# taz.de -- Fotografie: Wenn alles zusammenhängt
       
       > Der Künstler Sascha Weidner ist jung gestorben. Aus seinem Nachlass hat
       > das Sprengel-Museum Hannover eine Ausstellung zusammengestellt
       
 (IMG) Bild: Weidner und Kitz: Ausschnitt aus dem Selbstporträt „Reh II“ von 2013
       
       „Bitte schreiben Sie nicht, dass das Sprengel-Museum Hannover fotografische
       Nachlässe aufnimmt“, bittet Inka Schube, Kuratorin für Fotografie am
       Museum, „das könnten wir nicht leisten.“ Eine Ausnahme hat sie allerdings
       gemacht: 2016 übernahm das Haus einen großen Teil des Werkes von Sascha
       Weidner als Schenkung.
       
       Der 1974 in Georgsmarienhütte geborene Fotograf verstarb 2015, gerade
       40-jährig, an Herzversagen. Er steckte gerade mitten in einer
       fotografischen Arbeit zum Jubiläum zweier niedersächsischer Stiftungen, die
       regelmäßig auch den Bereich Fotografie des Sprengel-Museums fördern. Und da
       Schube über lange Jahre das Schaffen Weidners begleitet hat, 2006 erstmals
       einen Katalogbeitrag für ihn verfasste, griff sie zu.
       
       Seitdem arbeitet sie sich mit wechselnden Assistent*innen und
       Restaurator*innen durch neun Kubikmeter Material: etwa 200 Abzüge, teils
       große Formate, dazu Diaserien, Dateien, Schriftstücke und auch
       konservatorisch heikle Relikte aus zahlreichen Ausstellungen Weidners. Als
       erste Sichtung des Nachlasses hat sie daraus nun eine äußerst frische,
       vitale Ausstellung destilliert, die mit 120 Exponaten – Fotos, komplexen
       Buchprojekten und installativen Objekten – sechs Räume spielend in den
       Griff bekommt.
       
       Wenn ein Künstler jung verstirbt, dann gibt es kein frühes, kein reifes und
       vielleicht noch ein spätes Schaffen, das genügend Zeit fand, aufeinander
       aufzubauen und sich, wo nötig, zu korrigieren oder auch infrage zu stellen.
       Schube griff zur chronologischen Abfolge, die sie thematisch gruppiert,
       gibt so dem Überblick etwas Struktur. Und sie hängte die Bilder sehr
       locker, „poetisch“ wie sie sagt, durchaus verwandt den großen
       erzählerischen Tableaus, die Weidner meist für seine Ausstellungen
       komponierte.
       
       Alltägliches trifft auf magische Entrücktheit 
       
       Weidners Bildanlässe waren alltäglich: nächtliche Szenen in einer großen
       Stadt, isolierte Menschen, die sich der Kamera zu entziehen scheinen, immer
       wieder Natur und noch häufiger Wasser. Und doch ist seinen Fotografien eine
       magische Entrücktheit eigen: Sentimentalität ohne Scheu vor Kitsch, tiefe
       Melancholie, manchmal Dramatik.
       
       Sie wollen wie selbstverständlich zwischen der Abbildqualität eines
       technischen Mediums und der radikalen Freiheit einer künstlerischen
       Disziplin oszillieren, sind noch objektives Bilddokument und bereits höchst
       subjektives Weltempfinden gleichermaßen. Ermutigt zu dieser Auslegung
       künstlerischer Fotografie wurde Weidner von Dörte Eißfeld, bei der er an
       der Hochschule für bildende Künste in Braunschweig mit Auszeichnung
       diplomierte und 2004 sein Meisterschuljahr absolvierte.
       
       Aber er hatte sich auch mit Film und Malerei beschäftigt sowie
       Kommunikationsdesign studiert, das starre Festhalten an einer Disziplin
       interessierte ihn nicht. Und so erweiterte er auch den Kanon des
       Fotografierbaren, schien, wie mit kindlicher Freude, ausprobieren zu
       wollen, wie etwas aussehen kann, wenn es fotografiert wird.
       
       Manche seiner Bildfindungen zerflossen zu abstrakten Licht- und
       Farbereignissen, Schäumen, Wolken oder Assemblagen, Strukturen
       verselbstständigten sich zu autonomer Grafik, Bildschärfe trat neben
       Diffuses. Er drehte fertige Aufnahmen um 90 oder 180 Grad: Menschen wollten
       auf einmal schweben, eine Hand berührt zärtlich einen senkrechten
       Wasserspiegel. Ebenso ging er bei dem, was er für ausstellbar hielt, bis an
       die Scham- oder Schmerzgrenze der Besucher, bezog Familienfotos und
       regelmäßig Porträts seiner sterbenden oder gerade verstorbenen Eltern ein.
       
       Weidner war ein Getriebener 
       
       Wer Sascha Weidner jemals begegnet ist, verspürte seinen rastlosen
       Schaffensdrang, der sich auch in vielen Auslandsstipendien und zahllosen
       Reisen kaum stillen ließ. Er sei ein Getriebener, ein romantisch bewegter
       Reisender, unruhig wie bei dem ersten Schrei auf dieser Welt, sagte Sascha
       Weidner in einem kleinen, 2013 erschienenen autobiografischen Film. Und
       wenn es eine thematische Obsession in seinem Werk gab, dann wäre es der
       Tod, die Unbeherrschbarkeit des Seins, aber auch die Schönheit des
       Vergänglichen.
       
       Wie magnetisch zog es Weidner etwa während eines Japanaufenthalts in den
       großen dichten Wald von Aokigahara, am Fuße des heiligen Fuji, drei
       Autostunden entfernt von Tokio. Bis zu hundert Japaner nehmen sich hier
       jedes Jahr das Leben, denn Selbstmord in Wohnungen ist tabuisiert und wird
       oft mit hohen Schadensersatzforderungen an die Hinterbliebenen geahndet.
       
       Der Wald ist durchzogen von dünnen bunten Schnüren, die sich Lebensmüde wie
       Ariadnefäden spannen, sollten sie ihren Entschluss revidieren und ins
       Dasein zurückkehren wollen. Weidner registrierte ihre Lebenszeichen –
       Zelte, Taschen, Kleidung –, eingebettet in ein faszinierendes,
       moosüberfangenes Grün, ein mysteriöses Labyrinth.
       
       Und so gelang es ihm, dem Tod seinen Schrecken zu nehmen, er gab ihm
       vielmehr Anlass zu Fotos intensiver Naturerfahrung. „Vom Ende her gibt man
       einem Werk einen Sinn, und auch wenn man davon abstrahieren möchte, kann
       man von diesem Wissen nicht absehen“, schrieb Thierry Chervel im
       „Perlentaucher“, als er einen von Sascha Weidner noch selbst konzipierten
       Bildband besprach.
       
       Das Sprengel-Museum zerstreut diese Befangenheit und würdigt einen
       produktiven Ausnahmekünstler, der Himmel und Erde, Tod und Schönheit nicht
       nur fotografisch stets zusammen sah.
       
       Sascha Weidner. It's all connected somehow (Nachlasssichtung I), bis 19.11.
       im Sprengelmuseum Hannover
       
       1 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bettina Maria Brosowsky
       
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