# taz.de -- Scharia in Nordnigeria: Von Moral keine Spur
       
       > Vor 20 Jahren wurde im Norden Nigerias die Scharia eingeführt, wütenden
       > Protesten zum Trotz. Seitdem ist das Land mehr denn je religiös
       > gespalten.
       
 (IMG) Bild: Überreste einer Kirche in Kaduna, Nigeria, Februar 2000
       
       Wer in der Stadt Kaduna, dem alten politischen Machtzentrum im Norden
       Nigerias, älter als 30 ist, erinnert sich noch an jene Unruhen im Frühjahr
       2000, die als Kaduna Riots in die Geschichte des Landes eingingen. Nachdem
       der damalige Gouverneur Ahmed Markafi im Februar die Einführung der
       islamischen Gesetzgebung Scharia ankündigt hatte, kam es in den
       darauffolgenden Monaten zu schweren Ausschreitungen.
       
       Bis zu 5.000 Menschen starben. Überlebende zeigen verkrüppelte Hände und
       Füße oder erzählen, wie sie mitansehen mussten, dass ihre Kinder oder
       Eltern abgeschlachtet wurden. Den Anfang genommen hatte die Debatte im
       Herbst 1999, als der Gouverneur von Zamfara, Ahmed Sani Yerima, bekannt
       gab, dass in seinem Bundesstaat künftig die Scharia gelten sollte.
       
       Muslim*innen applaudierten damals in der Hoffnung, dass es nach dem Ende
       der jahrzehntelangen Militärherrschaft und den Wahlen im Februar 1999
       endlich mit dem Land aufwärtsgeht. Sie hofften, dass der Staat seiner
       Fürsorgepflicht für Arme nachkommt, Korruption eingedämmt, das Bildungs-
       und Gesundheitssystem verbessert wird. Kurzum: Es sollte wieder mehr
       Anstand und Moral in die Gesellschaft einziehen.
       
       Davon ist 20 Jahre später nichts zu spüren. Der [1][Norden Nigerias], wo
       die Mehrheit der Bevölkerung dem Islam angehört, ist in vielerlei Hinsicht
       Nigerias abgehängte Region. Nirgendwo sonst gehen Kinder so kurz zur Schule
       wie dort; im Schnitt gerade einmal vier Jahre, – drei weniger als im
       Landesdurchschnitt. Nirgendwo sonst ist die Ungerechtigkeit zwischen Frauen
       und Männern so groß, nirgendwo die Armutsrate höher.
       
       Gouverneur Yerima heiratete indes eine 13-Jährige aus Ägypten und
       begründete das ebenfalls mit der Scharia. Es sorgte nicht nur bei
       Frauenrechtsverbänden für Proteste, sondern auch für Kritik von
       Islamgelehrten. Ab und zu wurden Schauprozesse geführt, etwa gegen die
       30-jährige Amina Lawal. 2002 sollte sie wegen der Geburt eines unehelichen
       Kindes zu Tode gesteinigt werden. Stehlende Politiker*innen – ebenfalls
       ein Vergehen – wurden allerdings nie zur Rechenschaft gezogen.
       
       ## Scharia als politisches Kalkül
       
       Damit nicht genug: Der Nordosten hat durch den Terror der Miliz Boko Haram
       seit 2009 eine schwere Krise erlebt, in der mehr als 36.000 Menschen ums
       Leben gekommen sind. Besonders in den Bundesstaaten Zamfara, Katsina und
       [2][Kaduna] sind Bandenkriminalität und Konflikten zwischen Farmer*innen
       und Viehhirten heute weit verbreitet.
       
       Die Einführung der Scharia hatte ohnehin nie das Ziel, Nordnigeria zu einer
       „besseren“ Gesellschaft zu machen. Sie war vielmehr politisches Kalkül. Den
       Gouverneuren war klar, dass sie mit dieser Ankündigung Millionen von
       Wähler*innen für sich gewinnen konnten, da die Forderungen immer da waren.
       Sie gingen mit den Erinnerungen an die islamischen Reiche Borno und Sokoto
       einher, die vor der Kolonialzeit mächtig und prosperierend waren und die
       Scharia als Gesetzesgrundlage hatten.
       
       An diese angeblich glanzvollen Zeiten hoffte man anzuknüpfen. In Borno,
       Heimat von Boko Haram, ging der damalige Gouverneur Ali Modu Sheriff vor
       den Wahlen 2003 sogar so weit, dem Gründer der Miliz, Mohammed Yusuf, die
       volle Umsetzung der Scharia zu versprechen. Yusuf sollte ihm im Gegenzug
       Wähler*innenstimmen bringen.
       
       Eine politische Strategie war es auch für den damaligen Präsidenten,
       Olusegun Obasanjo. Der Christ aus dem Südwesten, stellte sich nicht gegen
       das Vorhaben, womit er sich die Loyalität der Nord-Gouverneure sicherte.
       Auch konnte man ihm nicht vorwerfen, seine eigene Religionsgemeinschaft zu
       bevorzugen.
       
       ## Das Misstrauen ist groß
       
       Seitdem ist das Land mehr denn je entlang religiöser Linien gespalten. Zwar
       gibt es, anders als in den 1980er und 1990er Jahren, keine Ausschreitungen
       mehr zwischen christlichen und muslimischen Studierenden. Auch geschieht es
       selten, dass Menschen wegen angeblicher Gotteslästerung gejagt und
       angeklagt werden. Dennoch ist das Misstrauen gegenüber Anhänger*innen der
       jeweils anderen Religion groß.
       
       Bestes Beispiel ist wieder Kaduna. Heute leben südlich des Flusses
       Christ*innen, im nördlichen Teil und dem eigentlichen Zentrum
       Muslim*innen. Man trifft sich zwar bei der Arbeit und auf dem Markt. Doch
       die Kontakte werden weniger, da es kaum noch einen Austausch unter
       Nachbar*innen gibt. Dazu trägt auch das marode Schulsystem bei. Wer kann,
       schickt die Kinder an eine Privatschule, die meist in religiöser
       Trägerschaft sind.
       
       Auch die [3][Terrormiliz Boko Haram] hat Misstrauen zwischen Christ*innen
       und Muslim*innen gesät. In ehemals besetzten Gebieten ist oft unklar, wer
       mit der Gruppe kooperierte – egal, ob erzwungen oder freiwillig.
       Rückkehrer*innen trauen deshalb einstigen Nachbar*innen, Freund*innen und
       Bekannten nicht mehr. Im Kampf um Ackerflächen und Weidegründe, unter den
       sich zahlreiche Banditen und organisierte Banden mischen, sind in den
       vergangenen Jahren Tausende Menschen ums Leben gekommen.
       
       Seit einiger Zeit wird vor allem von evangelikalen Kirchen stark
       unterstrichen, dass es sich bei den Viehhirten um Muslime handelt.
       Überwiegend stimmt das zwar. Die große Mehrheit der Hirten, die der
       ethnischen Gruppe der Fulani angehören, bekennt sich zum Islam. Im
       Umkehrschluss heißt das aber nicht, dass sie Bauern angreifen, weil diese
       Christ*innen sind.
       
       Verwunderlich sind die Diskussionen nicht. Der nigerianische Staat ist in
       weiten Teilen des Landes abwesend. Er sorgt weder für Sicherheit und
       Gerechtigkeit noch für Infrastruktur, Schulen und Krankenhäuser. Wer kann
       sich schon mit einem solch maroden und korrupten Staat identifizieren? Das
       übernehmen unter anderem die Religionen. Das Problem wird sich künftig noch
       verstärken, wenn sich auf politischer Ebene nicht schnell etwas ändert und
       an einem Gemeinschaftsgefühl gearbeitet wird.
       
       28 Nov 2019
       
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 (DIR) Katrin Gänsler
       
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