# taz.de -- Deniz Yücel über die Absurdität der Haft: Klagt mich endlich an
       
       > 271 Tage ist Welt-Korrespondent Deniz Yücel in Haft, ohne Anklageschrift.
       > Er hat eine Einzelzelle, muss allein Fußball spielen und seinen Strom
       > selber zahlen.
       
 (IMG) Bild: Als Deniz Yücel noch Meer sehen konnte
       
       Doris Akrap darüber, wie [1][dieses Interview] entstand: „Am Dienstag sind
       es neun Monate, die Deniz hinter Gittern verbringt. Als ich ihn das letzte
       Mal in Istanbul besuchte, im Oktober 2016, musste er ins Krankenhaus, weil
       ihm der Blinddarm entfernt wurde. Als ich ihn das letzte Mal sah, am 27.
       Februar im Justizpalast von Istanbul, wurde ihm die Freiheit genommen. Nach
       zweiwöchigem Polizeigewahrsam wurde er von sechs Wärtern vor das Büro des
       Staatsanwalts geführt. Der Haftrichter entschied in dieser Nacht, Deniz
       müsse in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe: Terrorpropaganda und
       Volksverhetzung. Die Begründung: zwei Texte, die in der Welt publiziert
       wurden. Seitdem habe ich mit Deniz nicht mehr gesprochen. 
       
       Ich kenne ihn seit dem Abitur in den frühen Neunzigern. Als ich 2003 mein
       erstes Interview für eine seriöse Zeitung führte (für die Jungle World, mit
       dem türkisch-deutschen Rapper Killa Hakan) war Deniz mein Redakteur. Sein
       wichtigster Rat: „Interviews sind auch ein Text. Du musst versuchen, eine
       Geschichte zu erzählen“. Seitdem habe ich einige Interviews mit Leuten, die
       irgendwas mit der Türkei zu tun haben, geführt. „Langsam hast du genug
       zusammen für ein Buch: Doris’ lustige Türken-Interviews“, sagte Deniz
       irgendwann. Ein Interview mit ihm selbst, weil er im Gefängnis sitzt, war
       darin nie vorgesehen. 
       
       Dieses Interview ist auf ungewöhnliche Weise entstanden. Meine Fragen habe
       ich schriftlich über Deniz’ Anwälte gestellt und Deniz hat sie über die
       Anwälte schriftlich beantwortet. Meine Rückfragen und seine Antworten dazu
       gingen dann auf demselben Weg noch zwei Mal hin und her. Dazwischen lagen
       jeweils mehrere Tage. 
       
       Meine Fragen, so hoffe ich, sind auch die Fragen, die Leser interessieren,
       die Deniz nicht so gut kennen. Sicher bleiben tausend Fragen offen. Vor
       allem die, die ich nicht stellen konnte, weil er sie nicht beantworten
       kann: Deniz, wann wirst du das Meer sehen?“
       
       taz am wochenende: Deniz, wie geht es dir? 
       
       Deniz Yücel: Och, ganz okay. Danke der Nachfrage. Obwohl noch immer keine
       Anklageschrift vorliegt, weiß ich ja, weshalb ich eingesperrt bin: weil
       ich, so meine ich mir einbilden zu können, meinen Job als Journalist
       ordentlich gemacht habe. Und obwohl ich in Einzelhaft sitze, weiß ich, dank
       der vielen Menschen, die sich für mich und für meine inhaftierten Kollegen
       einsetzen, dass ich nicht alleine bin. Das hilft mir sehr.
       
       Du hast im Juni in der Welt [2][beschrieben], dass es auch im Knast so was
       wie ein Wochenende gibt. Alltag im Gefängnis – wie sieht der bei dir aus:
       Gehst du jeden Abend um die gleiche Uhrzeit schlafen? Fragen die Wärter
       dich morgens, wie es dir geht? Schneidest du so wie Paulie in deinem
       Lieblingsfilm „Goodfellas“ den Knoblauch mit der Rasierklinge? 
       
       Silivri Nr. 9 ist ein Hochsicherheitsgefängnis; es gibt hier nichts, das du
       aus „Die Verurteilten“ oder „Orange Is the New Black“ kennst – keinen
       gemeinsamen Hofgang, keine Gemeinschaftsduschen, keinen Essenssaal. Und
       natürlich keine Rasierklingen. Es kommt auch niemand, um abends das Licht
       abzuschalten, sodass ich wie gewohnt spät zu Bett gehe; meistens gegen zwei
       Uhr nachts. Dafür muss ich den Strom selber bezahlen.
       
       Wie bitte? Aber Miete musst du nicht bezahlen? 
       
       Nee, nur Strom. Einmal im Monat kommt die Rechnung. Die Aufseher schließen
       morgens die Tür zu meinem kleinen Hof, nehmen Anträge und Einkaufslisten
       entgegen und schauen natürlich nach, ob noch alle da sind. Dann sind sie
       immer in Eile, ebenso, wenn sie abends zum Abschließen und Nachschauen
       kommen. Bei anderen Gelegenheiten plaudern wir schon, etwa wenn sie mich
       zum Anwaltsgespräch begleiten. Wenn ich mir aus den wöchentlichen Einkäufen
       im Knastladen etwas Warmes zu essen zubereiten oder das Gefängnisessen
       aufbessern möchte, bleibt mir nur der Dampf aus dem Wasserkocher und ein
       Gurkenglas. Hier würden auch Paulies Kochkünste an ihre Grenzen stoßen.
       Apropos: Wenn du selber als Geisel genommen wirst, vergeht dir die Lust auf
       Mafiageschichten.
       
       Als du am 1. März ins Gefängnis von Silivri überstellt wurdest, sagte mir
       dein Anwalt Veysel Ok, dass es dir dort besser gehen werde als in dem
       Schmuddelknast Metris in Istanbul: „[3][Er kann dort Freunde finden.]“ Hast
       du welche gefunden? 
       
       Meine Anwälte leisten unter auch für sie persönlich schwierigen Bedingungen
       großartige Arbeit. Aber Veysel konnte nicht ahnen, dass ich in Einzelhaft
       kommen würde. Dafür gibt es nämlich sonst kein anderes Beispiel; in
       Istanbul bin ich der einzige Journalist in Einzelhaft. Normalerweise
       bedeutet Einzelhaft übrigens auch keine völlige Isolation, es gibt Sport in
       größeren Gruppen, und für einige Stunden in der Woche kann man sich mit
       anderen Gefangenen seiner Wahl zusammenschließen lassen. Mit dem
       Ausnahmezustand wurden diese Dinge abgeschafft. Immerhin: Seit Mai werden
       im Gefängnis Silivri Nr. 9 die Gefangenen in Einzelhaft für eine Stunde in
       der Woche auf den kleinen Sportplatz gelassen.
       
       Du kannst jetzt also Fußball spielen? 
       
       Nein. Denn anders als meine Nachbarn – meist ehemalige Richter und
       Polizeioffiziere – bin ich sogar dort alleine. Vorteil: Ich verlasse den
       Platz stets als Sieger – könnte auch für den HSV oder die türkische
       Nationalmannschaft ein interessantes Modell sein. Ich glaube, stattdessen
       habe ich draußen viele neue Freunde gefunden. Hier drinnen aber nur einen:
       den Richter in der Nachbarzelle, mit dem ich mich brüllend von Hof zu Hof
       unterhalten kann, ohne dass wir uns je sehen würden.
       
       Ist der Richter noch da? 
       
       Ja. Er hat zwölf Monate auf seine Anklageschrift gewartet und weitere vier
       auf die Prozesseröffnung. Eines muss ich dazu sagen: Ich halte nicht alle
       4.500 Richter und Staatsanwälte, die seit dem Putschversuch entlassen
       wurden und von denen etwa die Hälfte verhaftet wurde, für unschuldig. So
       manche haben sich als Anhänger der Gülen-Organisation in den politischen
       Verfahren des Amtsmissbrauchs schuldig gemacht und gehören tatsächlich auf
       die Anklagebank – zusammen mit den Verantwortlichen in der Regierung, die
       diese Prozesse gefördert und unterstützt haben. Anderseits sitzen viele
       Richter in Haft, die mit alledem nichts zu tun hatten. Das gilt auch für
       meinen Nachbarn.
       
       Du wartest seit über acht Monaten auf deine Anklageschrift. Sind die
       Staatsanwälte überfordert oder lassen sie sich absichtlich Zeit? 
       
       Türkische Staatsanwälte haben in den vergangenen Monaten gezeigt, dass sie
       beides können: sowohl seriöse Anklageschriften als auch fantastische
       Literatur. In den Verfahren gegen die unmittelbar am Putschversuch
       beteiligten Militärs und Zivilisten haben sie – soweit ich das aus der
       Medienberichterstattung beurteilen kann – nicht nur überzeugende Beweise
       für die individuelle Tatbeteiligung vorgelegt, sondern auch für die
       federführende Rolle der Gülen-Organisation. Dennoch sind viele Fragen im
       Zusammenhang mit dem Putschversuch unklar. Grob gilt: Je mehr sich die
       Anklageschriften von den Vorgängen in jener Nacht entfernen, umso dünner
       werden sie. In den Anklageschriften gegen Journalisten, oppositionelle
       Politiker und kurdische oder linke Aktivisten zählen rechtsstaatliche
       Prinzipien oder bloß Logik und Vernunft wenig. Die Fantasie ist so groß wie
       die Schamgrenze niedrig. An Überforderung kann es also nicht liegen.
       Allerdings liegt die Initiative auch nicht bei der Staatsanwaltschaft. Ein
       Wort vom Chef und Anklageschrift, Prozesseröffnung und Freilassung laufen
       in Rekordzeit, wie wir das bei Peter Steudtner und den anderen
       Menschenrechtsaktivisten gesehen haben.
       
       Du meinst, Freilassung ist Chefsache? 
       
       Ja. Schließlich hatte sich der Staatspräsident öffentlich zum Chefankläger
       aufgeschwungen. Dasselbe hat er bei mir gemacht, bei den
       Oppositionspolitikern, etwa Selahattin Demirtaş, und zuletzt beim
       Unternehmer und Bürgerrechtler [4][Osman Kavala].
       
       Sind die Spatzen, die im Frühjahr in deinem Hof genistet haben, noch da? 
       
       Die Spatzen haben ihr Nest in der Sicherheit eines
       Hochsicherheitsgefängnisses gebaut. Und als die Brut groß genug wurde, sind
       sie ausgeflogen. Die sind ja nicht doof, die Spatzen.
       
       Sind die Wärter überrascht, dass du immer noch da bist? 
       
       Silivri Nr.9 ist eine Art Promiknast; die meisten Häftlinge, für die sich
       eine größere Öffentlichkeit interessiert, sitzen hier. Vor ein paar Jahren
       waren hier İlker Başbuğ, der vormalige Generalstabschef der türkischen
       Armee, und andere ranghohe Militärs inhaftiert. Heute sitzt hier zum
       Beispiel Hüseyin Avni Mutlu, während der Gezi-Proteste 2013 Gouverneur
       von Istanbul. Ich glaube, die Aufseher in Silivri Nr. 9 wundern sich über
       gar nichts und haben noch mehr als alle übrigen Bürgerinnen und Bürger
       dieses Landes folgende Wahrheit verinnerlicht: Das hier ist Türkiye, hier
       kann jederzeit alles passieren. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die
       Aufseher Angst haben, etwas falsch zu machen. Ein Angstregime richtet sich
       nicht allein gegen Kritiker, sondern umfasst auch die Angehörigen des
       Unterdrückungsapparats. Vollzugsbeamte, Richter, hohe Beamte, sogar
       Regierungspolitiker – jeder hat Angst. Nur einer nicht. Oder besser: Er hat
       noch mehr Angst als alle anderen, weil er weiß, was ihm blüht, falls er die
       Macht verlieren sollte. Und darum unterwirft er eine ganze Gesellschaft
       seinem Angstregime.
       
       Im Juli hast du [5][in einem Text] für die Welt geschrieben:
       „Türkei-Korrespondent müsste man jetzt sein.“ Wie viel von dem, was
       deutsche Medien über die Türkei schreiben, kriegst du mit? 
       
       Ich freue mich, dass die deutsche Öffentlichkeit weiterhin so großen Anteil
       an den Geschehnissen in der Türkei nimmt. Und ich bin meiner Zeitung, der
       Welt, und den Kolleginnen und Kollegen in allen deutschen Redaktionen
       dankbar, die mich nicht vergessen. Die deutschen Medien verfolge ich eher
       indirekt über die türkischen. Meine Anwälte bringen mir manchmal wichtige
       Artikel mit.
       
       Von den Zeitungen, die du derzeit abonniert hast: Welche hat den besten
       Sportteil? 
       
       Unabhängig von der politischen Ausrichtung und egal, ob sie nur eine oder
       gleich fünf Sportseiten haben – die türkischen Zeitungen sind alle sehr
       fußballistisch, wie es mein Freund und früherer Tischnachbar Jan Feddersen
       formulieren würde. Sportfeuilleton, das ich gerne lese, gibt es so gut wie
       gar nicht. Dafür habe ich die 11 Freunde, die mir mein Freund Imran
       regelmäßig schickt. Die gefällt sogar der „Bildungskommission“, die alle
       Druckwerke überprüft, die mir geschickt werden. Die einzige deutsche
       Zeitung, die ich regelmäßig erhalte, ist die taz. (Dass ich jemals in den
       Genuss eines taz-Knastabos kommen würde, hätte ich auch nicht gedacht,
       vielen Dank dafür. Und liebe taz-Leserinnen und -Leser, vielen Dank für
       [6][die Geburtstagsgrüße]!) Außerdem schickt mir Chefredakteur Tim Wolff
       regelmäßig die Titanic. Beim ersten Mal waren die Aufseher sehr
       misstrauisch. Ich habe dann gesagt: „Das sind ein paar Jungs aus Frankfurt,
       die machen immer so Witze.“ Das hat die Wärter überzeugt. Seither läuft die
       Übergabe reibungslos.
       
       Du hast dir von deiner Schwester Ilkay vor ein paar Monaten Leo Tolstois
       „Krieg und Frieden“ mitbringen lassen. Hast du extra dick bestellt, weil
       man nie weiß, wie lang so ein Gefängnisaufenthalt dauern kann? 
       
       So ungefähr. Allerdings muss ich gestehen, dass ich das Buch noch immer
       nicht angefangen habe zu lesen. Vielleicht ein Fehler. Denn womöglich
       verhält es sich so wie mit der Zigarette beim Warten auf den Bus: Zündest
       du sie dir an, kommt er sicher.
       
       Die mächtigsten Krieger, heißt es in „Krieg und Frieden“, sind Zeit und
       Geduld. Du musst sehr viel Zeit rumkriegen und Geduld aufbringen. Was an
       deiner Situation in der Einzelhaft macht dir am meisten Sorgen? 
       
       Isolationshaft ist Folter. Auch wenn ich eigentlich guter Dinge bin, kann
       ich nicht absehen, welche langfristigen Folgen das haben wird. Nur eine
       Folge ahne ich bereits: Ich werde jeden vollquatschen, der mir über den Weg
       läuft. Am meisten wird das natürlich Dilek ausbaden müssen. Dabei tut sie
       jetzt schon so unendlich viel für mich. Und ich glaube, diese
       Haftbedingungen haben auf alle eine ähnliche Wirkung, auch auf weniger
       gesprächige Menschen.
       
       Trotzdem: Immer wieder fragen mich Leute, ob Einzelhaft gerade für jemanden
       wie dich, der so gerne redet, besonders hart ist. 
       
       Das wirst du mir vielleicht nicht glauben, aber ich habe mal gelernt: Man
       muss ja nicht immer reden. Ansonsten schreibe ich lange Texte. Anfang
       kommenden Jahres wird in der Edition Nautilus mein neues Buch erscheinen.
       Titel: „Wir sind nicht zum Spaß hier“. Eine Auswahl aus meinen Texten in
       der Welt, der taz und der Jungle World. Dazu zwei neue Beiträge und einen
       Beitrag von meiner Frau Dilek.
       
       Und du hast ja noch deine Anwälte, richtig? 
       
       Oh ja. Und zum Glück unterlagen meine Gespräche mit den Anwälten nie
       irgendwelchen Beschränkungen. Zu mir kommen nicht nur meine eigenen,
       sondern auch Anwälte, die hier andere Mandanten betreuen, setzen mich
       regelmäßig auf ihre Besuchslisten. Und manche fahren nur aus Solidarität
       achtzig Kilometer nach Silivri, auch wenn sie im engeren Sinne mit keiner
       Verteidigung betraut sind. Die Anwälte sind die stillen Heldinnen und
       Helden dieser Epoche der türkischen Geschichte. Soweit mir bekannt, hat die
       schwierigsten Haftbedingungen der Journalist Nedim Türfent zu ertragen. Der
       Mitarbeiter der inzwischen per Erlass geschlossenen prokurdischen
       Nachrichtenagentur Diha sitzt seit 17 Monaten im Gefängnis, ein Jahr davon
       in Einzelhaft; lange Zeit bekam er weder Zeitungen noch Bücher. Für seinen
       Fall würde ich mir eine größere internationale Aufmerksamkeit wünschen. Der
       nächste Prozesstag ist am 17. November in Hakkari im äußersten Südosten des
       Landes. #FreeNedim.
       
       Dein Anwalt hat in deinem Namen vor dem [7][Europäischen Gerichtshof] für
       Menschenrechte Beschwerde über deine Inhaftierung eingelegt. Das Gericht
       hat den Fall mit Vorrang behandelt und der Türkei eine letzte
       Fristverlängerung für ihre Stellungnahme bis zum 28. November gewährt. Was
       erhoffst du dir von diesem Gericht? 
       
       Nach all der Verschleppungstaktik der türkischen Seite hoffe ich, dass der
       Gerichtshof nun zügig handelt. Also dass der Gerichtshof für die
       überschaubare Anzahl von Journalisten und Abgeordneten, deren Klagen er
       bevorzugt zu behandeln beschlossen und in deren Fällen er die türkische
       Regierung zur Stellungnahme aufgefordert hat, ein Urteil zur Inhaftierung
       spricht. Und danach werde ich gespannt sein, ob die türkische Regierung ein
       Urteil aus Straßburg zur Haftentlassung befolgen wird. Das türkische
       Verfassungsgericht hat sich ja komplett abgemeldet. In anderen aktuellen
       Verfahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bislang
       zugunsten der türkischen Regierung entschieden – etwa im Fall der
       zehntausenden entlassenen Lehrer und anderer Beamter. Die hat man auf eine
       Kommission in der Türkei verwiesen. Das hat viele türkische Oppositionelle
       enttäuscht. Ich verstehe diese Enttäuschung. Doch ich weiß auch: Der
       Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wurde gegründet, um einzelne
       Menschenrechtsverletzungen zu korrigieren; nicht, um das Abdriften eines
       Landes in den Faschismus aufzuhalten.
       
       „Der Witz hat einen Bart. Beenden Sie diese Komödie“, hat Musa Kart, der
       angeklagte Karikaturist der Cumhuriyet, in seiner Verteidigung [8][den
       Richtern gesagt]. Als was, glaubst du, werden die derzeitigen
       Gerichtsverfahren gegen Journalisten in der Türkei in die Geschichte
       eingehen?
       
       Als Schande. Wie die mit gefälschten Beweisen geführten Prozesse der
       Gülenisten-Justiz in den Jahren 2007 bis 2011. Oder die Prozesse der
       Militärjunta nach dem Putsch von 1980, in denen man mit systematischer
       körperlicher Folter Geständnisse aus den Angeklagten herauszupressen
       versuchte. Die Frage ist nicht, ob ein autoritäres Regime zusammenbricht;
       die Frage ist, welche womöglich irreversiblen Schäden es bis dahin am
       Schicksal Einzelner, an der Gesellschaft, an der Natur und am kulturellen
       Erbe anrichtet.
       
       Der beste Präsident wo gibt hat in einem Interview mit Giovanni di Lorenzo
       in der Zeit [9][über die Deutschen gesagt]: „Sie gehen schlafen, Sie wachen
       auf und sagen: Deniz“. Er hat recht. Sollten wir besser die Klappe halten,
       damit er das Interesse an dir verliert? 
       
       Eine berechtigte Frage. Aber ich glaube, die Antwort lautet: nein. In den
       letzten Monaten hat er sich kaum noch über mich geäußert. Trotzdem hat sich
       an meiner Lage nichts verändert. Darüber, was in den Köpfen anderer Leute
       vorgeht, können wir nur spekulieren. Aber ich weiß, wie es mir gehen würde,
       wenn die Öffentlichkeit mich vergessen würde: nicht so gut.
       
       Du hast kurz nach dem Putschversuch Ende Juli 2016 in der Welt [10][einen
       Kommentar geschrieben], der den Titel trug: „Vielleicht fällt Erdoğans
       Diktatur ja doch aus.“ Hast du dich geirrt? 
       
       Dilek meinte damals, ich würde die Dinge nur deshalb rosig sehen, weil ich
       in sie verliebt sei. Das weise ich natürlich zurück – also nicht das
       Verliebtsein, sondern dass ich mich in meinen politischen Einschätzungen
       von solchen persönlichen Gefühlen leiten lasse. In diesem Text Anfang
       August 2016 habe ich Indizien in aller Vorsicht zusammengetragen. Das Wort
       „Vielleicht“ stand nicht zufällig in der Überschrift.
       
       Anfang Oktober hast du in deiner Dankesbotschaft für den Leipziger Preis
       für die Freiheit und Zukunft der Medien von einem „teilzeitfaschistischen
       Regime“ gesprochen. Auf welche Kraft sollte man setzen, damit sich die
       politische Situation wieder in Richtung Teilzeitdemokratie entwickelt? 
       
       Die große Frage lautet, ob sich die unterschiedlichen, teils
       gegensätzlichen politischen Kräfte – Sozialdemokraten, säkulare
       Nationalisten, Kurden, Liberale, Sozialisten, Kemalisten, Islamisten
       außerhalb der AKP – auf ein gemeinsames Minimalprogramm verständigen
       können, das meines Erachtens lauten muss: eine neue Verfassung, mit der das
       Referendum rückgängig gemacht wird und die das Erbe des Putsches von 1980
       ersetzt. Das ist natürlich eine viel schwierigere Aufgabe, als wenn nur
       jeder für sich „Nein“ sagt. Eine nicht minder wichtige Frage lautet, ob in
       diesem Land unter diesen Umständen noch halbwegs freie und faire Wahlen
       stattfinden und eine einwandfreie Auszählung der Stimmen möglich sein wird.
       
       Wird Erdoğan im Fall einer Niederlage seine Macht einfach abgeben? 
       
       Darauf wird die Opposition eine Antwort finden müssen. Doch wenn sie sich
       nicht zusammenrauft und eine Dynamik entfaltet und eine Erzählung
       entwickelt, die auch einen Teil der bisherigen AKP-Wähler anspricht, gerade
       das Heer der Armen und Arbeitslosen, dann wird sich diese Frage nicht
       stellen. Dann wird Erdoğan mit einem unsauberen Wahlkampf, aber mit einer
       sauberen Auszählung die wichtigste Wahl der türkischen Geschichte gewinnen.
       
       Welche Farbe haben eigentlich die Wände deiner Zelle? 
       
       Beige. Und die drei Stahltüren (zum Flur, in den Hof und ins Bad), der
       Fensterrahmen samt Stahlgitter und das Stahlbett: dunkelbraun.
       
       Dunkelbraun sitzt jetzt auch im Bundestag. Schwarz-Gelb-Grün könnten die
       Farben der nächsten Bundesregierung sein. Gut oder schlecht für die
       Beziehungen Deutschland/Türkei? 
       
       Joschka Fischer sagte kurz nach der Bundestagswahl 1998: „Es gibt keine
       grüne Außenpolitik, sondern nur eine deutsche Außenpolitik.“ Türkischen
       Oppositionspolitikern und vielleicht sogar so manchem AKP-Politiker muss
       ein solches Diktum geradezu traumhaft erscheinen. Denn die Türkei unter
       Erdoğan wollte einst nach Europa. Dann gab sie sich Träumereien von einem
       neuen Osmanischen Reich hin. Und seit Neuestem schwimmt sie in
       „eurasischen“ Gewässern. Eigentlich gibt es aber gar keine türkische
       Außenpolitik. Mit wem man sich gerade fetzt und mit wem man sich wann
       wieder versöhnt, folgt allein kurzfristigen innenpolitischen Erwägungen.
       Als Zustandsbeschreibung halte ich Fischers Satz für zutreffend, auch wenn
       er die Frage aufwirft, wer denn die deutsche Außenpolitik bestimmt, wenn
       nicht die durch demokratische Wahlen legitimierten Parteien. Ein weiterer
       deutscher Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, hat in seinen letzten
       Tagen in diesem Amt den sehr richtigen Satz gesagt: „Wir können es nicht
       verhindern, dass die Türkei in eine Diktatur abdriftet. Wir müssen dem aber
       auch nicht tatenlos zusehen.“ Die entscheidende Frage lautet also, was kann
       Deutschland, was kann Europa tun?
       
       Wie lautet deine Antwort? 
       
       Ganz wichtig: die Zivilgesellschaft stärken. Und natürlich Druck ausüben.
       Aber das muss sitzen. Die EU-Beitrittsverhandlungen nicht abzubrechen, war
       zum Beispiel eine richtige Entscheidung. Das Einfrieren von EU-Geldern
       hingegen ist reine Symbolpolitik. Eine ganz schlechte Idee ist Starksprech
       – das ist etwa so erfolgversprechend, als würde man die Türken im Autokorso
       herausfordern anstatt im Biathlon. Auch keine gute Idee: Maßnahmen, die
       allein die Bevölkerung treffen wie der Visa-Beschluss der USA. Zuvor muss
       man aber die Frage beantworten, ob man bereit ist, auch bei den eigenen
       politischen und wirtschaftlichen Interessen Abstriche zu machen.
       
       Der deutsche Außenminister [11][behauptet], Exkanzler Gerhard Schröder hat
       mit dem türkischen Präsidenten über die Freilassung von Peter Steudtner
       verhandelt. Wenn du dir aussuchen könntest, wer über deine Freilassung
       verhandelt, wen würdest du wählen? 
       
       Ich will einen fairen Prozess. Und den am besten gleich morgen. Nicht mehr.
       Nicht weniger.
       
       Es gibt zwar keine Märchenfee, die den Gefangenen drei Wünsche erfüllen
       kann, trotzdem: Was sind die drei wichtigsten Dinge, die du dir wünschst? 
       
       Ich nehme nur einen Wunsch: Gerechtigkeit. Alles weitere ergibt sich
       daraus. Und die beiden übrigen Wünsche hebe ich für später auf,
       einverstanden?
       
       11 Nov 2017
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Doris Akrap
       
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