# taz.de -- Neuer Roman von Alina Bronsky: Haferschleim und Klavierstunden
       
       > Ein Junge und seine paranoide Großmutter sind Bronskys Hauptfiguren. Und
       > alle Menschen sind unvollkommen und eigenartig unvorhersehbar.
       
 (IMG) Bild: Die Autorin Alina Bronsky ist eine Zauberin der Perspektive
       
       Es gibt ganz selten mal welche, die können dünne Bücher schreiben, weil sie
       mit wenigen Worten auskommen. Das meiste steht sowieso zwischen den Zeilen.
       So ist es oft bei [1][Alina Bronsky], die aber nicht nur eine Meisterin des
       Unausgeschriebenen, sondern auch eine Zauberin der Perspektive ist –
       beziehungsweise, darüber hinausgehend, der Figureneinfühlung.
       
       Bronskys neuester Roman ist ein kleines Kabinettstück, was all dies
       betrifft. Ganz und gar aus der Perspektive eines heranwachsenden Kindes
       geschrieben, ist die Hauptperson von „Der Zopf meiner Großmutter“ eine
       andere, nämlich eben jene Großmutter.
       
       Irgend etwas scheint mit der Frau nicht zu stimmen; aber was das ist, daran
       tastet sich der Roman nur langsam heran. Denn der kleine Maxim, der
       Ich-Erzähler, ist sehr lange nicht in der Lage, die komplizierten
       Verhältnisse in der Erwachsenenwelt auch nur annähernd zu durchschauen.
       
       Der Junge lebt mit seinen Großeltern in einem Wohnheim für jüdische
       Einwanderer aus Russland. Juden sind sie zwar nicht, aber sie durften nach
       Deutschland kommen, weil angeblich der Schwager eines Cousins des
       Großvaters … Oder so.
       
       ## Die paranoide Großmutter
       
       Maxim versteht das alles nicht, zu Beginn des Romans ist er ja auch erst im
       Vorschulalter und nimmt es hin, dass die Großmutter zwar an Feiertagen mit
       den anderen zur Synagoge geht, aber sonst immer auf die Juden schimpft und
       vor allem den Enkel ständig warnt, er solle sich nicht von „dem rothaarigen
       Juden“ entführen lassen; eine Figur, die man unweigerlich als Pendant zum
       chimärischen „schwarzen Mann“ begreift.
       
       Was die Warnung in Wirklichkeit bedeutet, wird Maxim – und also wir alle –
       erst gegen Ende des Romans herausfinden. Doch zunächst hat er jahrelang
       unter der paranoiden Überängstlichkeit der Großmutter zu leiden, die ihn
       ausschließlich mit Haferschleim und ähnlichem Zeug ernährt, da sie
       befürchtet, er könnte sonst sterben, und die, als Maxim eingeschult wird,
       im ersten Jahr darauf besteht, mit in die Schule gehen zu müssen, damit ihm
       nichts zustößt.
       
       Die unschuldige Naivität des Ich-Erzählers, der lakonische Tonfall des
       Textes und die Absurdität der geschilderten Verhältnisse gehen eine so
       eigene Koalition miteinander ein, dass, auf der einen Seite, eine recht
       spezielle Form der Komik entsteht. Doch hinter dem Absurden lauert spürbar
       etwas Unbekanntes, möglicherweise sogar Bedrohliches. Vielleicht hat die
       furchteinflößende Großmutter ja das [2][Münchhausen-Syndrom?]
       
       ## Episoden der menschlichen Komödie
       
       Die Situation entschärft sich zugunsten von Maxim, als eine echte, ziemlich
       große Familienkrise eintritt: Der sonst so stoische Großvater hat sich
       verliebt und sehr überraschend ein Kind mit Maxims Klavierlehrerin gezeugt.
       Erst jetzt zeigt sich, was wirklich in der Großmutter steckt; denn statt in
       Verzweiflung und Hysterie zu verfallen, macht sie sich zum Oberhaupt einer
       ungewöhnlichen kleinen Patchworkfamilie. Allerdings ist damit längst noch
       nicht alles gut …
       
       „Der Zopf meiner Großmutter“ erzählt eine Geschichte, die so viele
       tragische und dramatische Züge enthält, dass sie sehr passend auch als
       Melodram wiedergegeben werden könnte. In der Bronsky-Erzählwelt aber läuft
       das anders. Dort werden auch Dramen und Tragödien zu Episoden einer großen
       menschlichen Komödie. Der Mensch, nein, alle Menschen sind darin so
       unvollkommen und eigenartig unvorhersehbar, dass sie noch in Momenten
       höchster Not für Überraschungen gut sind.
       
       Es ist, als läge ein nachsichtiges göttliches Lächeln über dem Text; eine
       Art schützende Aura vor den unleugbaren Zumutungen des Lebens. Und am Ende
       dieses nur äußerlich kleinen Romans wird nicht nur Maxim erwachsen geworden
       sein, sondern auch seine Großmutter wird sich von ihrem früheren Selbst
       emanzipiert haben. In der Bronsky-Welt hat nämlich wirklich jeder Mensch
       das Recht auf seinen ganz persönlichen Entwicklungsroman.
       
       14 Jun 2019
       
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