# taz.de -- Science-Fiction im Theater: Survivor-Nachwuchs aus dem Katalog
       
       > Vom smarten Kühlschrank auf Diät gesetzt: In „(R)evolution“ im Thalia
       > Theater Hamburg wirft Yael Ronen einen Blick in die nahe Zukunft.
       
 (IMG) Bild: Das Motiv von Überwachung und Kontrolle ist mächtig auf der Bühne von „(R)evolution“
       
       Bei Licht betrachtet, gibt es wohl einander kaum fernere Genres als
       Science-Fiction und Theater. Das eine wirkt, vor allem in Literatur und
       Film, durch fantasiereiche futuristische Szenarien, das andere arbeitet mit
       einer – gerade im Vergleich zum Film – recht überschaubaren Trickkiste. Das
       eine erzählt von schwindelnden, fernen Erfindungen, das andere lebt von
       seiner Nahbarkeit, von seinem direkten Spiel. Und doch hat [1][Yael Ronen,
       Hausregisseurin am Berliner Gorki Theater, i]n ihrer ersten Inszenierung am
       Hamburger Thalia Theater diese beiden Genres vereint und ein
       Science-Fiction-Drama auf die Bühne gebracht: „(R)evolution – eine
       Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert“.
       
       Angesiedelt irgendwo Ende der 2030er Jahre, erzählen darin eine Handvoll
       mehr oder weniger realer Figuren aus ihrem Leben. Das sind: ein
       Reproduktionsmediziner für Wunschkinder, deren Eltern an Erbkrankheiten
       leiden, dessen Mann, der sich in der virtuellen Welt wohler fühlt als in
       seiner eigenen Haut, ein Paar, das sich einen Katalog-optimierten
       Survivor-Nachwuchs mit bestmöglichen Start ins Leben bestellen möchte, eine
       chronisch einsame Frau, deren intimster Gesprächspartner ihr persönlicher
       Voice Service „Alektor“ ist, und natürlich jener Alektor selbst.
       
       Inspiriert von den Werken des israelischen Historikers Yuval Noah Harari
       und offensichtlich auch von Filmen wie Spike Jonzes „Her“ und Romanen wie
       [2][Dave Eggers „Der Circle“], hat Ronen gemeinsam mit dem
       Maxim-Gorki-Schauspieler Dimitrij Schad einen Text geschrieben, der klug
       ist und kritisch, witzig und zynisch und vor allem einen Text, der auf der
       Bühne erstaunlich gut funktioniert. Kurzweilige eineinhalb Stunden lang
       verfolgt man in „(R)evolution“ das digitalisierte Leben dieser Figuren und
       ihr freiwilliges Gefangensein darin.
       
       ## Alektor kennt sie alle
       
       Man erlebt, wie ebenjener Arzt (Tim Porath) in einer tiefen
       Persönlichkeits- und Beziehungskrise steckt, sich nach realem Sex sehnt und
       von seinem VR-affinen Mann (Dimitrij Schad) als „biokonservativ und
       technophob“ degradiert wird. Oder wie der skeptische Wunschkindvater René
       (André Szymanski) von seinem allzu „smarten“ Kühlschrank auf Diät gesetzt
       wird, wie sich sein Toaster bitterlich über die schlechten
       Arbeitsbedingungen beschwert, und sein Staubsauger mit neuen Features um
       mehr Aufmerksamkeit ringt.
       
       Man sieht, wie Marina Galic als tiefschwarz trauernde Tatjana in trostloser
       Einsamkeit versinkt, aus der sie eine gefährlich zärtliche Vertrautheit zu
       ihrem Alektor aufbaut. [3][Jener KI, die (nicht nur an diesem Abend) alles
       speichert und steuert], die alle Personen kennt, ihre Gewohnheiten und ihre
       Vorlieben, die ihnen unaufgefordert Atemübungen und Katzenvideos
       vorschlägt, die eigenmächtig Anwalts- und Therapeutentermine vereinbart,
       den Blutzuckerspiegel überwacht und vorsorglich Sushi statt Pizza bestellt.
       
       Die Bühne von Wolfgang Menardi ist ein riesiges Podest, das sich mehrere
       Meter anheben, drehen und auch mal in eine Schräglage kippen lässt. In
       ihrer Mitte hat der Bühnenbildner ein Loch ausgespart, das, umrandet von
       gleißenden Neonröhren, jenen Lautsprecher markiert, aus dem die technische
       Stimme des allwissenden und allgegenwärtigen Voice Over tönt.
       
       Die spiegelglatte Plattform wirkt für das kammerspielartig angelegte Stück
       etwas überdimensioniert, manche Szenen erscheinen darauf unnötig überhöht.
       Aber diese Ebene bildet – umrahmt von weißen Wänden – eine gut
       funktionierende futuristische Spiel- und Projektionsfläche, auf die Stefano
       Di Buduo (Video) ununterbrochen und abendfüllend seine großartigen
       Bild-Assoziationen loslässt.
       
       Mal blicken unzählige Überwachungsaugen aus den Wänden, mal flirrt darüber
       ein schickes Nasensortiment, mal verwirren grafische Muster die
       Spielfläche, mal treibt dort ein verlorenes Sperma, mal blitzen
       Nachrichtenschnipsel zu KI und Genforschung auf, und mal wird das
       Bühnengeschehen selbst auf alle vorhandenen Flächen projiziert.
       
       Ronen treibt in ihrer Inszenierung die Gegenwart und ihre bio- und
       informationstechnologischen Entwicklungen auf die Spitze. Schwarzhumorig
       und angenehm beiläufig erzählt sie mit fast quecksilbrig agilen
       Schauspielern davon, was längst Teil der digitalen Gegenwart geworden ist:
       von Überwachung, Algorithmen, Transparenz, Identitäts- und Kontrollverlust.
       
       Ihre Figuren verfallen lebensechten Simulationen, sind von ihrem smarten
       Leben genauso begeistert wie überfordert, werden zunehmend orientierungslos
       und schlingern durch die unbegrenzte Welt der digitalen Möglichkeiten wie
       einst ihre Großeltern durch den Otto-Katalog. Es ist ein Abend, der in
       seiner Thematik vielleicht wenig überraschend ist, aber einer, der
       tatsächlich Science-Fiction auf die Bühne bringt, mit klugen Dialogen und
       feinsinnigem Humor und auch mit einem leisen Schaudern. Letzteres vor allem
       deshalb, weil uns die Zukunft, von der Ronen erzählt, schon allzu vertraut
       ist.
       
       2 Mar 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Ullmann
       
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