# taz.de -- Essay Grüne in Europa: Renaissance statt Schmusekurs
       
       > Die Grünen sind vor Jahren angetreten, für eine bessere Welt zu kämpfen.
       > Das geht derzeit am ehesten mit den Liberalen.
       
 (IMG) Bild: Die Grünen erlangten 1979 noch keinen Sitz im EU-Parlament – 2009 erreichten sie 12,1 Prozent
       
       Vor vierzig Jahren begann der parlamentarische Durchbruch der grünen
       Bewegung. 1979 hatten sich Joseph Beuys und Rudi Dutschke aus
       unterschiedlichen Richtungen den grün-alternativen Listen zugeordnet.
       Beuys, der sich zehn Jahre zuvor für direkte Demokratie eingesetzt hatte,
       entwarf ein Plakat für den Wahlkampf, auf dem ein kleiner Plastiksoldat auf
       einen größeren Hasen zielt, den „Unbesiegbaren“, wie unten rechts vermerkt
       war.
       
       Der Hase war Beuys’ Tiersymbol der Erneuerung des Lebens gegen die Welt des
       Krieges, die mit der Nachrüstung atomar bestückter Mittelstreckenraketen
       gerade eine neue Aktualität bekam. Beuys erklärte sein Engagement so: „Ich
       kandidiere für sie, denn nur die Grünen in aller Welt wollen mir ihren
       schöpferischen Kräften eine wirkliche Neugestaltung des Lebens bewirken.“
       
       Eine Stimme für die Grünen sei eine Stimme, die die Wähler „sich selbst für
       eine bessere Welt geben“ – ganz im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs, den
       Beuys bei den Documenta-Ausstellungen der 1970er Jahre proklamiert hatte.
       
       Zugleich waren die Alternativen 1979 eine heterogene Versammlung, deren
       politische Farben von mattbraun bis tiefrot reichten; Radikalpazifisten,
       Naturschützer, Esoteriker, Atomkraftgegner und geläuterte Linksradikale,
       gemeinsame Nenner waren Umwelt und Frieden.
       
       ## Zu viele Teutonen in Brüssel
       
       Aus dieser Gemengelage hat sich nach dem Ende der Flügelkämpfe heute ein
       progressiver Block in der Mitte herausgebildet, der längst nicht mehr
       allein das urbane, gebildete und einkommensstarke Bürgertum anspricht,
       sondern in viele gesellschaftlichen Milieus vorgedrungen ist.
       
       Das Potenzial der deutschen Grünen wird unterstützt, [1][aber auch
       gefordert von Jugendlichen], die Freitag für Freitag straßenöffentlich
       erklären, wie man vegan-vegetarisch satt werden und ohne Auto vorankommen
       kann, wie man Plastikmüll vermeidet und nicht zuletzt das Weltklima für
       ihre Zukunft noch einigermaßen erträglich hält.
       
       Die Grünen, die 1979 noch keinen Sitz im Straßburger Parlament erobern
       konnten, steigerten sich in Deutschland bis 2009 auf 12,1 Prozent, das
       bisherige Spitzenergebnis. Auch nach Rückschlägen blieb die
       Parlamentsgruppe in Straßburg und Brüssel von deutschen Abgeordneten
       dominiert.
       
       In Süd- und Osteuropa sind Parteien der Grünen Splittergrößen, in
       Österreich, Frankreich und Schweden haben sie sich selbst verzwergt. Eine
       Vergrößerung der Fraktion ist deshalb dieses Jahr kaum vorstellbar. Zu
       viele Teutonen in Brüssel werden auch im Grünen-Milieu ein Problem.
       
       ## Label der Verbotspartei lastet auf Partei
       
       Die Freitagsdemonstrationen sind ein Weckruf, den grünen Markenkern
       wiederzuentdecken und dazu eine entschieden supra- und transnationale
       Politik zu treiben. Denn man weiß seit 1979, als die erste
       Weltklimakonferenz bereits Fakten und Auswege präsentierte, was auf dem
       Spiel steht.
       
       Seit Grüne nicht mehr nur ein Thema bearbeiten wollten, übersehen sie, dass
       Ökologie das Thema ist, unter dem alle anderen zu bearbeiten sind. Das
       Label der Verzichts- und Verbotspartei lastete auf ihnen, der ökologische
       Fußabdruck ihrer Klientel ist beachtlich, kein Wunder, dass nicht nur die
       Kids von Fridays for Future (die es übrigens auch gerne geräumig, weltweit
       mobil und plastikverpackt haben) den Eindruck haben, es werde Wasser
       gepredigt und Wein getrunken.
       
       Im Europa-Wahlprogramm ist die Ökologie wieder nach vorn gerückt, mit der
       Perspektive eines Green New Deal, der positiv auf alle anderen Politik- und
       Lebensbereiche abstrahlt und auch das Problem der gewachsenen sozialen
       Ungleichheit in und zwischen den EU-Ländern neu stellt. Die Frage bleibt
       aber, ob die Grünen den nationalstaatlichen Container wirklich verlassen
       haben und genuin europäisch denken.
       
       Hierzulande kann man den Eindruck gewinnen, sie betrachteten die EU-Wahl im
       Mai eher als Ouvertüre zu den Landtagswahlen in Ostdeutschland, wo sie noch
       am Rande der Fünfprozenthürde balancieren. Dabei haben sich die Grünen als
       wichtige Antagonisten der AfD profiliert, die sich als Klimabremser,
       Umweltmuffel und Dieselpartei kenntlich machen.
       
       ## AKK macht sich unmöglich
       
       Diese Rolle können sie gerade in den „neuen Ländern“ selbstbewusst
       übernehmen, als Partei, die Umweltschutz und Demokratie in Europa
       voranbringen wird und Ostmitteleuropa eine bessere Perspektive bietet als
       Konservative und Ultrarechte in Ungarn und Polen, Sachsen und
       Mecklenburg-Vorpommern.
       
       Die Frage ist, mit welchen Koalitionspartnern in Straßburg und Brüssel man
       eine Politik der Nachhaltigkeit effektiv voranbringen will. Eine
       schwarz-grüne Option (die in Deutschland auf nationaler Ebene von den
       Bundesgrünen angestrebt wird) kann man ausschließen mit einer EVP, die
       Viktor Orbáns Fidesz-Partei in ihren Reihen duldet oder, wie jetzt klarer
       wird, sich von ihm ganz nach rechts ziehen lässt, indem sie auch um
       Kaczyńskis PiS wirbt und mit der Forza Italia im Bunde bleibt, deren
       Repräsentant (und Parlamentspräsident!) Antonio Tajani kürzlich Gutes an
       Mussolini fand.
       
       Die Kanzlerin in spe, Annegret Kramp-Karrenbauer, hat sich mit der Aussage,
       Schengen nütze vornehmlich den Kriminellen, [2][unmöglich gemacht]. Eine
       rot-rot-grüne Option ist in Brüssel kaum besser vorstellbar, nicht nur,
       weil die Sozialisten sich mit ebenso unmöglichen „Genossen“ in Osteuropa
       abgeben, sondern auch, weil links von ihnen souveränistische Strömungen
       supranationale Politik per se ablehnen – dass die EU „undemokratisch,
       militaristisch, neoliberal“ sei, betonen auch Teile der deutschen Linken.
       Dass die Europäische Union oft bessere ökologische Lösungen anstrebt als
       die Mitgliedstaaten, ist kaum verstanden worden.
       
       An den Grünen liegt es, nach dem 26. Mai die bestmögliche
       EU-parlamentarische Konstellation für eine Politik nachhaltigen Klima- und
       Umweltschutzes zu schaffen, und nach derzeitigem Stand dürfte das am
       ehesten mit Emmanuel Macrons Bewegungspartei Renaissance und den Liberalen
       zu machen sein. Wer Europas Institutionen voranbringen und eine gewachsene
       Rechts-Fraktion auf Distanz halten will, muss sich auch nach besseren
       Vorsitzenden im Rat, in der Kommission und im Parlament umsehen.
       
       Der bisher favorisierte Ansatz der Spitzenkandidaten ist ohne
       transnationale Listen kaum sinnvoll und wird von den Staatschefs offen in
       Frage gestellt. Mit einem in Bayern gewählten EVP-Kandidaten Manfred Weber
       als Kommissionschef würde sich nur der Berliner Brems- und Schmusekurs
       fortsetzen. Eine bessere Welt muss auch heute noch selbst wählen.
       
       16 May 2019
       
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