# taz.de -- Zur Emeritierung von Heiner Goebbels: Utopische Formen
       
       > Zum Abschied des Komponisten ist der schöne Textband „Landschaft mit
       > entfernten Verwandten“ entstanden: Jeder Beitrag ist ein eigenes
       > Kunstwerk.
       
 (IMG) Bild: Blasorchester sind nicht immer spießig. Heiner Goebbels spielte in einem linksradikalen
       
       „Dort, wo uns ästhetisch Lösungen einfallen, merken wir, dass uns die
       Verbalisierung unseres politischen Interesses immer schwerer fällt“, hat
       Heiner Goebbels einmal über die kraftraubende Dialektik im Sound des von
       ihm mitbegründeten Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters (SLB)
       postuliert. Dessen beide bis zur Auflösung 1981 entstandenen und beim
       Münchner Label Trikont veröffentlichten Alben begleiteten zu ihrer
       Entstehungszeit etwa die Proteste der Antiatombewegung.
       
       Wie eine Marchingband marschierte das SLB bei Demonstrationen mit.
       Bearbeitungen von Ernst-Busch-Liedern sind auf ihren Alben ebenso zu finden
       wie Interpretationen von Sun Ra und eine Freejazz-Version der
       [1][„Tagesschau“-Titelmelodie]. Verschüttete linke Traditionen haben die
       MusikerInnen in Bigbandbesetzung freigelegt und mit Jazz modernisiert. Was
       damals die linke Szene zum Lachen bringen sollte, erzielt heute ganz
       andere, ungemein aktuelle Wirkungen: Allein der Gedanke an die angenehm
       schief-tonale, stilistisch wildwüchsige und weltanschaulich undogmatische
       Brassband und ihre unorthodoxen Lockerungsübungen spendet im Zeitalter der
       identitären Polarisierung ein Quäntchen Trost.
       
       „Die Arbeit im Orchester ist ähnlich der Fabrik, nämlich entfremdet“, hat
       Goebbels’ Künstlerkollege, der italienisch-israelische Komponist Luca
       Lombardi, einmal postuliert. Goebbels’ Arbeitsweise fußt nicht auf
       Hierarchien, sondern auf Eigenständigkeit und Kollektivität. Beim Proben
       liest er nicht die Partitur, sondern er hört zu und beobachtet. Ab 1982 hat
       er die Organisationsform Orchester zugunsten anderer Projekte und
       Personenkonstellationen für längere Zeit vernachlässigt. So spielte er etwa
       bei Konzerten der Krachband [2][Nachdenkliche Wehrpflichtige] (mit Diedrich
       Diederichsen, FM Einheit und dem bildenden Künstler Albert Oehlen), trat
       mit ihnen bei der Documenta in Kassel auf und mischte von 1982 bis 1992 in
       der Artrockband [3][Cassiber] (u. a. mit dem britischen Gitarristen Chris
       Cutler) mit und [4][betrieb] mit Alfred Harth ein [5][Duo]. In den
       Neunzigern wechselte Goebbels die Seiten, wurde zum Auftragskomponisten und
       Hörspiel-Regisseur.
       
       Auch davon kündet der Band „Landschaft mit entfernten Verwandten“, eine
       Festschrift, die Kolleginnen, Weggefährten und SchülerInnen von Heiner
       Goebbels zu seinem Abschied nach 19 Jahren als Professor am Gießener
       Institut für angewandte Theaterwissenschaft zusammengestellt haben (das er
       von 2003 bis 2011 auch leitete). Der Band folgt nicht chronologisch der
       Karriere und dem Werk von Goebbels, er ist als wuselndes Durcheinander
       aufgemacht. Und so wird er zu mehr als nur einer Festschrift, denn viele
       der 50 Beiträge entwickeln beim Nachdenken, Hinhören und Erinnern einen
       konzisen Flow, der über reine Betrachtungen von Goebbels’ Schaffen
       hinausreicht, teilweise nehmen die Texte auch aufeinander Bezug.
       
       Da geht es zum Beispiel um eine etymologische Untersuchung des Wortes
       Geschmack (Lorenz Aggermann), was auf das Wort Zunge zurückgeführt werden
       kann. Da macht sich Bojana Kunst wenige Seiten später Gedanken über die
       Zunge und das Sprechen: „Wir können noch so perfekt sein, sobald wir unsere
       Zunge herausstrecken, nimmt unser Körper groteske Züge an.“ Andere Beiträge
       kommen gleich selbst als Kunstwerk daher: Gedichte, eine Kartografie mit
       Orten, Stilen und Namen, Gemälden und einer Fotostrecke, auf der ein
       Feuerwerk zu sehen ist, das die Komponistin und ausgebildete
       Pyrotechnikerin Lea Letzel vertont hat (was man sich wiederum anhören kann,
       wenn man den angegebenen Link eingibt). Studenten schreiben genauso wie
       Robert Wilson und David Moss.
       
       „Landschaft mit entfernten Verwandten“ ist auch der Titel einer 2002
       uraufgeführten Oper von Goebbels, in der unter anderem Texte von Gertrude
       Stein vertont sind. Goebbels ist ein Mann des vehementen Einfalls. In
       seiner 50-jährigen Karriere zwischen Komposition, bildender Kunst,
       Radio-Hörspiel und Theater gibt es in seinem Repertoire aber einen
       Evergreen: Inhalt versus Form. Und Form interpretiert Goebbels als
       Aufforderung zum Experiment. Der 1952 Geborene erklärte das Wie des
       Ausdrucks sogar einmal zur Utopie, dem Wie vertraue er mehr als dem Was,
       sagte er Fritz J. Raddatz.
       
       Was in seinen intermedialen [6][Werken] passiert, passiert gleichzeitig:
       MusikerInnen, Texte, Bilder, Bühne und Raum, alles entfaltet sich
       gleichwertig. Wenn man etwa der Montage seiner Hörstücke (auf Basis der
       Texte von Heiner Müller) nachspürt, so surren die Arpeggios eines
       Synthesizers durch das Klangpanorama von „Die Befreiung des Prometheus“ wie
       Staubpartikel, die durch die Luft wirbeln. Die Klangkulisse bleibt offen,
       der Sound umgibt die Stimmen von Angela Schanelec und Otto Sander, ein
       subtiles Abweichen von der Ordnung, schafft eine Pause in der Zeit.
       
       15 Jun 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=uKggsX5iHq0
 (DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=mhSe6quCoCI
 (DIR) [3] https://www.youtube.com/watch?v=9LTGPadL59Y&list=PL9hJHWYkBfpNrAS7YIbnF-4EsMBEQ2-HM
 (DIR) [4] https://www.youtube.com/watch?v=3C8GRK3eAk0&list=PLTSgy7fzikbl7uqfEIyyBPSHl2SVz7NTd
 (DIR) [5] https://www.youtube.com/watch?v=JS-ANZy918k
 (DIR) [6] https://www.youtube.com/watch?v=F2_6Fn6qSt4
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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