# taz.de -- Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk: Die Wahrheit steckt in der Bewegung
       
       > In ihrer Heimat Polen wird der Autorin Olga Tokarczuk „Antipolonismus“
       > vorgeworfen. Ein Porträt der Literaturnobelpreisträgerin.
       
 (IMG) Bild: Der polnische Präsident hat ihr noch immer nicht zum Nobelpreis gratuliert: Olga Tokarczuk
       
       Die Nachricht, dass sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden wird,
       ereilte Olga Tokarczuk auf der Autobahn in Deutschland. Sie war gemeinsam
       mit ihrem Partner auf dem Weg von Potsdam nach Bielefeld, wo sie an jenem
       Abend eine Lesung halten sollte. Damit schloss sich gewissermaßen ein
       Kreis, denn auch ihre allererste Lesung als junge Autorin im Ausland hatte
       Olga Tokarczuk im Jahr 1996 – lange bevor sie international entdeckt wurde
       – nach Deutschland geführt. Damals las sie im Literarischen Colloqium
       Berlin (LCB) am Wannsee.
       
       Für das LCB habe ich damals die polnischen Lesungen organisiert, und im
       Rahmen einer Woche mit polnischen Autorinnen luden wir Olga Tokarczuk ein.
       Kurz zuvor hatte sie ihren ersten Roman vorgelegt: „Podróż ludzi Księgi“
       (1993, nur auf Polnisch erschienen, zu Deutsch etwa: „Die Reise der
       Buchmenschen“).
       
       Eine nostalgische Geschichte über eine Gruppe von Pilgern, die nach dem
       „Buch der Bücher“ suchen. Einer von ihnen findet schließlich das
       sehnsüchtig gesuchte Werk, ehe sich herausstellt: Er kann nicht lesen. In
       dieser Geschichte finden sich schon viele für die heutige
       Nobelpreisträgerin typische literarische Motive: das Fasziniertsein von
       Mythischem und Unerklärlichem bei gleichzeitiger Suche nach Wahrheit, eine
       spirituelle Sehnsucht nach der Erfassung einer tieferen Bedeutung.
       
       Olga Tokarczuk, geboren 1962 in Zielona Góra, debütierte mit 16 Jahren. Sie
       veröffentlichte zunächst in einem polnischen Jugendmagazin, schrieb
       Kurzprosa und Gedichte. Die Übersetzung ihres Debüts fand in Deutschland
       damals keinen Verleger. Wir beide blieben freundschaftlich verbunden,
       sodass ich jedes Buch von Olga später mit großem Interesse gelesen habe,
       viele Lesungen mit ihr moderierte und einige Interviews führte – ihr Werk
       ist somit ein Teil meines Lebens geworden.
       
       ## Sie liebt Kreuzberg
       
       Im Jahr 2001 wurde sie Stipendiatin des Deutschen Akademischen
       Austauschdienstes in Berlin, und in dieser Zeit entstand ihre Berliner
       Erzählung „Spiel auf vielen Trommeln“ (Matthes & Seitz, 2006). Sie wohnte
       damals in einer Wohnung am Mariannenplatz in Kreuzberg, im Bethanienhaus.
       Dieser Bezirk gefiel ihr gut: Wohnmobile mit Aussteigern im Hinterhof, die
       Oranienstraße mit ihren Lokalen, Bars und multikulturellen Bewohnern.
       
       Schon damals war sie in Polen eine gestandene Autorin: Für „Ur und andere
       Zeiten“ (Berlin Verlag, 2000) bekam sie 1997 den Publikumspreis des
       renommierten polnischen Nike-Literaturpreises. Es folgten zahlreiche
       weitere Preise. Aber gerade die Kreuzberger Impressionen, „Spiel auf vielen
       Trommeln“, kann man als wichtigen ersten Schritt in Richtung Nobelpreis
       sehen: Das Buch erschien in schwedischer Übersetzung von Jan Henrik Swahn,
       der später weitere Romane von Tokarczuk kongenial ins Schwedische übertrug.
       Darunter auch die „Jakobsbücher“, ihr Opus Magnum (Kampa Verlag, 2019).
       
       In „Ur und andere Zeiten“, dem ersten ausgezeichneten Werk, geht es um Ur,
       ein uraltes fiktives Städtchen, das auf verschiedenen Zeit- und Raumebenen
       beschrieben wird mithilfe miteinander verflochtener Legenden. Ur kann man
       auf zwei Wegen verlassen – entweder vertikal, im Geiste, auf der Suche nach
       der kosmischen Wahrheit, das heißt dem höheren Sinn, oder horizontal, durch
       den Wald, wobei man die unsichtbare Grenze von Lebens- und Denkgewohnheiten
       überschreitet.
       
       Hier wird Tokarczuks Credo sichtbar: Die Wahrheit entdeckt man in und durch
       die Bewegung, auch wenn sie sich nicht beschreiben und begreifen lässt. Der
       stete Perspektivwechsel ist für die Nobelpreisträgerin von größter
       Wichtigkeit. „Ganze Epochen haben ihre Wahrheiten, die nach einer gewissen
       Zeit in Staub zerfallen. Auch Individuen haben ihre Wahrheiten; manche von
       ihnen bleiben das ganze Leben lang aktuell, andere werden immer wieder
       modifiziert“ [Übersetzung d. A.], schreibt sie in dem bislang nicht auf
       Deutsch erschienen Essayband „Moment niedźwiedzia“ (2012).
       
       ## Ins Unendliche multipliziert
       
       In einem Interview mit der Gazeta Wyborcza erinnert sich Tokarczuk an ihre
       Anfänge: „Einmal habe ich bei Stanisław Lem eine faszinierende Erzählung
       über ein Gesetz der Physik gefunden. Der Protagonist dieser Erzählung, Herr
       Dońda, befand, dass jede Information, die ins Unendliche multipliziert
       wird, an einem bestimmten Punkt einen Wert erreicht, bei dem sie kollabiert
       und sich in ein Atom verwandelt.
       
       Er beschreibt die Vorstellung, dass alles, was wir schreiben, produzieren,
       sagen und lesen, diesem Gesetz gehorcht und es irgendwann ein ‚Klick‘ gibt
       – und dann verwandelt sich alles in ein Atom. Die Materie wird auf diese
       Art fester, verbessert ihre Qualität.“
       
       Nicht nur von Stanisław Lem wurde sie geprägt, auch ein Werk der deutschen
       Literatur, das sie sechsmal gelesen hat, hat sie maßgeblich beeinflusst:
       „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. „Wenn mich jemand fragen sollte: Ich bin
       vor allem eine Leserin, erst an zweiter Stelle eine Autorin.“
       
       Trotz wiederholter Aufenthalte in Deutschland und gelungener Übersetzungen
       von „Ur und andere Zeiten“, „Unrast“ (Schöffling, 2009) „Taghaus,
       Nachthaus“ (DVA, 2001) hat das Werk der polnischen Autorin hier nie ein
       großes Publikum erreichen können.
       
       ## Misstrauen und Angst
       
       Die „Jakobsbücher“ – 2019 im Kampa Verlag erschienen, in der großartigen
       Übersetzung von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein – fanden jahrelang
       keinen Verleger in Deutschland. Als ich versuchte, den großen europäischen
       Roman über die Sekte des falschen Propheten Jakob Frank Verlagsleuten zu
       empfehlen, begegnete ich Misstrauen und der Angst vor zu hohen Druck- und
       Übersetzungskosten.
       
       Es gab jedoch eine Literaturkritikerin, die schon bei der ersten Lektüre
       Tokarczuks Begabung erkannte: Iris Radisch. In einem Gespräch sagte sie
       mir, dass Polen, überhaupt der Osten „für das Metaphysische“ zuständig
       seien. Da ist was dran. In der deutschsprachigen Presse wurde Tokarczuk oft
       als eine der letzten Kandidaten für den Nobelpreis genannt, der Standard
       bezeichnete sie nach Bekanntgabe der Auszeichnung als „esoterisch
       angehaucht“. Ihre Botschaft wurde da wohl gründlich missverstanden.
       
       In dem Roman „Der Gesang der Fledermäuse“ (Schöffling & Co., 2011), der
       2016 von Agnieszka Holland unter dem Titel „Die Spur“ wunderbar verfilmt
       worden ist, bringt Tokarczuk ihr Mitgefühl mit Tieren und die Ablehnung von
       deren sinnloser Tötung zum Ausdruck.
       
       Die Protagonistin des Romans, Janina Duszejko, eine ältere Frau, die auf
       dem Lande lebt, verliert ihre Hunde, die zufällig von Jägern erschossen
       werden. In der Gegend kommt es zu Morden, es sterben Männer, die in
       verschiedene dunkle Geschäfte verstrickt sind, und die Autorin stellt dem
       Leser die uralte Frage: Darf man im Namen höherer Werte töten?
       
       ## Keine Gratulation vom Präsident
       
       Auch in der Geschichte von Jakob Frank ist eine Frau, die Großmutter des
       Protagonisten Jakob, eine wichtige Erzählinstanz. Jakob, ein Jude aus
       Ostgalizien, setzt sich für die Rechte seines Volks ein, für Freiheit,
       Gleichheit, Emanzipation. Er inszeniert sich als Prophet, provoziert sogar
       ein Pogrom, um gute Beziehungen zum katholischen Bischof zu pflegen.
       
       Eingebettet ist die Geschichte, in ein breites Panorama des 18.
       Jahrhunderts in Europa, von der Türkei bis Deutschland. Die Großmutter
       Franks, Jente, ist eine hellsichtige Frau, die das Geschehen aus einer
       allwissenden Perspektive beobachtet. Der Roman ist sinnlich, bildhaft und
       unheimlich gut erzählt und trotz der Länge von 1.184 Seiten nie langweilig.
       
       „Mit Geschichte sollte man so umgehen, dass man auch die untere Seite des
       Teppichs sieht und betrachten kann, wie die Fäden von unten miteinander
       verflochten sind, wie er gemacht worden ist“ – so beschrieb die
       Schriftstellerin die Arbeit an ihrem Buch bei einer öffentlichen Diskussion
       beim Malta Festival Poznań. Die andere Seite des Teppichs, das ist in den
       „Jakobsbüchern“ der polnische Antisemitismus und der Umgang des polnischen
       Adels mit der ukrainischen Bevölkerung, den Tokarczuk in schonungsloser
       Radikalität als „Versklavung“ beschreibt.
       
       Daraufhin wurde sie mit Hass überflutet, man warf ihr „Antipolonismus“ vor.
       Auch jetzt, nach der Auszeichnung mit dem Nobelpreis, wird auf
       nationalistischen polnischen Foren von einem Preis „für die
       polnischsprachige, jedoch nicht polnische Autorin“ gesprochen und ihre
       „Schädlichkeit für das Image der Polen im Ausland“ beschworen. Vom
       polnischen Präsidenten hat sie immer noch keine Gratulation bekommen.
       
       ## Literatur und Weltlage
       
       Ihr Wohnort Wrocław dagegen hat Tokarczuk einen großartigen Empfang
       bereitet. Ihr Auftritt im Nationalen Musikforum wurde auf Großleinwänden
       auf dem Platz vor dem Veranstaltungsort für alle, die nicht mehr in den
       Saal hineingekommen waren, übertragen. Und das waren Hunderte. Nach langen
       Standing Ovations überreichte der Bürgermeister von Wrocław ihr die
       Schlüssel zu den Stadttoren und begrüßte sie zu Hause.
       
       Schon einen Tag später erklärte Tokarczuk, sie wolle eine Stiftung gründen,
       die „Raum für ein internationales Gespräch über die Möglichkeiten der
       Literatur bei der Analyse der Weltlage“ bieten sollte. Die Stadt Krakau
       beschloss, aus Anlass der Nobelpreisverleihung einen Wald für Olga
       Tokarczuk zu pflanzen – „Ur“ heißt er. 25.000 Bäume, die von den Einwohnern
       eigenhändig gepflanzt werden sollen.
       
       Am Dienstag ist endlich [1][die Ehrung in Stockholm]. Seit Tagen gibt Olga
       Tokarczuk keine Interviews, geht nicht ans Handy, wahrscheinlich arbeitet
       sie in der Stille an ihrer Nobelpreisrede. Wir sind sehr gespannt, was sie
       sagen wird, denn sie weiß Bescheid: Jede oft wiederholte Information
       schafft, nach der Lem’schen Theorie, womöglich neue Atome. Die
       Verantwortung für das Wort ist groß.
       
       10 Dec 2019
       
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