# taz.de -- Kolonialgeschichte in Kenia: „Die Bücher richten sich an Weiße“
       
       > Viele Bücher in Bibliotheken in Nairobi stammen aus Kolonialzeiten. Eine
       > Verlegerin und eine Schriftstellerin wollen das ändern.
       
 (IMG) Bild: Die Bibliothek war zu ihrer Eröffnung 1931 ausschließlich für weiße Besucher*innen zugänglich
       
       NAIROBI taz | Die breiten Stufen der McMillan-Bibliothek im Zentrum
       Nairobis sind belebt an diesem Samstag, dem 13. Oktober. Der prunkvolle
       Bau, geschmückt von zwei Steinlöwen wurde 1931 zu britischen Kolonialzeiten
       eröffnet – damals ausschließlich für weiße Besucher*innen.
       
       Während die Innenstadt Nairobis mit ihren modernen Glasfassaden und
       Wolkenkratzern ständig weiter in den Himmel wächst, scheint in dem alten
       Kolonialbau die Zeit stehengeblieben zu sein. Der Empfangscounter ist von
       zwei riesigen Elefantenstoßzähnen geschmückt.
       
       Auf einem Bücherregal brüllt ein steinerner Tiger in den Saal. Etwa ein
       Dutzend Menschen sitzen an den dunklen, massiven Holztischen im mintgrün
       gestrichenen Hauptsaal. Ein paar ältere Herren lesen Zeitung, die jüngeren
       Leute sind in ihre Aufzeichnungen vertieft. Bibliotheksbücher finden sich
       bei niemandem auf dem Tisch.
       
       „Gerade kommen Leute hier vor allem her, um in Ruhe zu lesen. Die Bücher
       interessieren kaum jemanden. Es handelt sich um sehr alte Werke, und es
       sind fast ausschließlich europäische Autoren. Die Bücher richten sich an
       weiße Leser.“ Wanjiru Koinange verzieht den Mund zu einem sarkastischen
       Grinsen: „Es war ja auch nie vorgesehen, dass wir diese Räume nutzen
       würden.“
       
       57 Jahre nach der Unabhängigkeit Kenias gehören die [1][rassistischen
       Kolonialgesetze] zwar der Vergangenheit an, und Orte wie die
       McMillan-Bibliothek sind für alle offen. Doch eine umfassende
       Auseinandersetzung, wie mit dem kolonialen Erbe umgegangen werden soll,
       welche Narben solche und andere Orte im kollektiven Gedächtnis der
       Bevölkerung hinterlassen, ließen bislang auf sich warten. Deshalb hat die
       Schriftstellerin Koinange gemeinsam mit der Verlegerin Angela Wachuka vor
       anderthalb Jahren das Book-Bunk-Projekt gegründet.
       
       „Ich arbeite seit zehn Jahren als Verlegerin afrikanischer Literatur“,
       erzählt Wachuka, „irgendwann fragt man sich: Für wenn verlegen wir diese
       Bücher eigentlich. Ist das die reiche Oberschicht? Es kann nicht sein, dass
       man zu Literatur nur Zugang hat, wenn man Geld hat, sich die Bücher zu
       kaufen. Moderne afrikanische Literatur muss allen zugänglich sein.“
       
       ## Bibliotheken ins 21. Jahrhundert überführen
       
       Wachuka hat eine ruhige und bodenständige Art. Sie ist weit über Nairobis
       Literaturszene bekannt und hat mit Weltstars wie der nigerianischen
       Schriftstellerin Chimamanda Adichie gearbeitet. Zum heutigen Termin trägt
       sie Jeans und Turnschuhe. Ihre Kollegin Koinange ergänzt: „Das Anliegen
       unseres Projektes ist es, die McMillan-Bibliothek und zwei andere
       öffentliche Büchereien in Nairobi ins 21. Jahrhundert zu überführen. Das
       betrifft den Bücherbestand, aber auch den Zustand der Bibliotheken. Die
       Häuser müssen renoviert werden.“
       
       Die 32-jährige Schriftstellerin trägt weiße Turnschuhe, schwarze Puderhosen
       und passend zu ihrer Mission prangt ein glitzerndes Superman-Zeichen auf
       ihrer Brust. Was die beiden bücherliebenden Frauen vor haben – das wird an
       diesem Samstag sichtbar – ist tatsächlich ein wahres Superfrauenprojekt.
       
       In einem schwarzen Reisebus nehmen sie heute rund 20 Teilnehmer*innen mit
       auf einen zweistündigen Kurztrip in ihr Bibliotheksprojekt. Die Touren, die
       im nächsten halben Jahr jeden zweiten Samstag stattfinden, sollen nicht nur
       potenzielle Geldgeber anlocken.
       
       ## Sammelsurium absurder Literatur
       
       „Unser Projekt steht noch ganz am Anfang. Diese Touren sollen den
       dringenden Renovierungs- und Inventurbedarf der Bibliotheken sichtbar
       machen. Er soll aber auch eine Diskussion anstoßen: Wie gehen wir mit
       diesen Orten um? Was wollen wir erhalten, was soll weg?“, eröffnet Koinange
       die Tour.
       
       Nach einer 20-minütigen Busfahrt vorbei an belebten Straßenmärkten und quer
       durch einen Industriepark erreichen wir die Makadara-Bibliothek. Sie liegt
       in einer ruhigen Wohngegend, wurde 1970 eröffnet und ist die Jüngste der
       drei Büchereien. Die Bibliothek ist bis zum letzten Platz besetzt.
       Hauptsächlich Jugendliche und junge Erwachsene stecken die Nasen in ihre
       Hefte.
       
       Und auch hier: Die Bücher, die in den Regalen stehen, interessieren kaum
       jemanden. Es ist ein Sammelsurium absurder Literatur: Vom Tabakanbau über
       Uraltreiseführer in alle möglichen Westeuropäischen Länder. Teilweise sind
       die Bücher so alt und zerfleddert, dass man sich kaum traut, sie
       anzufassen.
       
       ## Häuser von außen robust, innen katastrophal
       
       Es scheint, als könnten sie jeden Moment auseinanderfallen. Ein Buch über
       „Gardening“ sticht mir ins Auge. Publiziert erstmals 1956 – das letzte Mal
       entliehen, laut Stempel, im Mai 1966 – also noch vor der Eröffnung der
       Bibliothek in Makadara. Wie kann das sein?
       
       „Tatsächlich“, so erklärt Francis Mitugo, ein Mitarbeiter vom
       Book-Bunk-Projekt, „hat die Bibliothek bei ihrer Eröffnung 1970 gar keine
       eigenen Bücher erhalten. Die Verwaltung hatte einfach einige Bücher aus der
       Zentrale, der alten McMillan-Bibliothek im Zentrum der Stadt, hier
       herübergeholt.“ Bücher für ihr Studium oder einfach zum Lesevergnügen, das
       bestätigen auch die Studierenden, gibt es nicht.
       
       Die Situation in der Kaloleni-Bibliothek, der zweiten Bibliothek unserer
       Tour, ist ähnlich. Wie alle Häuser in der Wohnsiedlung ist auch die
       Bücherei ein altes Steinhaus mit rotem Ziegeldach. Das Gebäude sowie das
       daneben liegende Gemeindezentrum wurden während des 2. Weltkrieges von
       italienischen Kriegsgefangenen für die Briten gebaut.
       
       Mit seinen typischen alten Bauten ist Kaloleni nicht nur eines der ältesten
       noch bestehenden Viertel Nairobis. Das Gemeindezentrum beherbergte auch
       Kenias erstes Parlament. [2][Präsident Kenyatta] und andere Politiker
       seiner Zeit haben hier am Vorabend der Unabhängigkeit getagt.
       
       ## „Der Zustand der Bibliothek ist schlimm“
       
       Während die alten Häuser von außen robust wirken, ist der Zustand innen
       katastrophal. Und das betrifft nicht nur den bröselnden Putz an Wänden und
       Decken, sondern vor allem auch den Bücherbestand. Auch hier sind viele
       Publikationen mehrere Jahrzehnte alt. Von afrikanischen Autor*innen oder
       Kinder- und Jugendbüchern für die jungen Nutzer*innen keine Spur.
       
       Doch auch in Kaloleni sind die Tische voll besetzt. Vor allem Schulkinder
       kommen hierher, um ihre Hausaufgaben zu machen und sich auf Prüfungen
       vorzubereiten. Zu Hause, so erklärt der 12-jährige James Peter, ist es ihm
       zu unruhig zum Lernen. Die Geschwister spielen oder die Nachbarn machen
       Krach. In der Bibliothek kann er sich besser konzentrieren.
       
       Die Studentin Merihana Mekanda, die mit im Tourbus sitzt, ist über den
       Zustand der Bibliothek schockiert: „Ich bin wirklich sehr enttäuscht. Der
       Zustand der Bibliothek ist schlimm. Die kenianische Regierung sollte mehr
       Verantwortung für solche Orte übernehmen. Denn wer will an so einem Ort
       lernen?“
       
       Wachuka und Koinange planen aus dem heruntergekommenen Saal in Kaloleni
       eine Kinderbibliothek zu machen. „Wir haben zu allen drei Orten
       Nutzerstudien durchgeführt, da wir die Menschen, die die Büchereien
       besuchen in den Neugestaltungsprozess einbeziehen wollen.“ Koinange deutet
       auf den Fußballplatz, der gegenüber der Bibliothek liegt, „hier in Kaloleni
       kommen auf Grund der Lage hauptsächlich Kinder in die Bibliothek. Deswegen
       brauchen wir hier logischerweise auch kindergerechte Literatur.“
       
       ## Stadtverwaltung unterstützt ideell
       
       Zurück im Stadtzentrum führt uns die Tour als letzte Station in das
       ehemalige Zeitungsarchiv im Keller der McMillan-Bibliothek. Hier hat man
       dann fast den Eindruck, in den zwei hellblauen Samtsesseln hätten gerade
       noch britische Lords gesessen und Tee getrunken.
       
       In einer Kommode verbirgt sich ein ganzes Fotoarchiv mit
       Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus unterschiedlichen Regionen Kenias, Anfang des
       20. Jahrhunderts. Eindrücke des Landes durch die Linse der Kolonialherren.
       Sie liegen hier ungeordnet und vergessen in der Schublade.
       
       Die umfassende Inventur und vor allem die Renovierung kosten natürlich eine
       Menge Geld. Allein die Modernisierung der McMillan-Bibliothek wird nach den
       Plänen, die die beiden Frauen gemeinsam mit der Stadtverwaltung erarbeitet
       haben, rund eine Millionen Dollar kosten.
       
       ## So viele Bibliotheken wie Kirchen oder Bars
       
       Die Unterstützung der Stadtverwaltung ist nur ideeller Art. Dass sie im
       März dieses Jahres überhaupt die Erlaubnis bekommen haben, sich der drei
       Bibliotheken anzunehmen und einen Modernisierungsplan zu entwerfen, ist für
       die beiden aber bereits ein Riesenerfolg.
       
       „Wir fangen mit der Inventur der Bestände der McMillan-Bibliothek
       voraussichtlich Anfang nächstes Jahr an. Dafür sind wir natürlich auch auf
       die Mehrarbeit der Bibliotheksangestellten angewiesen, die ja von der Stadt
       bezahlt werden“, sagt die Verlegerin Wachuka pragmatisch, „indirekt
       unterstützt uns die Stadt also hier zum Beispiel doch.“
       
       Unterstützung, so finden beide Frauen, muss nicht immer an Geld gebunden
       sein. Trotzdem sind sie natürlich auf erhebliche Summen durch private
       Geldgeber angewiesen. Doch Koinange ist optimistisch: „In zehn Jahren
       sollen die ersten drei Büchereien modernisiert sein. Ich glaube, dass wir
       genau so viele Bibliotheken in diesem Land haben können wie Kirchen oder
       Bars. Der Bedarf ist einfach da.“
       
       1 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Wie-umgehen-mit-dem-kolonialen-Erbe/!5550165
 (DIR) [2] /Kenias-Oberstes-Gericht/!5465556
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Lipowsky
       
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