# taz.de -- Studierende gegen Berliner Uni-Professor: Der Andere ist keine Sphinx
       
       > An der Berliner Humboldt-Uni geht eine trotzkistische Gruppe gegen den
       > Historiker Jörg Baberowski vor. Was er denkt und sagt, passt ihnen nicht.
       
 (IMG) Bild: Das Denkmal Alexander von Humboldts vor der nach ihm benannten Universität in Berlin
       
       BERLIN taz | „Lesen, was da steht. Hören, was gesagt wird. Sehen, was
       gezeigt wird. So fängt Geschichte an.“ Jörg Baberowski, Vorlesung
       „Hermeneutik und Geschichte“, 18. Oktober 2017
       
       So fängt auch diese Geschichte an, die von einem Historiker handelt,
       Professor an der Berliner Humboldt-Universität, spezialisiert auf
       Osteuropa, Stalinismus- und Gewaltforscher mit jahrelanger
       Russland-Expertise, deswegen nicht nur als Russland-Experte gehandelt,
       sondern auch als Russland-Versteher beschimpft.
       
       Und das ist noch einer der milderen Vorwürfe gegen den schlanken Mann mit
       der dunklen Metallbrille, der an einem sonnigen Oktobermorgen im Herbst
       2017 die Vorlesungsreihe zu „Hermeneutik und Geschichte“ eröffnet. Andere
       nennen ihn „rechtsradikal“, bezichtigen ihn der „Flüchtlingshetze“ oder der
       „Geschichtsfälschung“.
       
       Der Hörsaal im alten Universitätshauptgebäude Unter den Linden hat
       Holzbänke und Klapppulte, durch die hohen Fenster zum Innenhof fällt der
       Blick auf Zinnen und klassizistische Skulpturen. Friderizianische
       Architektur, humboldtscher Geist, ein Ort, der die schlummernden Ideale
       einer zweckfreien Bildung wachruft. Die aufsteigenden Reihen des Hörsaals
       sind locker gefüllt, in den vorderen Bänken sitzt ein Trupp Altsemester.
       Der Baberowski-Fanclub, sie kommen immer.
       
       ## Baberowskis Sätze sind zum Mitschreiben
       
       Das Knarren des Holzes stört, die nächste Vorlesung wird in einem modernen
       Hörsaal stattfinden. „Lesen ist immer deuten und interpretieren, den
       Sinngehalt entschlüsseln.“ Jörg Baberowskis Sätze sind klar, verständlich,
       schön, es sind Sätze zum Mitschreiben, Sätze, die etwas auslösen.
       „Verstehen ist der Modus unserer Existenz. Die Art, wie wir mit anderen in
       der Welt sind.“
       
       Hermeneutik ist die Kunst der Auslegung, es geht um Regeln der Deutung, das
       Ringen um Verständnis, was jemand gemeint haben könnte. Was Generationen
       vor uns gedacht haben könnten. Das Verstehen ist, auch aufgrund unserer
       eigenen Geschichtlichkeit, begrenzt.
       
       Das Thema dieser Vorlesung hat also viel mit Jörg Baberowski zu tun. Wenn
       man versuchen will, ihn zu verstehen; wenn man versuchen will zu verstehen,
       was ihm passiert ist; wenn man versuchen will zu verstehen, wie ihm die
       anderen begegnen. Gern entlässt er die Studenten mit einem Spruch.
       „Widerlegen Sie sich selbst, einmal am Tag, das tut gut“, sagt er. Das sagt
       sich so leicht. Vor allem, wenn es darum geht, dass man sich selbst
       widerlegt. Oder ist es schwieriger, von anderen in Frage gestellt zu
       werden?
       
       „Dass wir verstehen, heißt nicht, dass wir auch richtig verstehen.“ 1.
       November 2017
       
       Jörg Baberowski, Jahrgang 1961, kennt dieses Problem seit Jahren. Er fühlt
       sich oft missverstanden. Ähnlich wie sein Kollege, der
       Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der gleich nebenan im Hörsaal
       Unter den Linden über Kapitalismus referiert, ist der Historiker gezielter
       studentischer Kritik ausgesetzt.
       
       Münkler wurden wahlweise Militarismus, Chauvinismus,
       Gewaltverherrlichung, eine einseitige Literaturauswahl in seinen Seminaren
       zum Vorwurf gemacht – Studenten äußerten diese Kritik anonym in einem
       Blog, dem Münkler-Watch, der inzwischen eingestellt ist; der Fall Jörg
       Baberowski liegt etwas anders.
       
       ## Baberowski retweetet Roland Tichy
       
       Die Kritik gegen den Berliner Historiker richtet sich nicht gegen seine
       Literaturlisten oder Lehrtätigkeit, sondern gegen seine publizistische
       Tätigkeit, er schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung und der Basler Zeitung
       über deutsche und russische Geschichte, Flüchtlings- und Asylpolitik.
       
       Zu den Miteigentümern der Basler Zeitung in der Schweiz zählt der
       Rechtspopulist Christoph Blocher. Wer für den schreibt, ist in den Kreisen,
       die Baberowski kritisieren, verdächtig. Auf Twitter verbreitet er auch noch
       häufig Tweets von Leuten wie dem Publizisten Roland Tichy, die sich
       „liberal-konservativ“ nennen, andere würden sagen: stramm rechts.
       
       In Baberowski und Münkler trifft die Kritik zwei prominente Professoren,
       die das öffentliche Wort nicht scheuen und mit Medien umzugehen wissen; und
       in beiden Fällen ist auf studentischer Seite eine kleine linke
       Hochschulgruppe involviert, die Baberowski nur „die Sekte“ nennt. Anders
       als Münkler hat er versucht, juristisch gegen sie vorzugehen – mit mäßigem
       Erfolg.
       
       Was dürfen Professoren? Was dürfen Studenten? Es geht in dieser Geschichte
       nicht allein darum, wie viel Kritik erlaubt ist, auf beiden Seiten – und
       wie viel Verständnis erforderlich. Die Universitäten waren bisher
       hierarchische Gefüge, in die das Internet und die Kultur der Drittmittel
       inzwischen weit vorgedrungen sind.
       
       ## Die Diskurshoheit liegt nicht mehr nur bei den Profs
       
       Studierende evaluieren Professoren, in Deutschland anonym – in den USA sind
       sie da schon weiter. Sie kritisieren Literaturlisten als eurozentristisch
       oder zu männlich. Identitätsdiskurse, Postkolonialismus, Queer und Gender
       Studies stehen hoch im Kurs. Die Diskurse ändern sich, und die
       Diskurshoheit liegt nicht mehr nur bei den Lehrenden.
       
       Wird die Uni demokratischer? Oder herrscht ein neuer Moralkodex, der sich
       unmerklich in Denk- und Sprechverboten niederschlägt und damit letztlich
       das Gegenteil erreicht?
       
       In einem Büro- und Geschäftshaus an der Berliner Friedrichstraße befindet
       sich die Philosophische Fakultät der Humboldt-Uni. Eine graue Gegenwelt
       zum alten Hauptgebäude, dem auch das Studierendencafé „Exil“ mit seinen
       ausrangierten Sofas nicht viel Flair verleihen kann.
       
       Das Institut für Geschichtswissenschaften liegt im fünften Stock, grauer
       Teppich, braune Türen, verschachtelte, lange Gänge. Es ist mit zwanzig
       Professoren und Professorinnen vergleichsweise groß, etwa 1.500 Studierende
       sind hier eingeschrieben. „Ich habe kein Problem mit den Studenten“, sagt
       Jörg Baberowski in seinem Büro, das außer einem großen Schreibtisch mit
       einem Zeitschriftenstapel auch eine Sitzecke hat. „Die sind alle sehr nett.
       Die Stalker kommen nicht in meine Seminare, sie geben sich nicht zu
       erkennen.“
       
       Überhaupt scheint das Institut ein Hort der Ruhe und Moderation zu sein.
       Hier hält Baberowski ein Masterseminar über „Politisches Denken in
       Russland“, heute geht es um Lenins Text „Was tun?“. Ein überraschend
       unmarxistisches Konzept, weil es die Idee des Berufsrevolutionärs
       propagierte, erklärt er.
       
       Die Diskussion im Seminarraum zwischen ihm und den etwa 20 überwiegend
       männlichen Anwesenden schleppt sich. Er fragt sehr pädagogisch, fast
       suggestiv; sie antworten freundlich, der schweigende Teil starrt auf den
       Text oder schreibt die Antworten mit. „Die meisten Studenten sind
       unpolitisch“, sagt Baberowski später. „Sie wissen nicht, was sie mit ihrem
       Leben anfangen sollen. Sie probieren sich aus.“ Und dann sagt er: „Es gibt
       keine Diskussionen, keinen Streit mehr an der Uni.“
       
       „Aus der Geschichte können wir gar nichts lernen. Wir können allenfalls
       lernen, was man aus der Geschichte machen kann. Die Geschichte steht uns
       leider nicht zur Verfügung.“ 10. Januar 2018
       
       Vor etwa vier Jahren begann das, was Baberowski seither verfolgt. Jahre,
       die ihm zugesetzt haben. „Mir ist viel klarer geworden, wie das System der
       Anpassung funktioniert“, sagt er. Seinen Ursprung hat der Streit in einem
       Vorfall von 2014, als Baberowski den britischen Historiker Robert Service
       in sein Kolloquium einlud, den Verfasser einer kritischen
       Trotzki-Biografie.
       
       Zu kritisch für die Hochschulgruppe International Youth and Students für
       Social Equality, abgekürzt IYSSE, die als Jugendorganisation der
       Sozialistischen Gleichheitspartei agiert. Die IYSSE protestierte gegen den
       geplanten Auftritt von Service, aus einem wissenschaftlichen Kolloquium
       drohte eine Art Tribunal zu werden, weshalb Baberowski das Treffen an einen
       geheimen Ort verlegte; seither herrscht Krieg zwischen der Gruppe und dem
       Berliner Historiker.
       
       Der Konflikt eskalierte, als der Asta der Uni Bremen sich im Herbst 2016
       gegen eine Einladung Baberowskis aussprach. Der Ring
       Christlich-Demokratischer Studenten und die Konrad-Adenauer-Stiftung
       hatten ihn eingeladen, um sein Buch „Räume der Gewalt“ vorzustellen.
       
       Auf einem Flugblatt des Asta hieß es, Baberowski „rechtfertigte in der
       jüngeren Vergangenheit wiederholt gewalttätige Ausschreitungen gegen
       Geflüchtete und Anschläge auf deren Unterkünfte, bedient sich
       nationalistischen Vokabulars und vertritt rechtsradikale Positionen im
       politischen Streit um migrationspolitische Fragen“. Und: „Er steht der AfD
       in nichts nach.“
       
       Auf diesem Flugblatt wurde auch ein Satz zitiert, den er auf dem Höhepunkt
       der „Flüchtlingskrise“ 2015 bei 3sat im Zusammenhang mit Gewalt gegen
       Flüchtlinge im sächsischen Heidenau sagte, und der ihm seither immer wieder
       vorgehalten wird: „Überall da, wo viele Menschen aus fremden Kontexten
       hinkommen und die Bevölkerung nicht eingebunden wird in die Regelung all
       dieser Probleme, da kommt es natürlich zu Aggression.“
       
       Baberowski erwirkte eine einstweilige Verfügung gegen den Asta Bremen; bei
       der Verhandlung vor dem Landgericht Köln errang er einen Teilsieg; er sei
       sinnentstellend zitiert worden. Die Flugblattverfasser ließen nämlich weg,
       was Baberowski noch gesagt hatte: „Gott sei Dank ist in Deutschland noch
       niemand umgekommen.“
       
       Die Brandanschläge seien schlimm genug, aber angesichts der Probleme
       Deutschlands mit der Einwanderung „ist es ja noch eher harmlos, was wir
       haben“. Nach Ansicht des Gerichts zeige das vollständige Zitat, dass
       Baberowski Gewalttaten ablehne und sie nicht als natürliche Reaktion von
       Bürgern ansehe. Dennoch sei es durch die Meinungsfreiheit gedeckt, ihm
       „rechtsradikale Positionen“ zu unterstellen.
       
       Damit muss er seither leben, seine Klage zog er im Revisionsverfahren wegen
       einer drohenden Niederlage zurück. Und den Versuch, eine einstweilige
       Verfügung beim Landgericht Hamburg gegen die Sozialistische
       Gleichheitspartei zu erwirken, weil ihn diese notorisch der
       „Geschichtsfälschung“ bezichtigt, ließ er im November 2017 fallen.
       
       Ist das keine Kampagne, kein versuchter Rufmord? „Er hat alle
       Möglichkeiten, sich zu wehren“, sagt Sven Wurm im Café Einstein, gegenüber
       vom Institut. Geht man auf seine Facebook-Seite, die zugleich die der IYSSE
       ist, rangiert der „Fall Baberowski“ zuoberst, mit zahlreichen Einträgen.
       „Das Internet ist doch kein einseitiges Medium“, sagt Wurm. „Umgekehrt ist
       es ja auch so, dass Professoren in Zeitungen mit hoher Auflage ihre
       Studierenden kritisieren. Die Anonymität des Münkler-Watchs war vollkommen
       legitim. Wir von der IYSSE sind allerdings immer offen aufgetreten.“
       
       Die trotzkistische Splittergruppe hat also ein Gesicht. Große Statur, Bart,
       dunkle, kurze Haare, Sven Wurm studiert Geschichte im 9. Semester,
       Schwerpunkt Universitätsgeschichte. Seminare von Baberowski hat er nie
       besucht, nur eine Vorlesung. „Er stilisiert sich als persönliches Opfer“,
       sagt Wurm, „dabei ist das eine politische Auseinandersetzung. Er
       relativiert die Verbrechen der Nazis und bringt Standpunkte in die
       öffentliche Diskussion, die über Jahrzehnte nicht sagbar waren.“
       
       Sven Wurm bezieht sich dabei auf eine – nur im Kontext nachvollziehbare –
       Äußerung Baberowskis, Hitler sei nicht grausam gewesen und Stalin ein
       Psychopath. Wurm spricht gern und fast ausschließlich von „wir“. Verändert
       also das Internet die Kommunikation, das Machtgefälle zwischen Professoren
       und Studierenden? „Es beinhaltet zumindest die Möglichkeit, die Uni
       demokratischer zu gestalten.“
       
       „Wenn man Gewalt verstehen will, die einem völlig irrational erscheint,
       muss man sich klarmachen, dass auch Gewalt eine Möglichkeit des Handelns im
       Leben ist.“ 10. Januar 2018
       
       „Ich erlebe es an der Uni immer mehr, dass man sich nicht mit Positionen
       beschäftigen will, die man nicht teilt.“ Alexander Schnickmann, 23, blass,
       kahl, rundes Gesicht, dunkle Brille, schätzt die Herausforderung, schätzt
       den Dissens, schätzt deswegen auch Jörg Baberowski, für den er als
       studentische Hilfskraft arbeitet. „Alle haben die gleiche Meinung“, sagt
       er, „es ist eine große Blase an der Uni.“
       
       Dazu gehören für ihn eine Portion Moralismus und Selbstbezogenheit, zählen
       Identitätsdiskurse, kulturalistisches Denken, all das, was man unter den
       Begriff Politische Korrektheit packt. Schnickmann hat an der
       Humboldt-Universität und bei einer Buchvorstellung erlebt, wozu dieses
       Klima führen kann. Er erzählt von einem Studenten, der in einer Diskussion
       nicht mitreden durfte, weil er, als Nichtbetroffener, „nicht dazugehörte“
       und sich nach dem Prinzip der Selbstbezichtigung entschuldigte.
       
       An den US-Universitäten ist der moralische Verhaltenskodex – wer geht wie
       mit wem um – eingebunden in einen wissenschaftlichen Diskurs und bereits
       viel ausgeprägter. Reglementierter, fortgeschrittener, womöglich
       fortschrittlicher. Erreicht das nun unsere Universitäten? Und hat es nicht
       längst den gesellschaftlichen Mainstream erreicht?
       
       „Viele Studierende internalisieren das auch hier“, beobachtet Schnickmann.
       „Sie denken, sie dürfen sich zu bestimmten Themen nicht äußern.“ Umgekehrt
       führe dies zu einer Art narzisstischer Selbstermächtigung: dass also nur
       man selbst über das reden darf, was einen betrifft, andere dürfen das
       nicht. Als Erstsemester war er schüchtern, neu in Berlin. „Die
       Überforderung bewirkt, dass man sich auf das Enge, Dörfliche zurückzieht.
       Aus Unsicherheit redet man den anderen nach dem Munde.“
       
       In der Café-Bar Kapitalist im Prenzlauer Berg mit den rohen Betonwänden, wo
       es nur Getränke und einen Raucherraum gibt, sitzt er gern zum Lesen. Ihn
       interessiert das Abseitige, das außerhalb der Norm Liegende, er hält das,
       was durch Identitätsdiskurse entsteht, für „langweilig und
       anti-demokratisch“. Sind das Denkverbote? – „Ja. Aber zuerst kommen die
       Sprechverbote.“
       
       Anders als in der Amerikanistik oder in den Kulturwissenschaften geht es im
       Fachbereich Geschichte politisch nicht so korrekt zu, sagt Schlickmann. Da
       stelle sich allenfalls die Frage, ob man den Staatsrechtler Carl Schmitt
       lesen darf oder nicht. „Ich muss doch bereit sein, mich mit allem zu
       beschäftigen. Gerade im Fach Geschichte. Es geht ja darum, Menschen in
       anderen Kontexten zu verstehen. Als Historiker machen wir das ständig:
       Empathie entwickeln für etwas, was wir gar nicht haben oder sein wollen.“
       Und er setzt hinzu: „Es muss ja keine liebevolle Empathie sein.“
       
       Jörg Baberowski sitzt kurz vor Semesterende in dunkelblauer Hose und
       dunkelblauem Pulli auf dem gelben Sofa in seinem Büro. Dies ist kein
       parteipolitisches Statement, wählen war er schon länger nicht mehr, er
       fühlt sich politisch „völlig ungebunden“.
       
       Links, liberal oder konservativ, das sagt ihm nichts mehr. Geht das nicht
       vielen Menschen so? Dass sich politische Gewissheiten, Zugehörigkeiten
       auflösen, gerade angesichts einer sich moralisch festigenden Neuen oder
       Identitären Rechten? Baberowski ist überzeugt, dass man mit der AfD
       pragmatischer umgehen sollte. „Man muss sie einbinden. Das ist die alte
       CSU.“
       
       Er wirkt entspannt an diesem Morgen, trotz laufender Prüfungen, auf dem
       Tisch ein Teller mit Schokoriegeln und ein Coffee to go. Der Historiker
       würde eher von Sensibilität als von Empathie in der Geschichtswissenschaft
       sprechen. Zu viel Mitgefühl könnte den klaren Blick trüben.
       
       Viele Jahre hat er in Petersburger und Moskauer Archiven zugebracht, sich
       mit den Lagern, Terror und Gewalt auseinandergesetzt. Für sein Buch
       „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ hat er 2012 den Preis der
       Leipziger Buchmesse erhalten.
       
       ## Die Kulturwissenschaftler sind abgesprungen
       
       Mit seinem Kollegen Michael Wildt ist er dabei, ein „Zentrum für
       vergleichende Diktaturforschung“ zu initiieren – das ausgehend von
       Forschungen zu Nationalsozialismus und Stalinismus Diktaturen in den Blick
       nehmen soll. Ein interdisziplinäres Projekt, an dem neben der
       philosophischen und der juristischen Fakultät auch das
       kulturwissenschaftliche Institut beteiligt sein sollte.
       
       Die Kulturwissenschaftler seien abgesprungen, erzählt Baberowski, es gab
       Differenzen beim Diktaturbegriff, ob und wie dieser moralisch zu werten
       sei. Nichts für ihn: „Ich will wissen, warum die Menschen Hitler gefolgt
       sind. Dass Hitler ein schlechter Mensch war, wissen wir schon. Diese
       Erkenntnis bringt die Forschung über Diktaturen aber nicht weiter.“
       Diktaturen will er als modernes Phänomen untersuchen: „Warum sind die so
       attraktiv, auch heute?“
       
       Diese kleine Episode ist bezeichnend für ihn und wie er sich sieht: der
       Historiker als Person, die alles erforscht, die neugierig ist und ohne
       moralische Vorbehalte. Und nur so zu neuen Erkenntnissen kommt. „Man muss
       zwischen Moral und Analyse trennen. Moralische Urteile bewerten, erklären
       aber nichts.“ Moral oder besser: zu viel Moral wird zum Störfaktor, macht
       blind, verhindert Diskussion und Streit, führt schlimmstenfalls zum
       Tugendkult.
       
       Baberowski würde sagen: Tugendterror. „Es ist allgegenwärtig in der
       Universität. Glaubensbekenntnisse, die abgegeben werden. Man fragt: Wer
       bist du? Und nicht: Was sagst du?“
       
       Er als Wissenschaftler, als Aufklärer, sieht sich deswegen in der Rolle
       desjenigen, der die „Tugendwächter“ herausfordert. Unangenehme Fragen
       stellt, unangenehme Antworten gibt. Der provoziert – und sich provozieren
       lässt, der gern gegen die kulturelle Hegemonie der Linken wettert, die er
       für eine „Wohlstandselite“ hält und der er eine Tribalisierung der
       Gesellschaft vorwirft.
       
       Der gegen eine naive Willkommenskultur ist und ein rigides, aber
       funktionierendes Einwanderungsgesetz fordert. Der gerne Tichys Tweets
       retweetet und der kürzlich in einem Interview mit dem Nachrichtenportal
       t-online.de über Russland sagte: „Wir sollten eigentlich froh darüber sein,
       dass Putin an der Macht ist.“ Das klingt dann vielleicht erst mal so
       hingeworfen, das muss man nicht mögen, aber wer das Interview komplett
       liest, findet Argumente, die auf historischer Analyse beruhen und die
       Auseinandersetzung ermöglichen.
       
       ## Vorurteilsfrei über Diktaturen forschen?
       
       Sven Wurm von der IYSSE war bei dem Symposium Anfang November zugegen, bei
       dem das „Zentrum für vergleichende Diktaturforschung“ vorgestellt wurde.
       „Es wurde sehr offen über die Vorzüge von Diktaturen räsoniert“, meint er.
       „Was heißt, vorurteilsfrei an Diktaturen herangehen? Man kann in einem Land
       wie Deutschland nicht vorurteilsfrei an Diktaturen herangehen.“
       
       Das Institut, die Fakultät stehen hinter dem Projekt und haben im Frühjahr
       eine Stellungnahme veröffentlicht, in der es heißt, Baberowskis
       wissenschaftliche Äußerungen seien, „insbesondere in ihren Kontexten, nicht
       rechtsradikal“.
       
       Zitate, die aus dem Zusammenhang gerissen werden; Forscher, deren
       analytische Sicht auf die Welt als Meinung, als Politikberatung gleichsam
       indiziert wird; Studentengruppen, die winzig sind und über Facebook Wucht
       erzeugen, Professoren, die twittern. Die Kommunikationsstrukturen an den
       Unis haben sich verändert, damit auch die Konzepte der Wissensvermittlung
       und die Art, miteinander zu diskutieren.
       
       „‚Welche Geschichte wollen Sie denn hören?‘ Das ist eine gute Antwort auf
       die Frage, was wir denn aus der Geschichte lesen …“ 10. Januar 2018
       
       Das Freund-Feind-Schema im Fall Baberowski greift schnell, vielleicht
       unvermeidlich, und sich dem zu entziehen fällt schwer. Professoren ebenso
       wie Studierenden. Die Fachschaftsinitiative Geschichte hat eigentlich eine
       vermittelnde Funktion, doch in dieser Angelegenheit sieht sie sich in ihrer
       Mission gescheitert.
       
       Laura Haßler, Masterstudentin der Geschichtswissenschaft, betritt als
       Vertreterin der Fachschaftsinitiative das Café Einstein, es wird im Verlauf
       der Recherche dieser Geschichte fast eine Art Außenstelle. „Die Fachschaft
       ist inhaltlich gespalten“ in seiner Sache, das habe sie versprochen zu
       sagen, stellt sie gleich zu Anfang klar, sie wollen sich auf keine Seite
       stellen. „Einig sind wir uns darin, dass wir die Diskussionskultur, die
       Form des Umgangs miteinander ablehnen.“ Es ist der jungen Frau mit der
       runden Brille und den dunklen Haaren anzumerken, dass es ein quälendes
       Thema ist.
       
       In die Fachschaftsinitiative wird man nicht gewählt, es darf jeder
       mitmachen und mit abstimmen. Bis vor Kurzem waren hier auch zwei Mitglieder
       der IYSSE aktiv, einer davon Sven Wurm. Als es darum ging, ob es eine
       Solidaritätsadresse der Fachschaftsinitiative mit dem Asta Bremen wegen
       Baberowski geben soll, sollen die IYSSE-Leute ziemlich starken Einfluss auf
       das Plenum ausgeübt haben – der Antrag wurde schließlich angenommen. Laura
       Haßler erinnert sich: „Immer wenn die zum Plenum kamen, lautete einer der
       Tagesordnungspunkte: Baberowski.“
       
       Alexander Schnickmann, der Baberowski-Mitarbeiter, war ebenfalls in der
       Fachschaftsinitiative aktiv, er sagt: „Kleingruppen können eine große
       Wirkung erzielen.“ Ihm komme das bekannt vor: „Die Bolschewiki waren eine
       sehr kleine, aber disziplinierte Gruppe. Das ist klassischer Entrismus.“
       Also das gezielte Eindringen in eine Organisation, um dort an Einfluss zu
       gewinnen.
       
       Man könnte auch sagen: Es ist Dauerbeschuss, Kampagne, Hyperaktivität,
       Nerverei. Wann ist der richtige Zeitpunkt, in solchen Fällen Stellung zu
       beziehen? Und für wen? Laura Haßler lässt die Frage offen. Auch wenn sie
       Baberowskis politische Positionen nicht teilt und nicht gutheißt, so trage
       er diese jedenfalls nicht in seine Seminare.
       
       Anders als ihr Kommilitone Alexander Schnickmann stöhnt sie nicht über
       zunehmende Denk- oder Sprechverbote an der Uni. Tugenddiktat? „Ich
       empfinde das nicht so, der Begriff ist ideologischer Unfug“, sagt sie. Die
       Fachschaft ist gut ins Institut und in die Gremienarbeit integriert,
       dennoch vermisst Laura Haßler „mehr Partizipation. Es könnte wesentlicher
       demokratischer sein.“
       
       Das gilt allerdings auch für das Studentenparlament. Kurz vor dem Gespräch
       bringt die Studierendenzeitschrift Unaufgefordert einen Bericht darüber,
       wie sich die gewählten StudentInnenvertreter der Humboldt-Universität über
       Jahre Posten zugeschachert haben. Offenbar ist das ein sehr geschlossener
       Zirkel, aus dem viele absichtlich herausgehalten werden. Als gehe es nicht
       um Hochschulpolitik, sondern um Diskurskontrolle.
       
       „Die Begriffsbildung entspricht den Begriffen, die wir uns machen, und
       nicht der Wirklichkeit, die da draußen wartet, begriffen zu werden“ 17.
       Januar 2018
       
       Einige der Zuhörer der Hermeneutik-Vorlesung sind nach nebenan zum
       Politikwissenschaftler Münkler abgewandert. Obwohl Jörg Baberowski ein
       guter Redner ist, der nicht zu akademisch spricht, oft lebensgeschichtliche
       und oft amüsante Schleifen einstreut.
       
       Am Morgen des 17. Januar liegen Zettel auf jedem Pult. „Was könnt ihr gegen
       die IYSSE tun? Geht wählen!“ steht auf dem Flugblatt der Initiative
       Studenten für Demokratie und Meinungsfreiheit, auf der Rückseite „Achtung:
       Die IYSSE lügt“, sie diffamiere gezielt Professoren wie Baberowski und
       Münkler. Als Baberowski ans Mikro tritt, stellt er klar, dass dies nicht
       von ihm kommt.
       
       Es ist der zweite Tag der Wahlen für das StudentInnenparlament. Auf den
       Toilettentüren im Universitätsgebäude kleben IYSSE-Wahlaufrufe. Unter dem
       Punkt „Wissenschaft statt Kriegspropaganda“ heißt es: „Jörg Baberowski ist
       für seine Flüchtlingshetze und die Verharmlosung der Verbrechen des
       Nationalsozialismus bekannt.“
       
       Die Wahlbeteiligung wird auch in diesem Jahr wieder nur bei acht Prozent
       liegen. Die IYSSE wird von vier Sitzen zwei verlieren. 60 gibt es
       insgesamt.
       
       Judith Basad, die Literaturwissenschaften an der Freien Universität
       studiert, hat die Aktion der Studenten für Demokratie und Meinungsfreiheit
       organisiert. Die Auseinandersetzung um Jörg Baberowski verfolgt die
       31-Jährige schon länger. „Ich stimme mit seinen Aussagen auch nicht
       überein. Aber das ist kein Grund, ihn so fertigzumachen“, sagt sie.
       
       Im Sommer wollte Basad an der Freien Universität eine Diskussionsrunde mit
       ihm veranstalten – es hat sich niemand gefunden, der mit ihm diskutieren
       wollte. „Die Kollegen hatten Angst, mit Schmutz beworfen zu werden.“ Auch
       sie fragt sich: „Werde ich jetzt als rechts abgestempelt? Das ist ein ganz,
       ganz blödes Gefühl.“
       
       Basad schreibt gerade an ihrer Masterarbeit. Ihre Fragestellung lautet:
       Wann kippen Utopien ins Autoritäre? Sie will das am Konzept der „Safe
       Spaces“ erforschen, jener an manchen Unis vorhandenen Orte, an denen nicht
       diskriminiert werden darf. Viel diskutiert, weil Kritiker durch so etwas
       die Meinungsfreiheit in Gefahr sehen. Baberowski ist ihr Zweitgutachter.
       Sie schätzt seinen „kalten analytischen Blick“, erprobt an Hitler und
       Stalin. „Das ist in der aufgeheizten Debatte ungemein wichtig. Er sagt ja
       gar nicht, wie er etwas moralisch findet.“
       
       Basad sieht durchaus, dass man bei ihm „die Gewöhnung an problematische
       Narrative kritisieren könnte“. Baberowski hat ein Buch über „Räume der
       Gewalt“ geschrieben, über Gewaltexzesse im Zweiten Weltkrieg und im Gulag,
       über die Kriegserlebnisse seines Vaters, ein Buch darüber, wie veränderte
       Kontexte veränderte Verhaltensweisen bewirken. „Wo hört das Verstehen
       auf?“, fragt Basad. „Es gibt einen Punkt, an dem die Moral wieder einsetzen
       muss.“
       
       „Der Andere ist keine Sphinx.“ 
       
       „Verstehen ist immer mit einem Identitätsopfer verbunden. Man gibt etwas
       von sich preis und lässt etwas von sich gelten.“ 14. Februar 2018
       
       Die letzte Vorlesung im Semester. Die Februarsonne strahlt, der Professor
       betritt den Raum mit dunkel eingefärbten Brillengläsern. Viel ist in den
       letzten Monaten von Verstehen und Nichtverstandenem die Rede gewesen. Wie
       viel Verständnis bringt Baberowski für seine Kritiker auf? – „Ziemlich
       viel. Ich weiß, wie Sekten funktionieren.“ Baberowski war selber als
       Schüler im KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands, heute kann er
       sein Engagement für das mörderische Pol-Pot-Regime nicht mehr
       nachvollziehen.
       
       Hat er in den vier Jahren Fehler gemacht? „Natürlich. Ich habe nicht immer
       diplomatisch agiert.“ Er wechselt das Personalpronomen. „Man hätte nicht
       klagen dürfen. Solche Fragen lassen sich gerichtlich nicht klären. Und man
       muss vielleicht nicht auf jede Provokation reagieren.“
       
       Das sagt einer, der selber gern provoziert. Und mit jeder Reaktion, die er
       hervorruft, Gefahr läuft, noch eins draufzusetzen. „Ohne eine gewisse
       Verhärtung kann man Konflikte dieser Art nicht durchstehen“, sagt Jörg
       Baberowski. „Selbstradikalisierung aber führt zu nichts, weil sie einen
       blind für die Realität macht. Ich habe mir geschworen, so etwas wie Nolte
       passiert mir nicht.“
       
       Der Historiker Ernst Nolte hatte in den achtziger Jahren den
       „Historikerstreit“ ausgelöst, weil er die Singularität des Holocausts
       infrage stellte. Mit dem wollte am Ende keiner mehr reden, sagt Baberowski.
       Das soll ihm nicht passieren. Lieber redet er, sucht das Gespräch. Lieber
       widerlegt er sich jeden Tag einmal selbst – das tut allen gut.
       
       9 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sabine Seifert
       
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