# taz.de -- Bildungsreferent über Demokratie-Labor: „Heterogenes Bild von Deutschland“
       
       > Tausende SchülerInnen haben im Deutschen Historischen Museum über Politik
       > diskutiert. Bildungsreferent Helber erklärt, warum die AfD nicht
       > vorkommt.
       
 (IMG) Bild: DFB-Fantrikot von Mesut Özil: SchülerInnen debattierten nationale Zugehörigkeit
       
       taz: Herr Helber, bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg
       [1][haben junge WählerInnen vor allem zwei Parteien gewählt: AfD und
       Grüne]. Was sagt dies über den Zustand unserer Demokratie aus? 
       
       Patrick Helber: Grüne und AfD sind die Parteien, die sich derzeit am
       meisten von den anderen abheben. Den Grünen kommen die Klimaproteste
       entgegen. Wir hatten hier im Demokratie-Labor kaum SchülerInnen, an denen
       [2][Fridays for Future] vorübergegangen ist. Dass die Grünen als
       Regierungspartei auch Kosovokrieg und Hartz IV mitgetragen haben, ist bei
       ErstwählerInnen wahrscheinlich wenig bekannt. Bei der AfD ist schwerer zu
       greifen, warum sie attraktiv für junge Menschen ist. Ich persönlich denke,
       es reicht für diejenigen, die unter Abstiegsängsten leiden, schon die
       völkische Rhetorik. Also das Versprechen, dass weiß und deutsch sein
       bedeuten soll: Ihr habt einen Anspruch auf mehr Rechte.
       
       Sie und Ihre KollegInnen haben in den letzten Monaten [3][Tausende
       SchülerInnen aus ganz Deutschland durch das Demokratie-Labor geführt] und
       mit ihnen unter anderem über das Konzept Volk gesprochen. Was verstehen
       Jugendliche darunter? 
       
       Unsere Erfahrung war, dass eine große Mehrheit der SchülerInnen ein
       diverses und heterogenes Bild von Deutschland hat. Viele hatten selbst mehr
       als eine Staatsangehörigkeit. Besonders gut konnten wir das im Raum zum
       Thema „Wer ist das Volk?“ sehen, in dem es um Identitäten ging. Dort war
       ein DFB-Fantrikot von Mesut Özil ausgestellt, das auf die Debatte um Özils
       nationale Zugehörigkeit anspielt. Die überwiegende Meinung dazu war, dass
       es schon okay ist, mehr als eine nationale und kulturelle Identität zu
       haben. Dass das eine Bereicherung für die Gesellschaft ist. Wenn
       SchülerInnen hier etwas kritisiert haben, dann, dass [4][Özil sich hat mit
       Erdoğan ablichten lassen] und damit einen antidemokratischen Präsidenten
       unterstützt hat oder er rassistisch angefeindet wurde.
       
       Bei SchülerInnen aus Berlin oder Köln glaube ich das sofort. Wie sieht es
       aber bei SchülerInnen aus Kleinstädten aus, die solche Identitätsfragen
       nicht gewöhnt sind? 
       
       Hin und wieder kam es vor, dass eine Schülerin oder ein Schüler Özil als
       Ausländer oder als Türke bezeichnet hat. Selten um Özil bewusst
       auszugrenzen, sondern häufig aus Unwissenheit oder mangelnder Sensibilität.
       Allgemein kennzeichnet manche SchülerInnen ein unkritisches Verhältnis zur
       Sprache, aber auch zur Staatsmacht.
       
       Geben Sie uns ein Beispiel. 
       
       Beim Thema Gewalt und Demokratie. Das zentrale Ausstellungsstück dazu war
       ein Taser, eine Elektroschockpistole der Polizei. Die Frage, die wir dazu
       gestellt haben, war: Soll die Polizei um diese Waffe aufgerüstet werden?
       Viele haben das bejaht. Dabei wurde deutlich, dass viele SchülerInnen ein
       sehr positives Bild von der Polizei haben und sich selbst gar nicht als
       potentielles Opfer dieser neuen Waffe sehen, sondern einen abstrakten
       Verbrecher. Erst über die angeleiteten Gespräche kamen sie auf kritische
       Fragen wie der nach Missbrauch oder unverhältnismäßiger Polizeigewalt. Ein
       anderes Beispiel ist das Wahlalter. Einige fanden es in Ordnung, dass sie
       erst ab 18 wählen dürfen und somit erst ab diesem Alter als mündige
       Bürgerinnen und Bürger gelten. Das hat mich persönlich schon gewundert.
       
       Haben Sie eine Erklärung dafür? 
       
       Das ist natürlich schwierig zu beurteilen. Wir vom Museum verbringen ja
       maximal zwei bis drei Stunden mit einer Schulklasse. Wir können nur
       Impulsgeber für kritisches Denken sein. Sprich: Wir wollen Jugendliche und
       junge Erwachsene dazu bringen, Macht und Herrschaft kritisch zu
       hinterfragen, für eigene Partizipation zu streiten und sie für die Themen
       Diskriminierung und soziale Ungleichheit zu sensibilisieren. Dass ein
       junger Mensch emanzipiert politische Prozesse reflektiert und dann
       vielleicht solidarisch handelt, dafür sind viele Faktoren notwendig. Das
       Elternhaus, das soziale Umfeld, die Schule.
       
       Viele Bundesländer setzen gerade wieder verstärkt auf politische Bildung an
       den Schulen. Was sagen Sie als Historiker dazu? 
       
       Wenn es so wie hier in Berlin dazu führt, dass dafür weniger Geschichte
       oder weniger Ethik unterrichtet wird, halte ich das für bedauerlich. Gerade
       der Überblick über die Geschichte der letzten 150 Jahre hilft, um aktuelle
       politische Entwicklungen einordnen zu können. Im Deutschen Historischen
       Museum lief parallel zum Demokratie-Labor auch die Ausstellung „Weimar: vom
       Wesen und Wert der Demokratie“. Die aktuellen politischen Debatten, die wir
       anhand von sieben Streitobjekten im Demokratie-Labor behandelt haben, waren
       also bei uns nicht isoliert von der Geschichte. Das haben wir auch den
       SchülerInnen erzählt: Jeder Diskurs hat auch eine Vergangenheit. Und
       natürlich wollten wir die BesucherInnen zu der Frage bringen, wie sie – wie
       wir – in Zukunft leben wollen.
       
       Zum Thema Pressefreiheit haben Sie im Demokratie-Labor unter anderem eine
       [5][Pegida-Demonstration] gezeigt, auf der die Teilnehmenden „Lügenpresse“
       skandieren. Welchen historischen Kontext müssen SchülerInnen haben, um das
       Problem zu erkennen? 
       
       In der Ausstellung zur Weimarer Republik wird das Thema Pressefreiheit
       anhand von Carl von Ossietzky thematisiert, der über die verbotene
       Aufrüstung der Reichswehr berichtete und deshalb wegen Spionage verurteilt
       worden ist. Für SchülerInnen ist Ossietzky eine mutige, pazifistische
       Figur, mit der sie sich identifizieren können. Im Demokratie-Labor haben
       wir das Foto von einer Pegida-Demonstration gezeigt, auf dem „Wahrheit
       statt Lügenpresse“ steht, entkontextualisiert könnte man das affirmativ
       lesen. Natürlich soll die Presse nicht lügen, sondern die Wahrheit sagen.
       Deshalb ist es hilfreich, den geschichtlichen Hintergrund zur Einschränkung
       der Pressefreiheit oder zum Vorwurf der Lügenpresse zu kennen.
       
       Apropos Kenntnisse: Was verbinden 15-Jährige denn sofort mit Demokratie? Wo
       haben sie ein Aha-Erlebnis? 
       
       Als Allererstes nennen SchülerInnen immer Wahlen. Dass damit allein aber
       noch keine Demokratie steht und auch nichtdemokratische Regimes Wahlen
       durchführen, darauf kamen wir im Demokratie-Labor deshalb zu sprechen. Was
       nach meiner Erfahrung für viele SchülerInnen ein Aha-Erlebnis war, ist die
       große Ungleichheit, die wir im Land haben. Zum einen, was
       Diskriminierungserfahrungen angeht. Wir hatten ein Demonstrationsplakat aus
       Neukölln ausgestellt, das eine Frau mit Kopftuch und Hashtag
       #MyHeadMyChoice zeigt. Das hat für sehr viel Solidarität gesorgt hat.
       Richtig erstaunt waren viele auch beim Thema Bildungsgerechtigkeit. Da
       haben wir drei Bücherstapel ausgestellt, die markiert haben, wie viel Geld
       welche Familie für die Bildung ihrer Kinder ausgeben kann: eine Familie,
       die von Hartz IV lebt, der Bundesdurchschnitt, und – als kleine Provokation
       – die Kosten für einen Internatsplatz der Eliteschule Salem. Ob
       Chancengleichheit existiert oder eine Illusion ist, darüber gab es oft
       lebendige Diskussionen.
       
       Zur Demokratie gehören aber auch die Gefahren. Warum kommen AfD, Identitäre
       & Co nicht vor? 
       
       Als wir das Labor konzipiert haben, haben wir ganz klar gesagt: Wir wollen
       jungen Menschen ein positives und emanzipatorisches Bild der Demokratie
       vermitteln. Also aufzeigen, dass Politik nicht nur im Parlament
       stattfindet, sondern dass es sich lohnt, aktiv zu werden, um für ein
       selbstbestimmtes und gerechtes Leben für alle zu streiten. Und natürlich
       gehört auch zur Demokratie, wachsam gegenüber jeglicher Form der
       Ausgrenzung und antidemokratischen Tendenzen zu sein.
       
       14 Sep 2019
       
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