# taz.de -- Spiritualität in der Coronakrise: Glauben rettet nicht, aber hilft
       
       > Ob Astrologie, Liebe, Globuli, Beyoncé, Sozialismus, Fantasie oder Jesus.
       > Der Glaube an etwas kann uns helfen. Hauptsache, man übertreibt nicht.
       
 (IMG) Bild: Auch das Winken eines Pfarrers wie hier im US-amerikanischen Johnston mag einigen helfen
       
       Vor sechzehn Jahren legte ich ein Glaubensbekenntnis ab. Ich trug einen
       schwarzen Qipao, ein langes Kleid, und viel zu madamige Riemchenpumps, weil
       ich mich feierlich und erwachsen fühlen wollte. Dabei war das Erwachsenste
       an dem Tag, so zu tun, als hätte man mit vierzehn keine Zweifel: „Ich
       glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und
       der Erde.“
       
       Wenige Monate später stellte sich das Gefühl ein, dass ich gelogen hatte.
       Dass ich vielleicht mehr an die Geldscheine in Briefumschlägen und die
       [1][Konfirmation als Party] geglaubt hatte als an eine längerfristige Ehe
       mit einem Gott. Eine Gruppe Teenager studiert die Bibel. Vor einem bärtigen
       Pfarrer spricht man ein Bekenntnis. Man nennt das Religion?
       
       Vor drei Jahren starb meine Abu. Wir trugen ihre Urne erst in einen Bus,
       dann durch Bambuswälder und schließlich auf einen Berg bei ihrem
       Heimatdorf. Wir hielten Schirme über die Urne, damit Abus Geist unterwegs
       nicht davonflog und sich verirrte. Und wir schoben uns rotes Papier in die
       Schuhe, zum Schutz gegen böse Geister.
       
       Ob Schirme und Papier wirklich helfen, ist egal. Es tut niemandem weh, die
       Regeln zu befolgen, und es gilt das agnostische Prinzip der dünnen
       (Gegen-)Beweislage. In Krisen hält man sich an Bekanntem fest, an Regeln
       und Routinen. Vor der Grabstelle küsst die Stirn dreimal den Boden, auf dem
       Altar verglüht eine teure Filterzigarette für Opa. Man nennt das Kult,
       Tradition, Aberglaube?
       
       ## Stoßgebete retten uns nicht vor einem Virus
       
       Nun werden uns weder Verbeugungen vor den Ahnen noch regelmäßige Stoßgebete
       vor einem Virus retten. Trotzdem macht Glaube es erträglicher, auf Rettung
       zu warten, oder sich damit zu arrangieren, dass es die ultimative Rettung
       nicht gibt. Wir lernen aus guten Gründen, dass glauben nicht reicht. Wir
       müssen Fakten checken, nach den Wahrheiten – oder, noch eine Glaubensfrage
       – nach der einen Wahrheit suchen. Dabei stoßen wir an Grenzen, besonders in
       der globalen Krise. [2][Welche Zahlen sind korrekt?] Welche Informationen
       zuverlässig? Wie lange dauert das noch? Wem können wir vertrauen? Die
       Covid-19-Pandemie stellt uns auch vor Fragen, die kein:e Expert:in gänzlich
       beantworten kann.
       
       Glaube ist ein Balanceakt, und Turnen ist in der Krise noch schwerer als
       sonst: So viel glauben, dass man sich selbst Handlungsfähigkeit und
       Verantwortung abspricht, ist ignorant. So wenig glauben, dass man denkt,
       der Mensch sei das absolute Maß aller Erkenntnis, ist arrogant. Aber
       irgendwo zwischen den Abgründen liegt ein sweet spot.
       
       Ob Astrologie, Liebe, [3][Globuli], Beyoncé, Sozialismus, Fantasie, Jesus –
       es geht, was guttut. Hauptsache, man übertreibt nicht. Gott, der Vater, der
       Allmächtige, tat mir nicht gut. Aber ich glaube, dass es anderen mit Gott
       besser geht. Ich glaube derweil, dass böse Geister nur geradeaus gehen
       können. Dass die klügsten Menschen mehr Fragen als Antworten haben. Dass
       wahrscheinlich nie alles gut wird, aber zwischendurch einiges sehr, sehr
       gut sein kann. Und ich glaube, dass Glauben vermutlich nicht rettet, aber
       hilft.
       
       31 Mar 2020
       
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