt Ihnen
       das? 
       
       Es stimmt, wenn man etwa die zunehmende Demokratisierung der
       Produktionsmittel betrachtet. Heute haben viel mehr Menschen Zugang zu
       Instrumenten und Aufnahmetechniken, was wiederum dazu führt, dass die
       Definition dessen, was Musik überhaupt ist, viel größer geworden ist: Jedes
       neu eingeführte Format, jedes neue Gerät wird sofort ästhetisch untersucht
       und auseinandergenommen: Denken Sie nur an den Loopsound von zerkratzten
       CDs oder an das Knistern von Schallplatten. Irgendwann wird jeder Defekt
       fetischisiert.
       
       Ins Innere der Maschine vorzudringen, ist ein zentraler Aspekt Ihrer
       Arbeit. Was finden Sie da vor? Das Herz der Maschine? 
       
       Zuerst erinnere ich an die praktische Seite. Durch den Rhythmus unseres
       Konsums werden ja ständig funktionstüchtige Geräte verschrottet. Und in
       ihnen gibt es viele heile Bestandteile. Ich habe erst neulich ein altes
       Berliner Faxgerät geschenkt bekommen und sein Motor funktionierte
       einwandfrei – herrlich! Solche Geräte sind auch kleine Persönlichkeiten,
       sie benehmen sich sogar manchmal daneben! In meiner künstlerischen Arbeit
       geht es ums genaue Hinhören. Ich erlaube meinem Material, dass es mir sagt,
       wie es klingen möchte. Ein Teil meiner Recherchearbeit ist also, dass ich
       durch die Straßen laufe, auf der Suche nach Elektromüll. Berlin ist ideal.
       Es ist voll davon!
       
       Ist das eine Kritik an unserem Update-Imperativ? 
       
       Ich denke schon, dass es einen Mangel an Respekt vor Maschinen gibt und zu
       wenig Respekt für die Ingenieure, die sie konstruiert und designt haben. Es
       gibt zu wenig Respekt vor der Dinghaftigkeit dieser Geräte. Wir sollten
       diese Maschinen mehr lieben.
       
       14 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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