# taz.de -- Düsterer Thriller „Dunkels Gesetz“: „Auf alles, was sich bewegt“
       
       > Mit „Dunkels Gesetz“ legt der Schriftsteller Sven Heuchert ein
       > großartiges Krimi-Debüt vor. Ein Besuch beim Autor in seiner Heimatstadt
       > Siegburg.
       
 (IMG) Bild: Der Schriftsteller Sven Heuchert macht in seinem Romandebüt alles richtig
       
       Sven Heuchert ist erkältet. Trotzdem empfängt er an einem wettermäßig
       instabilen Septembertag zum Interview in seiner Rockabilly-Altbauwohnung im
       Zentrum von Siegburg. Trotzdem kocht er ein ganz hervorragendes Mittagessen
       – Himmel un Ääd. Trotzdem hat er dafür noch am Markt Kartoffeln gekauft,
       hat mit dem Standbesitzer rheinisch gescherzt („Wo is denn dein Bruder? Dat
       is der, der arbeitet in der Familie, ne?“ „Du, wenn isch disch nit so jut
       kennen wööd …“) und mit Damen und Herren jeden Alters Grüße ausgetauscht.
       
       Obwohl Sven Heuchert erkältet ist, wird er nach dem Mittagessen noch zum
       Fototermin in dem an seinen Geburtsstadtteil Stallberg angrenzenden dunklen
       Wald antreten und am Abend in der Bernstein-Verlagsbuchhandlung der
       Gebrüder Remmel zum ersten mal aus seinem gerade bei Ullstein erschienen
       Roman vorlesen: „Dunkels Gesetz“. Abschließend wird er wieder in seine
       Küche einladen und im Kreis alter Freunde und seiner Lebensgefährtin
       kräftige Schlucke aus seiner sorgfältig zusammengestellten Bourbon-Bar
       ausschenken. Und dann gegen 0.30 Uhr wird Sven Heuchert jovial und bestimmt
       sagen, dass jetzt die Zeit zum Aufbruch gekommen sei, nicht zuletzt
       deswegen, weil er zwei Tage später in einen dreiwöchigen Urlaub nach
       Toronto fliegen wird.
       
       Wenn Sven Heuchert erkältet ist, dann ist er nicht wie Frank Sinatra in dem
       klassischen [1][Porträt] „Frank Sinatra has a cold“ von Gay Talese. Er ist
       dann nicht „Picasso without paint, Ferrari without fuel – only worse“; er
       ist schlicht immer noch der erste Debütant seit Menschengedenken im
       offiziellen deutschen Literaturbetrieb, der kein Abitur hat; der 40 Jahre
       alt ist; der Vollzeit als Hörgeräteakustikermeister arbeitet.
       
       ## Der Takt der Prosa
       
       Sven Heuchert ist ein Schriftsteller, der sich bei seiner Buchpremiere im
       plotgesteuerten Genre Kriminalroman einfach nicht damit aufhält, die Story
       zu erzählen, sondern einzelne Figuren vorstellt und erläutert, welche
       Wirkung er mit ihnen in „Dunkels Gesetz“ erzielen wollte. Er ist ein
       Dichter, der sein Handwerk nicht verbirgt, sondern bewusst ausstellt, wenn
       er Dinge sagt wie: „Dieses Kapitel ist eine Hommage an den Text ‚Death of a
       Racehorse‘ von W. C. Heinz.“ Wenn Heuchert liest, schlägt die rechte Hand
       sachte den Takt der Prosa. Und der Eindruck ist, dass er seine Partitur
       auswendig kann.
       
       „Ballistol und Sattlertran“, „schmiederaue“ Klingen: Die Figuren aus
       „Dunkels Gesetz“ wissen immer „was Ambach ist“, sie haben „Schlaraffia auch
       schon von innen gesehen“, und manch einer von ihnen ist „mehrfach chemisch
       gereinigt“. Es ist nicht nur die Luden- und Waffenhändlersprache, die
       Heuchert in seinen Wanderjahren in Köln von den inzwischen
       weggentrifizierten Kiezgrößen mitbekommen hat; es ist auch und vor allem
       die Natur, die einen beim Lesen von „Dunkels Gesetz“ sofort in einen
       durchaus beunruhigenden Bann schlägt.
       
       „ ‚Jäger?‘ ‚Nicht mehr‘, sagte Dunkel. ‚Auf was geht man hier?‘ ‚Auf alles,
       was sich bewegt.‘ “ Es regnet viel an der belgischen Grenze, „das Land
       verlor auf beiden Seiten der Straße die Ordnung“, alle Vögel am Himmel
       wollen immer nur weg, von dort, wo die Baumstümpfe von „Trameten“ befallen
       sind und auch die Menschen einem keine Hoffnung machen. „ ‚Frierst du
       etwa?‘ Marie hatte die Jackenärmel über die Hände gezogen. ‚Ist verdammt
       kalt.‘ Die Pollozek nickte. ‚Warte ab, bis der Winter kommt.‘ “
       
       ## Zinn 40
       
       Man trinkt in der Gegend eine vierzigprozentige, überhaupt nicht verkehrte,
       weinbasierte Spirituose namens Zinn 40, insbesondere wenn man wie der
       ehemalige Fremdenlegionär Dunkel eigentlich nur wegwill, nach Spanien,
       aber dafür Geld braucht. Ein alter Kollege bietet einen Securityjob in
       einer stillgelegten Grube, in der ein Junge beim Spielen tödlich
       „verunglückt“ ist. Der neue Besitzer, eine kanadische AG, will, da die
       Rohstoffpreise weiter steigen, dort noch irgendwann anderthalb Millionen
       Tonnen Blei und Zink herausholen – und möchte keine schlechte Presse, bis
       es so weit ist.
       
       Dunkel aber, so der Eindruck beim Lesen, so die Bestätigung Heucherts, ist
       gar nicht der Held der Geschichte, er ist ihr „Katalysator“. Aber um wen
       geht es dann? Bei der 16-jährigen Marie vermutet der Besucher gleich und
       milieumäßig nicht völlig weit hergeholt einen Anklang an Georg Büchners
       Marie aus „Woyzeck“.
       
       Aber Heuchert bleibt näher dran, „die Marie“, das sei Rotwelsch für Geld:
       Die Männer umschleichen das Mädchen wie Kater, um sie schnellstmöglich zum
       Laufen, auf den Strich zu kriegen. Mit ihrer Mutter, die scheinbar von
       ihrem Liebhaber unbemerkt auch als Prostituierte arbeitet, ist Marie bei
       Achim untergekommen. Achims Familie hatte mal viel Land in der Gegend,
       geblieben ist davon nur eine schrottige Tankstelle, in der Marie aushilft
       und dort Dunkel trifft. „Mein Alter ist tot, ich will noch was leben, und
       deswegen brauch ich Kohle“, sagt Achim und das wird natürlich nichts und
       doch müssen für diesen Traum Menschen sterben.
       
       ## Lesen zu „Angie“
       
       Als Sven Heuchert im goethebüstengeschmückten Mezzanin der Buchhandlung der
       Zwillingsbrüder Remmel in Siegburg liest, rieselt aus der Wohnung darüber
       leise und penetrant der Song „Angie“ durch die Decke, später kläfft
       ausdauernd ein Hund. Als Heuchert das erste Mal hier las, 2015, aus dem
       Manuskript seines Storybandes „Asche“, dachten die Brüder sofort, dass
       diese Stories eine ISBN-Nummer bräuchten, und brachten das Buch im
       hauseigenen Bernstein-Verlag heraus. Bei Heuchert nämlich handle es sich
       nicht um einen aufgehenden Stern, sondern um einen einschlagenden Meteor.
       
       Davor, erzählt Sven Heuchert beim Mittagessen, lägen zehn Jahre Arbeit an
       Texten und Austausch mit seiner Schreibgruppe via E-Mail und bei jährlichen
       Treffen. Er ist einverstanden, die ein Dutzend über den deutschsprachigen
       Raum verteilten Schreib-, aber nicht zwingend auch
       Veröffentlichungsinteressierten ein „ausgelagertes Literaturinstitut“ zu
       nennen. Vielleicht ist es dieser lange Vorlauf, vielleicht ist es sein
       Kommen von der Musik, von der Song-Line zum Vers zur Kurzgeschichte zum
       Roman, der seine Literatur so kräftig macht.
       
       Jedenfalls liest der Besucher im Zug von Berlin nach Siegburg noch mal den
       Roman, er liest Stories aus „Asche“ und er stellt durchaus erleichtert,
       aber auch immer noch verblüfft fest, dass der Eindruck vom ersten,
       zunehmend aufgeregten Lesen sich exakt wiederherstellt: Hier stimmt einfach
       alles; und es wäre überhaupt kein Nachteil, wenn herauskäme, dass diese
       trüben Siedlungen, diese düsteren Wälder und nach Bratenfett riechenden
       Wohnungen, diese zu reinigenden Imbiss- und verkohlten Wohnwagen gar nicht
       erlebt, sondern nur gemacht wären.
       
       ## Und dann James Ellroy
       
       Wenn man einen Tag mit Heuchert verbracht hat, kommt man zu dem Schluss,
       auf den man auch allein hätte kommen können: Es ist beides, gelebt und
       gesteigert, es sind mythische Landschaften und mythologische Charaktere,
       die ihre Herkunft aus der rheinischen Provinz aber nie verleugnen. Indem es
       Heuchert radikal um Kunst geht, schreibt er Sachen, die mehr Realität
       haben, als wenn man, sagen wir, den NSU-Komplex künstlerisch zu verarbeiten
       sucht. „Letztlich besitze ich bloß meinen Geburtsort, von dessen Sprache
       ich besessen bin“, hat der US-Autor James Ellroy gesagt.
       
       Das ist hier assoziativ geschrieben, aber man kann die Tendenz belegen, mit
       einem Klick auf die Amazon-Rezensionen von „Dunkels Gesetz“, die auch
       Heuchert – er war lange Zeit selbständig – immer im Blick hat. Man sieht da
       sehr schön, wie das Buch die Leute verwirrt, von fünf Sternen bis zu einem
       Stern sind die Wertungen hübsch gleichmäßig verteilt, Begeisterung wechselt
       mit Unverständnis und Enttäuschung. Das mag für nichts stehen, aber ich
       traue mich schon auch zu sagen: Das steht für etwas Neues. Als Sven
       Heuchert beim Fototermin im Wald ein SUV rasend auf dem Forstweg
       entgegenkommt, geht er einfach weiter. Als der Wagen passiert, ruft er ihm
       ein so energisch wie rheinisch klingendes „Öiy!“ gegen die Scheiben.
       
       Da sieht er (geboxt hat er natürlich auch mal) wieder sehr aus wie jemand,
       der weiß, wo er hinwill – und wie er dort hinkommt.
       
       8 Oct 2017
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.esquire.com/news-politics/a638/frank-sinatra-has-a-cold-gay-talese/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ambros Waibel
       
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