# taz.de -- Geschichtsstunde mit Augmented Reality: Digital für die Ewigkeit
       
       > Zeitzeugen werden bald nicht mehr vom Nationalsozialismus erzählen
       > können. Der WDR holt sie per App digital ins Klassenzimmer.
       
 (IMG) Bild: Auf dem Bildschirm spricht eine Zeitzeugin – in echt ist sie nicht da
       
       Bei vielen Dokumentationen, die in den vergangenen Jahren über den
       Nationalsozialismus entstanden, hat man den Regisseuren ein besonderes
       Bestreben angemerkt: so gut wie möglich die letzte Chance zu nutzen, mit
       Zeitzeugen zu sprechen. [1][Das Verschwinden der Zeitzeugen] hat aber auch
       Folgen für den Geschichtsunterricht. Frauen und Männer, die aus eigener
       Erfahrung über NS-Zeit und Krieg berichten und Fragen der Schüler
       beantworten – das wird in wenigen Jahren nicht mehr möglich sein.
       
       Der WDR hat auf diesen Umstand nun mit einer [2][Augmented-Reality]-App
       reagiert, dank der Zeitzeugen im Klassenzimmer präsent sind, ohne physisch
       anwesend zu sein. „WDR AR 1933–1945“ heißt die App, für die sich drei
       Frauen aus der Kriegskindergeneration zur Verfügung gestellt haben. Auf der
       Didacta-Messe, die von Dienstag bis Samstag in Köln läuft, stellt der WDR
       das Projekt vor. Für iPhone und iPad ist die App bereits verfügbar, eine
       Android-Version wird dann im März folgen.
       
       Wer die drei Zeitzeuginnen aus St. Petersburg, London und Köln in seinem
       Klassenraum – oder bei sich zu Hause – sehen will, muss mit der Kamera
       seines Endgeräts einen Bereich auf dem Boden anvisieren, wo sich eine
       Person platzieren lässt. Auf dem Bildschirm sieht man die fremde ältere
       Frau dann im vertrauten Umfeld auf einem Sessel sitzen.
       
       Zum Beispiel Vera Grigg. Sie erzählt, wie sie im September 1940 die
       deutschen Bombardements auf London erlebte. Sie habe anhand des
       Motorenklangs immer gewusst, ob es sich um eine deutsche Messerschmitt oder
       eine Spitfire, einen britischen Abfangjäger, gehandelt habe, sagt sie. Man
       sieht Griggs nicht nur im eigenen Raum, die App visualisiert auch einen
       Teil ihrer Erzählungen.
       
       ## Digitales Lernen noch nicht ausgeschöpft
       
       Über ihrem Kopf sind Flugzeuge zu sehen, sie kommen direkt auf den
       Betrachter zu. Später brennt es dann auch kurz im Klassen- oder Wohnzimmer.
       Die Visualisierungen stammen von Lava Labs Moving Images, einem
       Düsseldorfer Studio für Spezialeffekte und Animationen.
       
       Maik Bialk, Leiter der Redaktion Doku & Digitales beim WDR, sagt, es werde
       ja oft darüber geklagt, dass zu viele Schulen kein WLAN hätten und es in
       den Klassen an Tablets fehle. „Doch das ist nicht das eigentliche Problem,
       sondern dass es keine adäquaten digitalen, beispielsweise interaktiven
       Lerninhalte gibt – nicht nur im Bereich Nationalsozialismus.“ Gewiss, es
       gebe digitale Versionen von Schulbüchern, und es sei ja durchaus in
       Ordnung, dass Schüler mit PDFs arbeiteten, aber von Lernen, das die
       Möglichkeiten des Digitalen ausschöpft, könne da ja noch längst nicht die
       Rede sein.
       
       Indem der WDR auf diesen Mangel an Angeboten reagiert, nimmt er seinen im
       Rundfunkstaatsvertrag festgeschriebenen Bildungsauftrag wahr. Entwickelt
       wurde die App speziell für den Unterricht an weiterführenden Schulen.
       Passendes Arbeitsmaterial in drei Niveaustufen kann heruntergeladen werden,
       mit Vorschlägen für den Geschichtsunterricht, Arbeitsblättern und
       Hintergrundtexten.
       
       „Das Handy wird in den nächsten sechs, sieben Jahren das relevante
       Trägermedium sein. Das kann man blöd finden, aber noch blöder finde ich,
       wenn dafür nichts Sinnvolles produziert wird“, sagt Bialk. Vor zwei Jahren
       begann die Arbeit an der App, zeitweise waren 50 Personen damit
       beschäftigt. Rund 2.000 Programmierstunden seien für das Projekt notwendig
       gewesen.
       
       ## Sofas sind leicht – Menschen schwieriger
       
       Der schwierigste Teil für die Programmierer der Hochschule Düsseldorf: Sie
       mussten es hinbekommen, dass die mit der AR-App verbundene Kamera erkennt,
       wie weit bestimmte Punkte im Raum voneinander entfernt sind, um die
       Gesprächspartnerinnen richtig platzieren zu können.
       
       Das Projekt sei „aufwendiger“ gewesen „als eine normale Filmproduktion“,
       sagt Bialk. „Wir haben sozusagen ins Offene gearbeitet, weil es bisher noch
       nichts Vergleichbares gibt. Man kann sich mit Hilfe von Augmented Reality
       ein Sofa ins Wohnzimmer stellen, aber das hilft einem bei der Umsetzung
       eines journalistischen Projekts nicht weiter.“ Die neue App habe den WDR
       „eine niedrige sechsstellige Summe“ gekostet.
       
       Für die künftigen AR-Projekte werden die Kosten geringer sein, denn dann
       fallen keine technischen Entwicklungskosten mehr an. Eine App über Anne
       Frank, wofür der WDR die beiden letzten noch lebenden Freundinnen Franks
       gewinnen konnte, ist bereits in Arbeit.
       
       19 Feb 2019
       
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