# taz.de -- Minderheitsregierung in Thüringen: Ein offenes Verhältnis
       
       > Koalitionen ohne Mehrheit haben hierzulande keine Tradition. Dabei können
       > sie den Beteiligten sogar guttun. Das zeigt ein Blick in die Geschichte.
       
 (IMG) Bild: Ministerpräsident Bodo Ramelow, Die Linke, mit Matthias Hey, SPD
       
       BERLIN taz | Für deutsche Verhältnisse ist es ein mehr als ungewöhnlicher
       Weg, den [1][Linkspartei, SPD und Grüne in Thüringen jetzt gehen wollen].
       Ohne eigene Mehrheit eine gemeinsame Regierung bilden zu wollen, ist ein
       riskantes Unterfangen mit offenem Ausgang, zumal Minderheitsregierungen in
       Deutschland keine Tradition haben.
       
       Ein Blick über den Tellerrand zeigt: Das sieht anderswo anders aus. In
       Skandinavien sind sie sogar eher der Normalfall denn die Ausnahme. So
       verfügt derzeit weder die [2][Regierung in Dänemark] noch [3][die in
       Schweden] über eine eigene parlamentarische Mehrheit. Sowohl das
       sozialdemokratische Kabinett von Mette Frederiksen als auch die rot-grüne
       Koalition Stefan Löfvens sind auf die – zuvor vertraglich vereinbarte –
       Unterstützung durch andere Parteien angewiesen.
       
       Nicht viel anders sieht es auf der Iberischen Halbinsel aus. Ob Pedro
       Sánchez, der in Spanien eine [4][Koalition mit dem linksalternativen
       Wahlbündnis Unidas Podemos gebildet hat], oder [5][der alleinregierende
       António Costa in Portugal]: Die beiden sozialistischen Ministerpräsidenten
       sind jeweils auf die Duldung von Parteien angewiesen, die nicht an der
       Regierung beteiligt sind.
       
       Aus zahlreichen europäischen Ländern lassen sich aus den Vergangenen
       Jahrzehnten Beispiele aufführen, in denen sich eine oder mehrere Parteien
       für die Variante einer Minderheitsregierung entschieden haben – wenn auch
       häufig nur für kürzere Zeit. So wie die SPÖ Bruno Kreiskys in Österreich,
       die sich nach der Nationalratswahl 1970 für rund eineinhalb Jahre von der
       rechtsnationalistischen FPÖ tolerieren ließ.
       
       ## Richard von Weizsäckers Minderheitssenat
       
       Vergleichbares hat es hierzulande hingegen noch nicht gegeben. Zwar gab es
       auch in der deutschen Geschichte dreimal bereits eine Bundesregierung ohne
       eigene Parlamentsmehrheit – aber das waren jeweils nur eng begrenzte
       Zeiträume: als Interregnum von wenigen Wochen im Laufe einer
       Legislaturperiode entweder in Folge eines Koalitionsbruchs (1966 und 1982)
       oder des Wechsels einzelner abtrünniger Abgeordneter in das
       Oppositionslager (1972).
       
       Auf Länderebene sieht das etwas anders aus. Allerdings sind auch hier
       bewusst gewählte Minderheitsregierungen Ausnahmeerscheinungen unter
       besonderen politischen Bedingungen.
       
       So bildete Richard von Weizsäcker nach der Berliner Abgeordnetenhauswahl
       von 1981 einen CDU-Minderheitssenat, um erstmals seit 1955 die SPD von der
       Stadtspitze zu verdrängen. Dabei konnte er sich auf einzelne Abgeordnete
       der FDP-Fraktion stützen. Nach zwei Jahren ging die FDP dann eine Koalition
       mit der CDU ein und das Minderheitsregierungsexperiment war – aus
       christdemokratischer Sicht erfolgreich – beendet.
       
       ## Erste rot-grüne Annäherung in Hessen
       
       Auch in Hessen diente einst die Bildung einer Minderheitsregierung nur der
       Vorbereitung einer späteren Koalition. Noch vor der Landtagswahl 1983 hatte
       der sozialdemokratische Ministerpräsident Holger Börner eine Zusammenarbeit
       mit den Grünen abgelehnt. „Ich schließe nicht nur eine Koalition, sondern
       jede Zusammenarbeit mit ihnen aus“, hatte der SPD-Rechte verkündet. Doch
       dann war die neue Partei, die im Jahr zuvor erstmalig den Landtagseinzug
       geschafft hatte, seine einzige Chance, an der Regierung zu bleiben.
       
       Börner reagierte auf das Dilemma pragmatisch – und ging in Verhandlungen
       mit den Ökopaxen. Für eine Koalition war es allerdings noch zu früh, dafür
       waren die Widerstände sowohl in der SPD, aber auch vor allem innerhalb der
       sich damals noch rebellisch gebenden Grünen zu groß.
       
       Also verständigten sich die beiden Parteien zunächst auf ein
       Tolerierungsabkommen, das Börner im Juni 1984 die Wiederwahl sicherte. Das
       Experiment dauerte 18 Monate, dann waren die Grünen endgültig
       mitregierungsbereit: Im Dezember 1984 konstituierte sich die erste
       rot-grüne Koalition auf Länderebene – und [6][Joschka Fischer wurde der
       erste grüne Minister] in der Bundesrepublik.
       
       ## Erfolgsmodell in Magdeburg
       
       Eine Wiederauferstehung fand das Tolerierungsmodell 1994 in Sachsen-Anhalt.
       Diesmal ging es um die PDS, deren Stimmen SPD und Grüne benötigten, um die
       bis dahin regierende schwarz-gelbe Koalition abzulösen. Vier Jahre nach der
       Wiedervereinigung galt die SED-Nachfolgepartei noch als Paria im
       bundesdeutschen Parteiensystem. Eine Regierungsbeteiligung der heutigen
       Linkspartei kam daher nicht infrage.
       
       Also entschieden sich SPD und Grüne gegen heftige Proteste von rechts für
       das „Magdeburger Modell“: Sie verständigten sich mit der PDS auf eine
       Tolerierung. Was konkret bedeutete, dass sich der SPD-Mann Reinhard Höppner
       im Juli 1994 im dritten Wahlgang dank der mehrheitlichen Enthaltung der
       PDS-Abgeordneten mit einfacher Mehrheit zum neuen Ministerpräsidenten
       wählen lassen konnte.
       
       Das „Magdeburger Modell“ hielt auch noch, nachdem die Grünen 1998 aus dem
       Landtag geflogen waren. Erst nachdem die CDU und die FDP die Landtagswahl
       2002 gewonnen hatten, musste Höppner abtreten.
       
       ## Wagnis wechselnde Mehrheiten
       
       Was die meisten Minderheitsregierungen gemeinsam haben: Sie basieren auf
       Vereinbarungen, die de facto für klare Mehrheitsverhältnisse im Parlament
       zugunsten der Regierung sorgen. Auf das Wagnis von wechselnden Mehrheiten
       zu setzen, ist hingegen höchst ungewöhnlich.
       
       Aber ein Beispiel gibt es dafür doch, und zwar in Nordrhein-Westfalen 2010.
       Da hatten SPD und Grüne die absolute Mehrheit um eine Stimme verfehlt. Sie
       konnten sich weder mit der FDP auf eine gemeinsame Regierung noch mit der
       Linkspartei auf eine Tolerierung verständigen. Nach längerem Hin und Her
       entschlossen sich die beiden Parteien für einen anderen Weg: eine Regierung
       mit offenen Mehrheitsverhältnissen. [7][Und das funktionierte gut.] 
       
       ## Kitas mit links, Schulpolitik mit rechts
       
       20 Monate regierte die rot-grüne „Koalition der Einladung“ mit wechselnden
       Mehrheiten im bevölkerungsreichsten Bundesland. Sie war erstaunlich
       erfolgreich: Gemeinsam mit der Linkspartei führten SPD und Grüne ein
       beitragsfreies Kita-Jahr ein, schafften die Studiengebühren ab und stellten
       die von der schwarz-gelben Vorgängerregierung drastisch eingeschränkte
       Mitbestimmung im öffentlichen Dienst wieder her. Mit der CDU beschlossen
       sie den als „Schulkonsens“ bezeichneten Einstieg in den Ausstieg aus dem
       dreigliedrigen Schulsystem. Mit der FDP vereinbarte sie einen
       „Stärkungspakt“ für die finanziell notleidenden Kommunen.
       
       Dass das Experiments schließlich wieder beendet wurde, lag nicht an seinem
       Scheitern, sondern an den allzu guten Umfragewerten der Regierung: Die
       Verlockung für SPD und Grüne war zu groß, per Neuwahl eine eigene absolute
       Mehrheit erringen zu können. Auch das ging auf: Nach der Landtagswahl 2012
       [8][brauchten sie keine Leihstimmen mehr, um regieren zu können].
       
       Das allerdings war ein Pyrrhussieg. Nun nicht mehr darauf angewiesen, mit
       Argumenten die anderen Parteien von ihrer Politik zu überzeugen, erlahmte
       schnell jeglicher progressiver Reformeifer. Die rot-grüne Regierung versank
       in selbstherrlicher Bräsigkeit. Bei der Landtagswahl [9][2017 wurde sie
       schließlich abgewählt].
       
       Wie auch immer: Dass es 2010 überhaupt zu einer rot-grünen
       Minderheitsregierung hat kommen können, verdankte sich einem besonderen
       Umstand. Denn die entscheidende Voraussetzung dafür war, dass SPD-Frontfrau
       Hannelore Kraft eine ziemlich hohe Anfangshürde überwinden konnte: ihre
       Wahl zur Ministerpräsidentin.
       
       Hätten die Oppositionsparteien CDU, FDP und Linkspartei geschlossen gegen
       Kraft gestimmt, wäre sie gescheitert. Doch die Linkspartei entschied sich
       stattdessen dafür, sich zu enthalten. So wurde Kraft im zweiten Wahlgang
       mit einfacher Mehrheit gewählt.
       
       ## Hohe Hürde für Bodo Ramelow
       
       Wie er seine Wahl schaffen kann, ist auch das große Problem für Bodo
       Ramelow in Thüringen. Wenn er erneut als Ministerpräsident kandidiert,
       würde ihm gemäß den Thüringer Regularien im dritten Wahlgang eine einfache
       Mehrheit reichen. Aber selbst um die zu schaffen, braucht er mehr Ja- als
       Nein-Stimmen. Es müsste also zumindest einzelne Abweichler aus den Reihen
       der Opposition aus CDU, FDP oder der AfD geben, die nicht gegen ihn
       stimmen.
       
       An der Hürde der Ministerpräsidentinnenwahl sind übrigens auch schon zwei
       geplante Minderheitsregierungen in Deutschland gescheitert. In
       Schleswig-Holstein hatten SPD und Grüne 2005 auf eine Tolerierung durch den
       Südschleswigschen Wählerverbands gesetzt, doch Ministerpräsidentin Heide
       Simonis fiel bei ihrer geplanten Wiederwahl durch eine fehlende Stimme
       durch. Bis heute ist nicht herausgekommen, wer der „Heide-Mörder“ war.
       
       In Hessen plante Rot-Grün 2008, sich von der Linkspartei mitwählen zu
       lassen. Doch nur einen Tag, bevor sich SPD-Landesvorsitzende Andrea
       Ypsilanti zur Wahl als Ministerpräsidentin stellen wollte, verweigerten ihr
       vier SPD-Abgeordnete öffentlich die Gefolgschaft. In beiden Fällen war
       Rot-Grün damit erledigt.
       
       Wie wird es wohl Bodo Ramelow und Rot-Rot-Grün in Thüringen ergehen? Die
       nächsten Tage, Wochen und Monate in Thüringen bleiben spannend.
       
       18 Jan 2020
       
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