# taz.de -- US-Komponist Raven Chacon im Gespräch: „Schiefe Tonalität ist für mich normal“
       
       > Raven Chacon ist Stipendiat der American Academy in Berlin. Ein Gespräch
       > über den Klang der Wüstenwinde, Lärm als Zufallsprodukt und stillen
       > Protest.
       
 (IMG) Bild: Beeindruckender Lärmerzeuger: Raven Chacon
       
       taz: Raven Chacon, seit Januar sind Sie Stipendiat der American Academy in
       Berlin, eigentlich kommen Sie aus Albuquerque/New Mexico im Südwesten der
       USA. 
       
       Raven Chacon: Aufgewachsen bin ich in einem Navajo-Reservat in New Mexico,
       bis wir dann nach Albuquerque umgezogen sind, wo ich heute noch wohne.
       
       Im Südwesten der USA ist die Natur mächtig und spielt eine wichtige Rolle
       im täglichen Leben. Können Sie bitte die Besonderheiten der Landschaft und
       der Vegetation erläutern? 
       
       New Mexico liegt inmitten einer hochgelegenen, sehr trockenen Wüste, höher
       gelegen als die meisten Gegenden der USA. Es ist einer der am dünnsten
       besiedelten US-Bundesstaaten. Das Navajo-Reservat ist ländlich geprägt, die
       meisten Menschen betreiben Landwirtschaft unter schwierigen Bedingungen,
       denn das Wasser muss von weit her transportiert werden und manche
       Siedlungen haben keinen Strom. Gleichzeitig ist die Navajo-Nation nicht nur
       formal unabhängig. Sie wird von den USA als selbstständige Nation
       anerkannt.
       
       Sie haben Ihre eigene Polizei und Steuergesetzgebung … 
       
       Richtig. Und es gibt einen Präsidenten des Stammes. Aber wir sind eine
       Nation innerhalb der Grenzen der USA.
       
       Können Sie den charakteristischen Klang der Natur beschreiben? 
       
       Als ich jung war, fiel mir als Erstes der Klang des Windes auf, denn Wind
       ist ein wichtiger Klanggenerator, vor allem in der Wüste. Er bläst Staub
       und Pflanzen vor sich her. Und: Wind klingt nachts anders als am Tag. Als
       ich älter war, wollte ich die Sounds der Winde unbedingt verstärken; die
       Feldaufnahmen, die ich gemacht habe, habe ich manipuliert. Es ging mir
       nicht um authentischen Klang, sondern ich habe herausgefunden, was jenseits
       der Klangoberfläche passiert, ich habe das verstärkt. Und die Aufnahmen
       klingen anders, wenn ich sie in einem anderen Umfeld abspiele.
       
       Spielte Musik immer eine Rolle in Ihrem Leben? 
       
       Als Kind habe ich mir sehr viel unterschiedliche Musik im Radio angehört.
       Das reichte von traditioneller Navajo-Musik bis zu Heavy Metal, der war in
       den Achtzigern sehr populär. Dann bekamen die ersten Nachbarn
       Satellitenschüsseln, und ich habe MTV gesehen. Ich habe querbeet gehört und
       alles Mögliche hat mich beeinflusst. Der Wendepunkt war, als ich
       Klavierunterricht nahm; sobald das losging, wusste ich, dass ich Musiker
       werden möchte. Denn als ich die Geometrie der 88 Tasten durchschaute, bekam
       ich auch ein Gefühl für andere Instrumente.
       
       Sie komponieren Auftragswerke, etwa für das Kronos Quartet, aber Sie
       spielen auch zusammen mit John Dieterich von der Band Deerhoof als [1][the
       Endlings]. Und Sie sind Teil des indigenen Kollektivs Postcommodity. Mit
       dem machen Sie wiederum Klanginstallationen und Performance-basierte
       Kunstaktionen. Was hält alle Projekte zusammen? 
       
       Das ständige Umschalten ist der Kern meines Schaffens. Ich arbeite an einem
       Projekt, verausgabe mich, aber meine Ideen bringen mich geradewegs zum
       nächsten. Ich bevorzuge Kollaborationen, weil ich gerne mit anderen Ideen
       entwickle und sehe, wohin sie mich führen. Die Situation als Stipendiat der
       American Academy ist neu für mich. Ich habe ein Studio mit einem Klavier
       und ich arbeite ausschließlich an Kompositionen.
       
       Viele Ihrer Werke sind extrem laut. Mit den Endlings bevorzugen Sie
       brachialen Feedbacklärm, in der Arbeit mit Postcommodity wiederum wirkt Ihr
       Klang eher wie subtiler Dronesound. Wie würden Sie Lärm definieren?
       
       Mein Verhältnis zum [2][Lärm] hat sich durch einen Zufall ergeben. Ich
       mache Lärm nicht als rebellische Geste, ich leite es ab von meinem
       Interesse an Heavy Metal. Da fanden meine ersten Gehversuche in einer Band
       auf schlechtem Equipment statt. Ich habe mit einer Klampfe gespielt, die
       nur zwei Saiten hatte. Das Schlagzeug war auch Schrott. Die schiefe
       Tonalität hat sich mir eingebrannt, wir haben die Songs auch noch auf einem
       schlechten Taperekorder aufgenommen und mit kaputten Lautsprechern
       abgespielt. Irgendwann habe ich ein Faible für den [3][schiefen Sound]
       entwickelt.
       
       Sie haben die Kunsthochschule CalArts in Los Angeles besucht, wo der
       Jazztrompeter Wadada Leo Smith einer Ihrer Lehrer war. 
       
       Smith, James Tenney und Michael Pisaro waren alle drei wichtige Lehrer. Mit
       Leo habe ich im Duo zusammengespielt.
       
       Es gibt ein Video von Smith in einem Boot sitzend und auf dem Tallahatchie
       River in Mississippi Trompete spielend … 
       
       …Genau an der Stelle, wo 1955 die Leiche des Bürgerrechtlers Emmett Till in
       den Fluss geworfen wurde.
       
       2017 sind Sie nach Standing Rock in North Dakota gereist und haben an den
       Protesten gegen eine geplante Pipeline in einem Reservat der Sioux
       teilgenommen. Was hat Sie dazu gebracht? 
       
       Ich wollte mich selbst davon überzeugen, was dort passiert. Ich bin nicht
       mit dem Motiv gefahren, dass ich den Bau der Pipeline verhindern kann. Als
       ich in Standing Rock ankam, merkte ich sofort, warum es wichtig war, dort
       zu sein: Angehörige von anderen Stämmen beteten und sangen zusammen. Ich
       habe dann angefangen, Momente der Stille aufzunehmen, wenn gerade kein
       Protest war. Facetten der Stille.
       
       Navajos sind berühmt für ihre Webkunst. Gibt es in Ihrer Musik ein
       klangliches Äquivalent? 
       
       Ich wünschte, ich könnte weben. Die geometrischen Webmuster sind ein
       wichtiger Einfluss für meine Musik, denn sie tauchen in meinen Partituren
       auf: In Triangelform, in der Komposition für das Kronos Quartet sind sie in
       Pfeilform angeordnet, als eine Art Wegweiser.
       
       Wie ist Ihre Definition von Schönheit? 
       
       Schönheit entsteht im Abgleich mit der Natur, oftmals geschieht das
       beiläufig. Ob man es darauf anlegt oder nicht, Natur gleicht die Schönheit
       an unsere spezifische Lebenssituation an. Man kann höchstens versuchen,
       diesen Zustand mit Kunst oder durch Gebete zu erreichen.
       
       15 May 2018
       
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