# taz.de -- Dostojewskis „Der Spieler“ als Oper: Flashback eines Spielsüchtigen
       
       > Karin Henkel inszeniert in Gent mit Sergej Prokofjews „Der Spieler“ ihre
       > erste Oper. Für eine imponierende Gesamtleistung gibt es großen Jubel.
       
 (IMG) Bild: So hat es mal wirklich ausgesehen, im Spielcasino Wiesbaden (undatiertes Archivbild)
       
       Ein bedrohliches Dröhnen liegt in der Luft. Sind das dumpfe Trommelwirbel,
       oder kommt die Geräuschouvertüre vom Band? Dann ertönt aus dem Off
       Russisch, zitiert wird aus Dostojewskis Roman „Der Spieler“. Die Stimme
       fragt sich in bohrenden Tonfall, was eigentlich in Roulettenburg geschehen
       ist, jenem fiktiven Ort, in dem Dostojewskis Roman angesiedelt ist. Dann
       erst setzt Prokofjews fiebrige, motorisch drängende Musik ein.
       
       Karin Henkel erzählt Prokofjews Oper also in der Rückschau, denn zu den
       raunenden Worten aus dem Off liegt der Protagonist – vielmehr sein Double,
       wie sich bald herausstellt – in bleiernem Schlaf in einem düsteren
       Hotelzimmer. In Zeitlupe betritt eine Reinigungskraft den Raum, wirft einen
       Putzlappen auf den Boden, wischt, hebt den Lappen auf, der nun rote Flecken
       hat. Blut?
       
       Das fiktive Roulettenburg spielt auf Wiesbaden an, wo Dostojewski eigene
       Erfahrungen mit der Spielsucht machte, die das große Thema des Romans ist.
       Neben der Hauptfigur, dem spielsüchtigen Hauslehrer Aleksej geht es um
       einen abgewirtschafteten General, der auf die Erbschaft seiner reichen
       Großtante Baboelenka aus Moskau spekuliert. Doch statt zu sterben, reist
       die Tante an und verzockt innerhalb kürzester Zeit ihr gesamtes Geld. Dann
       erspielt Alexej sich ein kleines Vermögen, mit dem er seine Angebetete
       Polina beeindrucken will. Doch die Sucht treibt ihn immer weiter.
       
       In Roulettenburg spielt auch Prokofjews Oper, die er bereits 1917 auf ein
       größtenteils selbst aus Dostojewskis Dialogen gefertigtes Libretto
       komponierte, die aber mit ihrer Uraufführung noch bis 1929 in Brüssel
       warten musste. Karin Henkel verlegt die staccatoartig schroff gefügte
       Handlung in ein Hotelzimmer mit zwei einzeln stehenden Betten, das
       Bühnenbildnerin Muriel Gerstner dunkelgrün ausgepolstert und nur mit einer
       funzeligen Stehlampe möbliert hat. Kein Kasinoambiente, keine Spieltische,
       nur das einsame Hotelzimmer.
       
       ## Bizarre Verrenkungen
       
       Sobald die Musik einsetzt, richtet sich der Tänzer Miguel do Vale aus dem
       Bett auf – er spielt das Double des spielsüchtigen Aleksej, – und beginnt
       einen bizarren Schüttel- und Verrenkungstanz, dem in seinem Dauertremor
       einfachste Verrichtungen wie das Anziehen einer Hose oder eines Schuhs zur
       Herkulesaufgabe werden.
       
       Do Vale ist die ins grotesk verzerrte Vergrößerung von Aleksejs zerrüttetem
       Innenleben, dessen singende Verkörperung in Gestalt des Tenors Ladislav
       Elgr alsbald in einer zweiten Ausgabe des Hotelzimmers auftaucht, die sich
       hinter dem ersten als perfekte Kopie erhebt. Im Laufe des Abends kommt noch
       eine dritte Version des Hotelzimmers hinzu, so dass die Figuren, von denen
       einige wieder mit Doubles gesegnet sind, ständig buchstäblich und zugleich
       metaphorisch die Handlungs- und Realitätsebenen wechseln.
       
       Abgesehen davon, dass alle Ereignisse ohnehin als Flashback des
       Spielsüchtigen inszeniert sind. Karin Henkel hält so das Geschehen in
       ständiger Bewegung, sie spielt virtuos mit den brüchigen
       Personenkonstellationen und führt jede einzelne Figur mit großer
       Detailfreude und Präzision.
       
       Der Opernnovizin Henkel kommt entgegen, dass Prokofjews Werk nicht mit
       Belcanto- oder Da-capo-Längen oder auch mit spätromantischem Atem gesegnet
       ist, sondern ohne Arien in knapper, rezitativischer Wort-für-Wort-Vertonung
       sich dem Tempo des Sprechtheaters nähert. Mit dem Handwerk der
       Schauspielregisseurin trifft sie nun Prokofjews Tempo genau und reichert
       die eher holzschnittartig gezeichneten Figuren mit psychologischen Facetten
       und Brüchen an.
       
       ## Gesellschaftliche Selbstzerstörung
       
       Man mag einwenden, dass Prokofjews maschinenhaft drängender Duktus das
       Psychologische eben gerade nicht meinte, sondern eher in objektivierender
       Weise gesellschaftliche Selbstzerstörungsprozesse und Tableaus zeigen und
       weniger in die Tiefe einzelner Schicksale leuchten wollte, aber in Gent
       funktionieren Henkels Zuspitzungen und sichern die Aufmerksamkeit.
       
       Zumal Dmitri Jurowski das Konzept der differenzierten Durchleuchtung auch
       im Graben beglaubigt. Jurowski entzieht sich dem ruhelosen Hämmern und den
       explosiven Entladungen der durchlaufenen Rhythmen Prokofjews keineswegs,
       aber er präpariert immer wieder Inseln von kammermusikalischer Delikatesse
       heraus, hört der Partitur kostbare Farbspiele und Nuancen ab und sorgt
       insgesamt für höchste Transparenz. Das große Ensemble ist famos besetzt und
       wirkt sicher im russischen Idiom.
       
       Stellvertretend für eine imponierende musikalische Gesamtleistung seien nur
       die Hauptfiguren benannt: Ladislav Elgr als höhensichere, mit
       lyrisch-veredeltem Tenor singende Titelfigur, Anna Nechaeva mit dunkelrot
       timbriertem, loderndem Sopran als unglückliche Polina, Eric Halvarson als
       knorriger General und Renée Morloc als grandios formulierende, scharf
       gezeichnete Baboelenka. Großer Jubel.
       
       17 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Regine Müller
       
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