# taz.de -- Architektonisches Tauwetter in Jerewan: Relikte der zweiten Sowjetmoderne
       
       > Leichtfüßige Sowjetbauten, Verfall und nationales Pathos: eine
       > architektonische Besichtigung von Armeniens Hauptstadt Jerewan.
       
 (IMG) Bild: Eine freiheitliche Vision: Freiluftkino Moskau, Jerewan, gebaut im Jahr 1966
       
       Es war ein ganz verwegenes Gebäude. Etwas geheimnisvoll in einen Innenhof
       gerückt, entblätterte sich der Betonkörper des Freiluftkinos Moskau
       förmlich über den Köpfen der Passanten, mitten im Zentrum von Jerewan. Als
       dieser leichtfüßige Bau der Sowjetmoderne vor zehn Jahren von der
       Denkmalliste gestrichen werden sollte, bündelte sein drohender Abriss wie
       ein Brennglas den Unmut vieler Armenier:innen.
       
       2011 begannen die [1][Proteste von Occupy Wall Street im New Yorker
       Zuccotti-Park] und 2013 die im Gezi-Park von Istanbul, aber schon im
       Februar 2010 demonstrierten in der armenischen Hauptstadt Menschen für den
       öffentlichen Raum in ihrer Stadt. Und sie wehrten sich damit gegen die
       Kräfte, die Jerewan seit dem Zerfall der Sowjetunion mit Bürotürmen und
       Kathedralgiganten in ein Korsett von Kapital und Moral gespannt hatten. Das
       ist jetzt zehn Jahre her. Das Moskau-Freiluftkino steht noch, aber es ist
       zur Unkenntlichkeit verrottet.
       
       Die Stadt Jerewan am Fuß des mystisch von der Osttürkei herüber schauenden
       Bergs Ararat ist wie ein Freilichtmuseum der „zweiten“ sowjetischen
       Moderne. Einer Architektur nach Stalin, anknüpfend an die internationale
       Avantgarde aus den zwanziger Jahren (diese „erste“ Moderne hat in Armenien
       kaum bauliche Zeugnisse hinterlassen), aber freimütiger. Wie das Kino
       Moskau löst sich diese zweite Moderne mit leichten Flaneur-Architekturen
       vom dunklen Totalitarismus der Vorjahre. Heute ist Jerewan gleichsam
       Spielstätte ihres Verfalls.
       
       In den 1960er Jahren ließ die armenische Regierung den grünen Ringboulevard
       um die Innenstadt vollenden, den bereits der Nationalbaumeister Alexander
       Tamanyan im Zuge der Hauptstadtgründung 1924 geplant hatte, und platzierte
       darin die ungewöhnlichen Loisir-Architekturen: Wie ein rostiger Seedampfer
       ragte der Schachclub von Zhanna Meshcheryakova aus dem Ringpark empor.
       
       ## Goldenes Zeitalter der Stagnation
       
       Als würde über einem Wasserbassin ein gigantisches Tischtuch gerade
       aufgeworfen und in der Schwebe gehalten – so sah das Poplavok-Café von
       Feniks Darbinyan und Felix Hakobyan aus. Und das Rossiya-Kino von Artur
       Takhanyan, Spartak Khachikyan und Hrachya Poghosyan war eine vollends
       kühne Konstruktion: Zwei monumentale Waagschalen aus Beton hingen über den
       Boulevard, gerade so, als wären sie aus der Balance geraten und stünden
       kurz davor, ins Gleichgewicht zurückzukippen.
       
       Diese Gebäude kommen aus einer diffusen Ära der Sowjetunion. Die Loslösung
       vom stalinistischen Terror-Regime verfolgten Chruschtschow und Breschnew in
       den 1960er Jahren mit einer doppelgesichtigen Politik: Kontrolle aus Moskau
       einerseits und Förderung nationaler Freizügigkeit andererseits. Der
       Ethnologe Wiktor Kozlow bezeichnete die Zeit rückblickend als „Goldenes
       Zeitalter der Stagnation“. Und damit benannte er auch ihre Schizophrenie,
       die eine ebenso widerstreitende Baukultur in den einzelnen Republiken der
       UdSSR hervorgebracht hat.
       
       In Armenien zeigte sich einerseits ein aufkommender Nationalismus in einer
       Architektur voller Anspielungen an das Vaterland: Architekten wie Rafayel
       Israeyelian setzten schlanke Bögen und gemeißelte Ornamente an die Fassaden
       von Museen- und Regierungsbauten – als seien die Baumeister der Kathedrale
       von Ani selbst am Werk gewesen, jener mittelalterlichen Königshauptstadt,
       die mittlerweile in der Türkei eine Ruinenlandschaft bildet.
       
       ## Heute prosperiert dieser Nationalstil
       
       Es ist ein dunkel-erhabener Stil, [2][die schmerzhafte Geschichte einer
       Jahrhunderte lang staatenlosen und vom türkischen Genozid traumatisierten
       Gesellschaft] schwingt in ihm mit. Heute prosperiert dieser Nationalstil
       geradezu, private Bauherren setzen die steinernen Bögen und labyrinthischen
       Muster gerne als bloße Hülle vor ihre Shoppingmalls und Hotels, dass es
       schon an Verunglimpfung grenzt.
       
       Zur gleichen Zeit entwickelte sich in allen Staaten der UdSSR diese
       leichtfüßige Sowjetmoderne. Café, Sportpalast, Kino – es waren
       Freizeitbauten für den kosmopolitischen Sowjetbürger, von Moskau erwünscht,
       aber über Moskau hinauswachsend. Denn ihre abstrakten Formen schufen wahre
       Freiräume. Räume zum gemeinsamen Dasein, man kann auch sagen: zum
       zwecklosen Dasein. Unter den vorschwingenden Dächern des Rossiya-Kinos oder
       Schachclubs in Jerewan wurde öffentliches Leben sichtbar, mit der
       subversiven Note, die das lose Zusammentreffen von Menschen im Alltag haben
       kann.
       
       Doch ihre Zweckungebundenheit wird diesen Bauten heute zum Verhängnis. Als
       „unbeschriebene Zonen“ deutet sie der armenische Architekturtheoretiker
       und Kurator Ruben Arevshatyan: Sie beschwören keine nationale Identität
       herauf wie Israeyelians Denkmäler, und sie besetzen eine diffuse Stelle im
       kollektiven Gedächtnis: Diese Architektur vermittelt eine freiheitliche
       Vision vom einstigen Leben im Staatskonstrukt der UdSSR, die dieses selbst
       nicht einhalten konnte und stattdessen einfach unterging.
       
       ## Architekten ins Arbeitslager verbannt
       
       Mittlerweile hat sich in diese Bauten die Härte der postsowjetischen
       Gegenwart gedrängt: Über dem Popliya-Café schwebt längst kein Tischtuch
       mehr, dafür wurde es um Etagen und zahlende Kunden aufgestockt. Die
       Waagschalen des Rossiya-Kinos sind umwuchert von Verkaufsbuden. Hinter
       Spiegelfolie gibt es darin Unterwäsche und Billigkoffer zu kaufen. In den
       Kinosälen predigt eine Freikirche den dritten Weg zwischen einstigem
       Sozialismus und heutigem Kapitalismus.
       
       Das Rossiya-Kino gehört einem, der sich in den chaotischen 1990er Jahren,
       als in Armenien Macht und Eigentum neu verteilt wurden, durchsetzen konnte
       – einem Oligarchen, dem Unternehmer und Politiker Khachatur Sukiasyan, bis
       zur samtenen Revolution 2018 Parlamentsabgeordneter.
       
       Folgt man Ruben Arevshatyan, so ist es eben diese gesellschaftliche
       „Unbeschriebenheit“ ihrer Bauten, die jene zweite Moderne heute so
       gefährdet. Der ersten Moderne hingegen wurde die kritische Haltung ihrer
       Vertreter zum Verhängnis. Stalin verbannte Architekten wie Gevorg Kochar
       und Mikael Mazmanyan ins Arbeitslager nach Norilsk in Sibirien. Erst nach
       zwanzigjähriger Unterbrechung sollten die beiden das Erholungszentrum der
       Schriftstellervereinigung am gut 100 Kilometer von Jerewan entfernten
       Sewan-See vollenden – und es gelang ihnen schließlich eine veritable Ikone
       der Sowjetmoderne.
       
       Ein Glaskreisel, aus dem Felshang auf einen Betonfuß brechend, radikal und
       elegant. Das Bauwerk blieb auch nach dem Zerfall der UdSSR in öffentlichem
       Besitz. Und nur weil es nicht der Willkür des Privateigentums unterliegt,
       kann das Zentrum am Sewan-See einem internationalen Denkmalschutzprogramm
       unterzogen werden, an dem im Übrigen Ruben Arevshatyan beteiligt ist.
       
       ## Öffentlichkeit fordert Rekonstruktion
       
       Die politische Geschichte Armeniens seit der Republikgründung 1918 hat das
       Stadtbild seiner Hauptstadt geprägt. Schon Alexander Tamanyan, der 1924 mit
       einer symbolischen Kreisanlage aus der einstigen Karawanenstadt eine neue
       Kapitale machte, ignorierte ihre historische Substanz.
       
       Jerewan ist eine Hauptstadt ohne Altstadt, in die sich die Schichten von
       Abriss und Neubau aus jeder Dekade eingeschrieben haben – und die Schichten
       der Nostalgie. Heute fordert ein Teil der Öffentlichkeit die Rekonstruktion
       zerstörter Bauwerke. Der Petrus-und-Poghos-Kirche aus dem 5. Jahrhundert
       etwa, die Stalins Antireligionspolitik zum Opfer fiel.
       
       Doch an ihrer Stelle befindet sich nun einmal eines der schönsten Denkmäler
       der sowjetischen Moderne: Telman Geworgyan und Spartak Kntekhtsyan fanden
       1964 lediglich eine urbane Nische vor, als sie darin ihre Betonplattformen
       zu ebenjenem Freiluftkino Moskau aufspannten, gegen dessen Abriss sich 2010
       Widerstand formierte.
       
       ## Der soziale Wert der Architektur
       
       Es scheint, als träten mit den unterschiedlichen Forderungen nach Erhalt
       und Rekonstruktion von Bauten in Jerewan auch die verschiedenen Deutungen
       der sowjetischen Vergangenheit in den Wettstreit. Den Protestierenden ging
       es nicht um eine Deutungshoheit über die Geschichte.
       
       Vielmehr geht es um den sozialen Wert dieser Architektur. Denn sie zeigt in
       einem postsowjetischen Heute, in einem Alltag des
       Sich-irgendwie-Durchschlagens und einer Ökonomie des Stärkeren daran, dass
       es auch eine Möglichkeit des Gemeinsamseins gab – und dass es sie immer
       noch gibt.
       
       20 Feb 2020
       
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