# taz.de -- Saisonauftakt am Thalia-Theater: Das große Schweigen
       
       > Von der Verwüstung moralischer Urteilsfähigkeit: Jette Steckel inszeniert
       > Nino Haratischwilis Roman „Die Katze und der General“.
       
 (IMG) Bild: Verstörende Bilder: Angst vor Pathos hat Regisseurin Jette Steckel nicht
       
       HAMBURG taz | Ach, der menschliche Wunsch nach Erkenntnis, wie
       Philosophie-trunken erstrebt er eine Ahnung von Wirklichkeit an sich. Einen
       Fussel Wahrheit! Und versteht das Leben doch immer nur so, wie es uns
       erscheint und wie wir es interpretieren. Zur Ersatzbefriedigung der
       unerfüllten Sehnsucht hat die Kulturindustrie den Krimi und seinen
       rabiat-coolen Bruder, den Thriller, erfunden. Wird in diesen Genres doch
       erkundet, wie etwas tatsächlich war. Wenn ein Detektiv so lange einem
       unverständlichen Mord hinterherrecherchiert, bis klar ist, wer warum der
       Täter war.
       
       Mit dieser wissen machenden und dadurch beruhigenden Dramaturgie beglückt
       jetzt auch die Saisoneröffnungspremiere des [1][Thalia-Theaters]. Nach
       ihrem großen Publikumserfolg mit der Dramatisierung von Nino Haratischwilis
       1.300-seitiger Familiensaga „[2][Das achte Leben (Für Brilka)]“ hat Jette
       Steckel nun den neuen, 760 Seiten schweren Roman der deutsch-georgischen,
       in Hamburg lebenden Autorin inszeniert: „[3][Die Katze und der General]“.
       
       Die ausufernde Narration wird dabei geschickt konzentriert auf die zentrale
       Geschichte um Schuld und Sühne, die einer wahren Begebenheit nachgebildet
       ist. In prägnanten Miniaturszenen werden Information um Information,
       Erinnerung um Erinnerung zu einem Kriegsverbrechen gesammelt.
       
       Trotz rasanter Zeitsprünge packt die Aufklärungsarbeit die
       Zuschaueraufmerksamkeit, ist dabei aber nie Selbstzweck, sondern sanft
       empathisch den Wahrheitssuchern gegenüber und mit deutlichem Impetus gegen
       die russische Demokratur Putins ausgestattet.
       
       Eine Menschenrechtlerin, die der 2006 ermordeten Anna [4][Politkowskaja]
       nachempfunden ist, wie auch ein deutscher Journalist und die Katze aus dem
       Stücktitel – Spitzname einer Schauspielerin – erforschen auf der Bühne die
       Hintergründe der beiden Tschetschenien-Kriege und flechten sie beiläufig in
       die Handlung ein.
       
       ## Vernarbte Biografien
       
       Dass Russland den Kaukasus seit dem 18. Jahrhundert [5][kolonisiert], ist
       zu erfahren. Bereits Stalin habe Tschetschenen deportiert und Russen in
       ihrem Land angesiedelt, heißt es. Die Heimgekehrten seien in den 1990er
       Jahren von der militärischen Aggression teilweise zur Flucht gezwungen und
       das Land im russischen Staatsverband gehalten worden – wider eine
       Separatistenbewegung, die sich vornehmlich aus der islamischen
       Bevölkerungsmehrheit rekrutierte.
       
       Da ihr niemand zu Hilfe kam, spricht Haratischwili vom „globalen Verrat an
       Menschenrechten“. Zudem porträtiert sie mit der zweiten Titelfigur, dem
       General, ein Musterbeispiel der heute scheel beäugten Oligarchen, die
       während des ökonomischen Perestroika-Chaos wie aus dem Nichts der
       zerfallenden sowjetischen Großmacht als Selfmade-Multimillionäre
       auftauchten.
       
       Anfangs ist der General ([6][Jirka Zett]) ein liebenswürdig verzagter
       Soldat der russischen Besatzer. Abseits der grausamen Kämpfe in Grosny
       urlaubt er mit seiner Einheit in einem märchenhaft illuminierten Nebelort.
       Ländlich archaische Menschen geistern umher. Gottlose Sozialisten streiten
       mit denjenigen, die Allah als Hoffnung gegen die gehasste russische
       Okkupation preisen. Gegenseitig bezeichnet man sich als „Kakerlaken“ oder
       „Abschaum“.
       
       Nach und nach überlagern Kriegsvideos die Szenerie. Der General und seine
       Kameraden machen derweil heimlich Geschäfte mit der örtlichen Bevölkerung.
       Kaufen Eier, aber auch Hühner – wollen noch einmal wie ein König Coq au Vin
       speisen, bevor der Tod auf dem Schlachtfeld ihnen auflauert.
       
       Geradezu beispielhaft nähern sich dabei die Kriegsfeinde über ihre
       Geschäftsbeziehungen auch menschlich an. Allesamt Figuren, die mit
       vernarbten Biografien inmitten einer Wirklichkeit aus Schrecken ihr kleines
       privates Glück suchen. Was der unberechenbare Kommandeur nicht akzeptieren
       kann. Auf sein Geheiß hin wird die junge Bäuerin Nura ([7][Lisa
       Hagmeister]) als Terroristin festgenommen, verhört, gefoltert und
       vergewaltigt, schließlich ermordet.
       
       ## Verstörende Choreografie
       
       Steckel hat fast zwei Stunden lang das Stückpersonal facettenreich
       entwickelt, die gruppendynamischen Situationen, den psychologischen und
       sozialen Hintergrund nachvollziehbar gemacht – bis sie den Ausbruch des
       Gewaltexzesses in eine angemessen verstörende Choreografie übersetzt. Dann
       ist Pause – und das Premierenpublikum sitzt schweigend betroffen da.
       Unfähig zu applaudieren.
       
       Mit zunehmender Aufführungsdauer werden die Nebenhandlungsfäden sukzessive
       miteinander verknüpft, wobei Szene für Szene klarer wird, wer wie an der
       Vergewaltigung beteiligt war und was daraus folgte. Eine Aufarbeitung der
       Geschehnisse kann das Militär nicht hinnehmen, der Imageschaden wäre
       gewaltig. Also erklärt es die Anwälte der Wahrheit zu Verbrechern. Mit
       Bestechung, Vertuschung, Verleugnung startet das große Schweigen.
       
       Aber auch Selbstbehauptungsversuche sind zu erleben. Denn neben den bösen
       Bösen, den Psychopathologisierten, gibt es die guten Bösen, die nur so
       „reingerutscht“ sind in die Massenvergewaltigung. Einer kann daraufhin
       nicht weiterleben, erschießt sich aus Scham. Der General aber ist einfach
       nur komplett desillusioniert, wird vom Selbsthass gepiesackt und nimmt
       einen Identitätswechsel vor. Seinem feinsinnigen Geist widerspricht er,
       narkotisiert die empfindsame Seele. Wie neugeboren erwacht er als
       skrupelloser Unternehmer.
       
       Seine Begründung: In einer Welt, in der man straffrei vergewaltigt und
       mordet, weil sich die Möglichkeit dazu ergibt, sei jeder Versuch einer
       moralischen Haltung nichts weiter als lächerlich. Gebe es „kein Richtig
       mehr“, bleibe als einziges Streben nur das nach Macht.
       
       Das Beeindruckende an Steckels Regie ist, dass sie nicht nur bei der
       Gesinnungswandelei, auch in den Liebes-, Freundschafts-, Hoffnungsszenen
       keine Angst vor Pathos hat. Weswegen die Produktion immer am Rande der
       Sentimentalität, durch die Zuspitzung der Situationen auch auf der Kippe
       zum Lehrstück balanciert, das aber eben schauspielerisch derart brillant,
       dass der Abend nie kitschig, stets anrührend emotional ist – voller
       menschlicher wie politischer Wahrheiten.
       
       6 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Kaukasus#Eroberung_durch_Russland
 (DIR) [6] https://www.thalia-theater.de/ueber-uns/ensemble/darsteller/jirka-zett
 (DIR) [7] https://www.thalia-theater.de/ueber-uns/ensemble/darsteller/lisa-hagmeister
       
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