# taz.de -- Jazz beim mœrs-Festival: Die Alten erschrecken
       
       > In Moers fand an Pfingsten das Jazzfestival statt. Sein Konzept ist
       > runderneuert, seine Jazz-Definition erweitert. Der Experimentierwillen
       > ist groß.
       
 (IMG) Bild: black midi aus London, hier live in Moers
       
       Gewisse Eltern, meine etwa, würden sich nach wenigen Sekunden mit Grausen
       abwenden, vielleicht vorher noch leise glucksen ob des Krachs, der ihnen
       gerade im Konzert serviert wird. Als am Freitag pünktlich um 16.15 Uhr der
       Japaner Tatsuya Yoshida als „Ruins Alone“ die Bühne beim „mœrs-Festival“
       betritt, sich an sein Schlagzeug setzt, um im nächsten Moment drauflos zu
       trommeln, während aus seinem Laptop midi-basierte Coverversionen von
       Beatles bis Bach, von Debussy bis Super-Mario (alles in Hi-Speed) preschen,
       heißt es den Toleranz-Schalter umzulegen.
       
       Wie bei den meisten KünstlerInnen der 48. Edition des Festivals für
       improvisierte Musik liegt das Glück oft zwischen einem „Sich-Zwingen“ und
       der „Vorfreude“. Doch in Moers, dieser Kleinstadt am Niederrhein, die man
       kennt, weil dort ein Festival mit internationalem Ruf stattfindet, ist man
       Atonales gewöhnt und hat gelernt, es zu genießen, während sich andere noch
       darüber wundern.
       
       Der Stolz auf das Festival ist groß; vielleicht fühlen sich die Moerser
       deshalb mit den Bewohnern des schleswig-holsteinischen Wacken wegen des
       dort stattfindenden Metalfestivals seelenverwandt. Während Yoshida, der
       als Spezialgast beim ersten von insgesamt neun Auftritten (in
       unterschiedlichen Formationen) gerade gekonnt tollpatschig die „Ode an die
       Freude“ intoniert, stehen Eltern mit ihren Kindern zwischen
       Haremhosen-Hippies, denen man abnehmen würde, sich auf dem Weg zum nächsten
       Wald-und-Wiesen-Festival verlaufen zu haben.
       
       ## Umgestaltung der Bühne
       
       „mœrs“ (so die Eigenschreibweise) ist nun mal Kult. Und spätestens seit
       2017 und der Übergabe des Staffelstabs der Programmleitung vom Kölner
       Rainer Michalke zu Tim Isfort versucht man auch wieder etwas mehr als Kult
       zu sein. Hebel gibt es dafür viele, einige Ungewohnte werden vom Kurator
       und dem Team betätigt.
       
       Dazu gehört sicherlich die Umgestaltung der Festivalhalle, deren Bühne
       nicht dort steht, wo man eine Bühne erwartet, sondern um etwa 45 Grad
       gedreht und auf die Längsseite der Halle geschoben, wo sie nun ihre Heimat
       hat. So sitzt das Publikum auf zwei Tribünen hinter beziehungsweise vor der
       Bühne, die mit einem Holzpanzer inklusive schwenkbarem Kanonenrohr als
       Bühnenbild daherkommt.
       
       Zum Gesamteindruck gehören die leuchtenden Kinderschaufensterpuppen, die
       hier allenthalben von der Decke baumeln oder schlicht im Publikum sitzen.
       Festivalleiter Isfort möchte nicht preisgeben, warum sein Hauptspielort
       kleinkünstlerisch betreut wird, wirft aber mit redlich gemeinten Begriffen
       wie „Perspektivwechsel“ und „Normalitätserwartung“ um sich. Der
       Perspektivwechsel kommt bei den BesucherInnen jedenfalls an; vorrangig auf
       der Ebene der Begeisterung.
       
       Das mag auch daran liegen, dass nach dem Ende von Yoshida Konzert ein
       Sturzbach vom Himmel kommt und die teils nassgeregneten Zuschauer mit einer
       Weltpremiere entschädigt werden: Sun Ra Arkestras Marshall Allen,
       Free-Jazz-Drum-Titan Günter „Baby“ Sommer, Toshimaru Nakamura, unter der
       Bandleadership Rodrigo Brandãos, spielen erstmals zusammen und bilden den
       Auftakt für den neuen Programmzweig „Labor“, der (wohlkuratiert)
       KünstlerInnen zusammenbringen soll, die wahrscheinlich nie auf die Idee
       kommen würden, dass es passt. Doch hier passt es.
       
       ## Zirkularatmung auf dem Turm
       
       Und diese Aufeinandertreffen passen an den vier Festivaltagen sehr häufig;
       auch wenn die Musik stets sperrig bleibt, keine Anbiederung stattfindet,
       sondern „Improvisation“ sowie „Experiment“ nie aus den Augen verloren
       werden. Trompeter Peter Evans fügt sich dem Spektakel und spielt als
       Hauptakt in der großen Festhalle nicht auf der Bühne, sondern präsentiert
       sein umwerfendes Zirkularspiel vom Regieturm runter.
       
       Eine weitere Neuerung – zumindest in diesem Umfang – sind die
       internationalen Partnerschaftsprogramme: Schwerpunktweise widmet man sich
       São Paulo, Frankreich, Belgrad und Tokio. Zur letztgenannten Partnerschaft
       gehört etwa Yoshidas Residency, aber auch Künstler wie das Yasei
       Collective, das funky und mathematisch-vertrackt kombiniert. Im Ergebnis
       klingt es den J-Pop-Pionieren Yellow Magic Orchestra nicht unähnlich.
       
       São Paulo präsentiert sich etwa mit Tom Zé. Der 82-jährige Miterfinder des
       Tropicália-Sounds ist einer der Brasilianer, die ihre Kunst stets
       gesellschaftspolitisch eingebettet haben. Je mehr Musik in Moers man hört,
       desto eindeutiger vermittelt sich auch der Eindruck, dass dem Festival eine
       Agenda zugrunde liegt; Re-Politisierung eines Musikzweigs (improvisierter
       Jazz), der sich in den letzten Jahrzehnten allzu häufig als L’art pour
       l’art verstanden hat, wo die bloße Ausdrucksweise mehr bedeutete als das
       Ausgedrückte.
       
       Man thematisiert dies offensiv: Das Festivalheft wird zum Manifest, nur
       sind die Texte leider in einer Marketingsprache verfasst. Die
       Warenhaftigkeit von Free Jazz, auch in seinen tiefsten Sparten und
       absurdesten Subgenrearmen, scheint in Zeiten von Festivals, die einzig
       Headliner an Headliner reihen, Überhand zu nehmen. Den Fehler möchte man in
       Moers nicht wiederholen; selbst wenn man solch hoch gehandelte Newcomer wie
       das Post-Hardcore-Math-Rock-Jazz-Ensemble black midi (sic!) aus London
       einlädt. Diese wiederum spielen tatsächlich diese tolle Musik, mit der man
       Eltern erschrecken kann.
       
       11 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lars Fleischmann
       
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