# taz.de -- Angesagte Musik in Kirchen: Huldigt den Noisegöttern!
       
       > Auch für Heiden und Abtrünnige erfüllen Gotteshäuser in Berlin ihren
       > Sinn: Als Konzertorte sind sie immer angesagter. Selbst die Hipster
       > pilgern hin
       
 (IMG) Bild: Der Altar ist gedeckt: Vor dem Nurse With Wound-Konzert in der Sophienkirche, April 2017
       
       Kürzlich vor der Sophienkirche in Mitte: Alles, was in der Berliner
       Popszene etwas auf sich hält, pilgert Richtung Gotteshaus. Mehrere hundert
       Besucher stehen brav in der Schlange vor der Kirche, trinken Bier und
       unterhalten sich, warten in in hippen Dresses mit Hochwasserhosen,
       Bomberjacke und Undercut-Frisur.
       
       Die britische Avantgarde-Band [1][Nurse With Wound] gibt ein Konzert, unter
       der Kirchenkuppel ist später experimentelle Elektronik und Krach zu hören,
       das Publikum im vollen Saal wiegt auf Kirchenbänken mit.
       
       In diesen Tagen, während des [2][Kirchentages], mögen die heiligen Hallen
       wieder ihrer eigentlichen Bestimmung nachkommen, den Rest des Jahres werden
       sie in Berlin aber auch oft zu Konzertsälen umfunktioniert, da sind sie
       Veranstaltungsorte wie das SO36 oder das Huxley's auch. Im gottlosen
       Berlin, in dem über 60 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner
       konfessionslos sind, ergibt es natürlich Sinn, dass man die Kirchen rockt.
       
       Dass Gotteshäuser als besondere Konzertorte immer beliebter werden, zeigt
       die Eventreihe, die die Italienerin Manuela Benetton im Frühjahr gestartet
       hat. Nach dem ausverkauften Abend mit der Experimentalcombo Nurse With
       Wound holt die aus Turin stammende Veranstalterin am Mittwoch die nächste
       Legende nach Berlin: Masami Akita alias [3][Merzbow] tritt dann in der
       St.-Elisabeth-Kirche auf – für Fans, die in dem seit 1979 aktiven Musiker
       einen Noise-Elektronik-Gott sehen, ein wahrhaft würdiger Ort.
       
       Für Organisatorin Benetton sind Kathedralen nahezu ideale Locations: „Ein
       Konzert in einer Kirche ist ein völlig anderes Erlebnis als an einem
       anderen Ort“, erklärt sie, „die Leute gehen mit einer anderen Haltung in
       ein solches Konzert. Sie sind ruhiger und fokussierter. Sie respektieren
       den Künstler in einem solchen Ambiente viel mehr.“
       
       ## Weinen in Reihe eins
       
       Benetton ist seit Ende der Nullerjahre an der Spree, seit 2013 veranstaltet
       sie eigene Konzertreihen, meist mit experimenteller elektronischer Musik.
       Zunächst hat sie die Bands in die Kantine am Berghain, ins NK Projekt oder
       ins ausland geholt, vergangenes Jahr dann lotste sie den US-Minimal-Pionier
       Terry Riley und dessen Sohn Gyan Riley in die Zionskirche. „Das war ein
       total berührendes Konzert, manche Menschen in den ersten Reihen haben
       geweint“, erzählt sie. Das habe sie bestärkt, die sakralen Räume weiterhin
       für Livekonzerte zu nutzen.
       
       Das Phänomen, Kirchen als Veranstaltungsorte zu nutzen, ist alles andere
       als neu. In der DDR und in Ostberlin waren die evangelischen Kirchen
       ohnehin Orte, an denen zum Beispiel Punk- und Jazzmusik stattfinden durfte.
       Und in Westberlin haben sich schon in der Vorwendezeiten Kirchen für
       weltliche Musik geöffnet, die Passionskirche etwa veranstaltet seit den
       frühen Achtzigern Konzerte.
       
       „Es fing an mit Jazzkonzerten“, sagt Sigrid Künstner, die für die
       Passionskirche und die Heilig-Kreuz-Kirche die Musikveranstaltungen managt,
       „es gab damals eine Konzertreihe namens ‚Concerts in Passion‘.“ In beiden
       Kirchen finden heute vor allem Singer-Songwriter- und Global-Pop-Konzerte
       statt, Veranstalter wie Loft, Trinity und Weltkonzerte buchen die Säle. Mit
       der im Winter laufenden Reihe „Nachtklänge“ – meditative Musik – hat man
       auch ein eigenes Format entwickelt.
       
       Wären die Popkonzerte nicht, würden die sakralen Räume oft leer stehen.
       „Ich glaube, dass die Kirchen auch ihre Verantwortung spüren“, meint
       Künstner. „Wenn die Räume nur einmal in der Woche für den Gottesdienst
       öffnen würden, wäre das auch unökonomisch.“ Denn, ja, eine Einnahmequelle
       ist die Vermietung natürlich auch. Für kommerzielle Veranstalter kosten
       Künstners Kirchen in der Regel gut rund 1.100 Euro pro Abend, für soziale
       Initiativen aber gibt es Vergünstigungen.
       
       Ob es stilistisch und inhaltlich No-gos gibt? „Bei manchen Konzerten hat
       man schon Bauchschmerzen“, sagt Künstner, „Heavy Metal oder Gothic würden
       eher nicht in unser Profil passen.“ Nun, aber für diese Stile gibt es ja
       vielleicht noch ein anderes leerstehendes Gotteshäuschen in der Hauptstadt
       der Atheisten und Agnostiker.
       
       27 May 2017
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=9sYhCaEZdOo
 (DIR) [2] /Kirchentag/!t5067162/
 (DIR) [3] https://www.youtube.com/watch?v=AguPH0XBxdw
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
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