# taz.de -- Homeschooling während Corona: Schulen auf Reset
       
       > Seit sieben Wochen sind die Schulen geschlossen. Wie gehen Familien und
       > LehrerInnen mit der Situation um? Ein digital-analoger Überblick.
       
 (IMG) Bild: Familie Alzaour aus Essen versucht intensiv, das Lernen zu Hause erfolgreich zu gestalten
       
       Doch, es gab schon mal eine ähnliche Situation. Nach der Kapitulation
       Nazideutschlands vor 75 Jahren blieben die Schulen in Deutschland erst
       einmal geschlossen. Schon in den Monaten zuvor war nur noch sporadisch
       unterrichtet worden. Heute ist das Leben unvergleichlich friedlicher und
       komfortabler, und dennoch: Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
       sind Schulen in Deutschland wieder flächendeckend zu.
       
       Bundesweit lernen und lehren über acht Millionen Schüler und ihre Eltern
       und über 600.000 Lehrer derzeit von zu Hause. Die Schulen sind angehalten,
       das Lernen zu Hause zu organisieren – eine Aufgabe, mit der kaum eine
       Schule Erfahrungen hat. Die Eltern mutieren zu Hilfslehrern, was viele von
       ihnen zunehmend überfordert. Die Schüler haben die neue Freiheit,
       selbstbestimmt zu lernen – und die Pflicht, sich dafür zu motivieren. Die
       Bildungspolitiker schließlich müssen die Leitplanken für diesen bisher
       unbekannten Kurs setzen.
       
       Ein Kurs, der über familiäre Zumutungen führt, den Wert von
       Abschlussprüfungen infrage stellt, der Zukunftschancen neu verteilt und die
       Kluft zwischen privilegierten und abgehängten Schülern vergrößert. Die
       grobe Richtung aber stimmt: Die Digitalisierung des Unterrichts, jahrelang
       nur für einzelne Internetschulen relevant, ist das Megathema. Es geht dabei
       nicht nur um Hard- und Software, sondern auch um Kompetenzen: Im digitalen
       Zeitalter müssen Schüler Probleme analysieren und im Internet Daten erheben
       und Lösungen bewerten können. Dazu müssen sie in der Lage sein,
       selbstständig zu arbeiten und ihr Lernen zu planen.
       
       Die internationale [1][Vergleichsstudie ICILS] zu den digitalen
       Fertigkeiten von Schülern legte bereits 2013 und 2018 offen, dass
       Deutschlands Schüler das im Vergleich nur mittelgut beherrschen. Kaum
       verwunderlich, spielten doch digitale Medien im Unterricht bislang eine
       untergeordnete Rolle. Das hat sich über Nacht geändert.
       
       Diese Krise ist eine Zäsur. Die Kultusminister sind sich jedenfalls einig,
       dass die Mehrzahl der Schüler bis zu den Sommerferien weiterhin vor allem
       zu Hause lernen wird. Vor 75 Jahren startete der reguläre Schulbetrieb
       wieder am 1. Oktober. Dass Schülerinnen und Schüler und ihre Schulen bis
       zum Herbst zum gewohnten Betrieb zurückkehren, ist derzeit nicht zu
       erwarten. Vielleicht nie mehr. Und vielleicht ist das auch gut so.
       
       ## Die Familie
       
       Als Ziad Alzaour 2015 von Syrien nach Deutschland kommt, hört er Lieder,
       die Deutsche mögen, um die deutsche Kultur zu verstehen und die Sprache zu
       lernen. Juliane Werdings [2][„Man muss das Leben nehmen, wie das Leben eben
       ist“] zum Beispiel. Der 41-jährige Bauingenieur und seine Familie leben
       seit vier Jahren in Essen, in einer Fünfraumwohnung auf 100 Quadratmetern.
       
       Abgesehen davon, dass die Alzaours nur eine auf drei Jahre befristete
       Aufenthaltserlaubnis haben, unterscheidet sich ihr Familienalltag gerade
       wenig vom dem vieler anderer Eltern in Deutschland. Sie sind nicht mehr nur
       Mama und Papa, sondern auch Deutsch-, Mathe-, Bio- und Musiklehrer.
       
       Die drei Töchter, Wajd, Rand und Amal, gehen in die achte, siebte und
       vierte Klasse, Najd, der Sohn, wird dieses Jahr eingeschult. Marie, die
       Jüngste, ist mit eineinhalb Jahren noch zu Hause. „Wir versuchen immer,
       dranzubleiben“, erzählt Vater Alzaour am Telefon. Die Mädchen bekommen jede
       Woche Aufgaben per Mail, die sie an einem der beiden Laptops der Familie
       oder an ihren Handys bearbeiten. Für die zehnjährige Amal haben die Eltern
       nach den Osterferien Aufgaben in der Grundschule abgeholt. Für Najd haben
       sie eine App im Internet gefunden: Mit der kann er erste Buchstaben und
       Rechnen lernen.
       
       Die Alazours versuchen, den Tag zu organisieren, zwei Stunden Schule, eine
       Stunde Pause. „Aber die Kinder haben manchmal keine Lust zu lernen, es ist
       schwer, sie zu motivieren.“ Wajd ist 14 Jahre alt und will mal Ärztin
       werden, erzählt sie. Jede Woche schicken sie die Ergebnisse ihrer Aufgaben
       an ihre Lehrer. Das meiste kann sie allein bearbeiten. Wenn sie Fragen
       habe, dann wende sie sich an ihre Eltern. Am Tag zuvor habe ihr Vater ihr
       etwas in Bio erklärt, es ging um die Weiterleitung von Informationen im
       Gehirn. Damit ist sie gegenüber ihren Klassenkameraden im Vorteil. Deren
       Eltern könnten nicht helfen, die fragten dann manchmal sie.
       
       ## Warum kein Videounterricht?
       
       Sollte die Schule die Kinder mehr unterstützen? „Die Lehrer machen alles
       möglich, wir sind zufrieden“, sagt der Vater. Obwohl, er zögert. Es gebe
       doch diese Streamingplattform, mit der man wunderbar Videokonferenzen mit
       bis zu 100 Teilnehmern organisieren könne. Das ließe sich doch auch gut für
       den Unterricht nutzen. „Wieso machen die Lehrer in Deutschland das nicht?
       Das ist doch besser als diese Arbeitsblätter, und das motiviert auch und
       organisiert den Tag. Wir wären auch bereit, dafür zu bezahlen.“
       
       Nach einer repräsentativen Befragung [3][im Auftrag der Vodafone-Stiftung]
       wünschen sich fast 40 Prozent der Befragten eine bessere Unterstützung für
       das Lernen zu Hause durch die Lehrkräfte. Ein Viertel der befragten Lehrer
       an Gymnasien und sieben Prozent der Lehrkräfte an Grundschulen nutzen
       tägliche Videochats.
       
       Dass Unterricht und der Austausch von Arbeitsblättern derzeit fast nur
       elektronisch erfolgen kann, benachteiligt vor allem die Familien, die nicht
       die nötige Hardware haben. Ein Problem, das jetzt auch die Politik erkannt
       hat und Eltern, die Sozialleistungen beziehen, über das Bildungs- und
       Teilhabepaket einen Zuschuss von 150 Euro für den Kauf eines Computers
       gewährt.
       
       Auch Familie Alzaour bezieht staatliche Sozialleistungen. Allerdings
       verfügen sie über das nötige kulturelle Kapital, ihren Kindern zu helfen.
       Laut Befragung findet es fast die Hälfte der Eltern mit niedriger Bildung
       schwierig, die Kinder beim Lernen zu unter-stützen, bei den Eltern mit
       hoher Bildung sind es nur rund 20 Prozent.
       
       Wenn die Schulen weiterhin geschlossen blieben, fände er das sehr schlecht,
       sagt Vater Alzaour, ohne lange nachzudenken. „Dann verlieren die Kinder die
       Lust zu lernen.“ Seine Tochter sagt, am meisten vermisse sie ihre Freunde.
       Wo sie lerne, sei eigentlich egal. Ihre Eltern lägen ihr sowieso ständig in
       den Ohren: „Streng dich an, damit du eine gute Zukunft hast.“
       
       ## Der Digitalisierungsbeauftragte
       
       Wie sehr die vergangenen Wochen den Arbeitsalltag von Lehrer:innen
       umgekrempelt haben, erkennt man am Arbeitsplatz von Theo Taureau. Wo
       normalerweise Skizzenbücher, Bleistifte und Radiergummi liegen, steht nun
       auch ein aufgeklappter Laptop. Taureau ist Ethik- und Politiklehrer mit
       einer Liebe zum Analogen. Zentrale Fragestellungen malt er seinen
       Schüler:innen an die Tafel.
       
       Doch seitdem die Schulen auf Fernunterricht umsteigen mussten, greift auch
       Taureau zu digitalen Medien: Mit seinen Schüler:innen trifft er sich nun zu
       virtuellen Schulstunden auf der Plattform Discord, die sonst vor allem von
       Gamern genutzt wird; mit seinen Kolleg:innen tauscht er sich auf der
       Plattform Slack aus. Die Kommunikation über solche Programme hält Taureau
       für sehr bedenklich – und gleichzeitig für die beste Alternative zum
       Regelbetrieb. Oder wie er es formuliert: die demokratischste.
       
       Taureau, 29, kurze Haare, legere Klamotten, sitzt am Küchentisch seiner
       Berliner Wohnung und sucht nach Worten für sein persönliches Coronadilemma.
       Es ist der Mittwoch vor zwei Wochen. Soeben haben sich Kanzlerin Angela
       Merkel und die Ministerpräsident:innen der Länder auf eine [4][vorsichtige,
       schrittweise Rückkehr zum Regelunterricht] geeinigt. Es ist der Moment, in
       dem klar wird: Das digitale Lernen war keine Sache von wenigen Wochen,
       sondern wird die meisten Schüler:innen über Monate begleiten – vielleicht
       länger.
       
       ## Es dann auch richtig machen
       
       Dass es so kommen könnte, hat Taureau geahnt. Als Mitte März die Schulen
       geschlossen wurden, setzte er sich intensiv mit verschiedenen
       E-Learning-Plattformen auseinander. Wenn das länger dauert, dachte Taureau,
       wolle er die Sache gut machen, trotz seiner Skepsis. Denn seine Berliner
       Gesamtschule besuchen viele Schüler:innen, die nach der Warnung von
       Bildungsforscher:innen zu den Verlierern des häuslichen Lernens zählen
       könnten. Und das bestätigt sich schon in Taureaus erster digitalen
       Unterrichtsstunde im März. In seiner 8b sind nur 11 der 25 Schüler:innen
       erschienen. Warum sie fehlten, weiß Taureau bis heute nicht.
       
       „Für diese Kinder haben wir eine Fürsorgepflicht“, sagt er. Allein deshalb
       hält er es für geboten, als Lehrkraft „auf allen Kanälen“ ansprechbar zu
       sein. Neben den virtuellen Unterrichtsstunden können seine Schüler:innen
       mit ihm über die Lernplattform chatten oder auch E-Mails schreiben. Umso
       mehr ärgert ihn, dass sich einige seiner Kolleg:innen so gut sie können vor
       der Einarbeitung in Chat-Programme oder Lernplattformen drücken. Eine
       Kollegin habe sogar vorgeschoben, weder PC noch Smartphone zu besitzen.
       
       „Als die Schulleiterin digitalen Unterricht per Dienstanweisung
       vorschreiben wollte, gab es einen Aufstand im Lehrerzimmer.“ Die Folge: Die
       Schulleiterin ruderte zurück. Seither sei ein Teil der Lehrerschaft im
       Ferienmodus. So zumindest nimmt Taureau es wahr, der noch in der Probezeit
       ist und für das Gespräch mit der taz keine Erlaubnis eingeholt hat. Deshalb
       steht hier weder sein richtiger Name noch der der Schule.
       
       Die Vorbehalte gegen einen Digitalisierungszwang kann Taureau zwar
       nachvollziehen: „Entscheidungen in Krisenzeiten werden weniger
       reflektiert.“ Umso wichtiger sei aber, dass sich Lehrer:innen stärker an
       den offenen Fragen beteiligten: Welche Plattformen scheiden aus
       Datenschutzgründen aus? Wie lassen sich Arbeit und Privatssphäre trennen?
       
       Kurz vor den Osterferien deutete die Schulleiterin an, dass sie ihn gerne
       in einer neuen AG zum Thema digitaler Unterricht sehen würde. Nach Ostern
       dann verkündet die Schulleitung, eine Schulcloud einrichten und ein
       E-Learning-Tool für das Kollegium kaufen zu wollen.
       
       ## Die Abiturientin
       
       Immerhin, seufzt Liz Kleinhans, kann sie noch arbeiten gehen. Einmal die
       Woche entkommt die 19-Jährige der Isolation, in der sich die Gymnasiastin
       seit nunmehr sieben Wochen auf die Abiturprüfungen vorbereitet. Statt an
       ihre Leistungskurse Deutsch, Religion und Kunst denkt Liz dann – an
       Sprengstoff. Seit einem Jahr jobbt sie neben der Schule als Sprenghelferin
       in einem nahen Steinbruch, erzählt sie am Telefon. Eine Arbeit, bei der sie
       zwar auch alleine ist, aber immerhin draußen, nicht im Haus ihrer Eltern.
       
       Das befindet sich im 700-Seelen-Dorf Billingshausen bei Göttingen. Und
       damit fangen die Probleme an. Das Internet ist hier, im oberen Rodetal,
       manchmal so schlecht, dass an virtuelle Lerngruppen nicht zu denken ist.
       Manchmal müsse sie warten, bis ihr Vater von der Arbeit kommt und ihr über
       sein Telefon Zugang ins Netz verschafft. Und im Gegensatz zu anderen
       Bundesländern wie Hessen oder Berlin hatten die niedersächsischen
       Abiturient:innen Mitte März, als die Schulen schlossen, noch längst nicht
       ihren Stoff durch.
       
       Zwar hat der niedersächsische SPD-Kultusminister Grant Hendrik Tonne die
       Prüfungen um drei Wochen verschoben und die Schulen für Abiturjahrgänge
       Anfang der Woche wieder geöffnet. Doch für Liz und ihren Jahrgang heißt
       das: Nach all der Zeit zum ersten Mal wieder als Kurs zusammenkommen – und
       zwei Wochen darauf die erste Prüfung schreiben.
       
       ## E-Mail an den Kultusminister
       
       Bei Liz geht es am 14. Mai los. Der Göttinger Abiturjahrgang war sich
       schnell einig: Von Chancengleichheit gegenüber früheren Jahrgängen kann
       nicht die Rede sein. Ihre Empörung ging so weit, dass sie ihrem
       Kultusminister per Mail einen Fragenkatalog vorlegten, den dieser, nach
       mehrmaligem Nachfragen, schließlich beantwortete. Eine Antwort: „Eine
       Vergleichbarkeit zwischen den Jahrgängen ist gegeben.“ Es sind Antworten
       wie diese, die viele Abiturient:innen wütend machen, nicht nur in
       Niedersachsen.
       
       Bereits im März hatten Schüler:innen aus [5][Hamburg eine Petition]
       gestartet, die Abiturprüfungen zugunsten eines Durch-schnittsabiturs
       abzusagen, das sich aus den Noten der vergangenen zwei Jahre errechnen
       würde. Eine Forderung, die teilweise auch von Pädagog:innen unterstützt
       wird. Schließlich machen diese Leistungen ohnehin schon etwa zwei Drittel
       der Abinote aus. Doch erfolglos. „Wir fühlen uns nicht gehört von der
       Politik“, sagt Liz Kleinhans.
       
       Auch ihr Jahrgang verschickte im Namen von sieben Göttinger
       Abschlussjahrgängen einen offenen Brief an das Ministerium, in dem die
       Jugendlichen ihre Ängste schildern – und der Landesregierung vorwerfen, die
       Infektion von einigen Zehntausend Schüler:innen samt deren Angehörigen
       „leichtfertig“ in Kauf zu nehmen. Oder wie Liz es formuliert: „Wegen eines
       Drittels unserer Abiturnote müssen wir das Leben unserer Angehörigen aufs
       Spiel setzen.“
       
       Ihre Oma wohnt mit im Haus. Aus diesem Grund hat Liz beschlossen, dem
       Unterricht fernzubleiben. Dann aber wollte sie ihre Leistungskurse nicht
       verpassen. Die Entscheidung, wieder in die Schule zu gehen, sei ihr aber
       schwergefallen. Nicht alle haben sich für die Prüfungsvorbereitung
       entschieden. Etwa ein Drittel sei lieber zu Hause geblieben.
       
       Der Unterricht ist freiwillig, die Prüfungen sind es nicht. Die
       Lehrer:innen sollen prüfen, gehören aber vielfach zur Risikogruppe. Liz’
       Spanischlehrerin etwa, die im Juni mündliche Abiturprüfungen abnehmen soll,
       kann derzeit keinen Unterricht geben. Lange hatten Liz und ihre
       Klassenkamerad:innen auf die Einsicht der Kultusminister:innen gehofft.
       
       Hätten sie Anfang der Woche die Notbremse gezogen und die Abiturprüfungen
       doch noch abgesagt, wäre für Liz alles gut gewesen. Nach ihren bisherigen
       Leistungen wäre sie bei einem Abi von 2,0 gelandet. Sonderpädagogik oder
       Soziale Arbeit kann sie auch mit diesem Schnitt studieren.
       
       ## Die Lehrerin
       
       Jeden Montag steht Benita Bandow am Fenster des Lehrerzimmers der
       Hector-Peterson-Schule und tauscht Tüten. Das ist der Tag, an dem die
       Schüler ihrer 8. Klasse die neuen Aufgaben abholen, die Bandow ihnen
       zusammengepackt hat. „Ick drucke die Aufgaben für 14 von ihnen in der
       Schule aus, weil die Familien keinen Drucker haben“, berlinert Bandow
       durchs Telefon. „Und am Montag schmeiß ich die Tüten dann aus’m
       Hochparterre.“ Selbst die Schüler, die Computer und Drucker haben, kommen.
       „Die freuen sich total, mal wieder in der Schule zu sein.“
       
       Bandow steht mit allen 24 Schülern über WhatsApp in Kontakt. Unterricht per
       Videokonferenz oder über eine Lernplattform bietet sie nicht an. Schulungen
       in digitalen Unterrichtsmethoden waren bis zur Coronakrise freiwillig, und
       nur ein Viertel der Lehrer hatte jemals eine besucht. Als dann alle Lehrer
       im Schnelldurchlauf geschult werden sollten, hatte Bandow keinen Nerv
       dafür. „Außerdem: Was bringt das, wenn die Hälfte der Schüler dann sowieso
       nicht mit Zoom arbeiten kann?“
       
       Die Hector-Peterson-Schule liegt im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Bandows
       neue 8. Klasse ist bunt gemischt: Die Hälfte der Schüler hat arabische
       Wurzeln, vier sind mit ihren Familien in den letzten Jahren nach
       Deutschland geflüchtet. Mehr als die Hälfte bezieht Hartz IV oder andere
       staatliche Leistungen. Häufig fehlen nicht nur Drucker oder Computer,
       sondern auch Rückzugsorte, an denen die Kinder konzentriert arbeiten
       können. Und Eltern, die schnell mal den Unterschied zwischen exponentieller
       und linearer Funktion erklären.
       
       Noch Ende März war Bandow gelassen. Sie sei ganz entspannt, erzählte sie
       damals am Telefon. Sie schicke nur Wiederholungs-aufgaben, neuen Stoff
       einzuführen sei gerade nicht sinnvoll. Dann kamen die Osterferien, und auch
       danach blieben die Schulen geschlossen. Nun haben die Kultusminister ein
       Konzept für eine vorsichtige Rückkehr zum regulären Schulbetrieb vorgelegt.
       Klar ist: Eine Rückkehr zum Normalbetrieb steht mittelfristig nicht an.
       
       Sieben Wochen sind die Schulen jetzt geschlossen. „Schon heftig“, meint die
       Deutsch- und Theaterlehrerin Bandow. Die ehrgeizigen und fleißigen Schüler
       kämen gut klar, erzählt sie. An der Schule wird großer Wert auf Teamarbeit
       gelegt. Die Jungen und Mädchen holten sich zuerst Hilfe bei den Mitschülern
       im Klassenchat. „Aber diejenigen, die schon in der Schule schwer lernten,
       die haben es jetzt unendlich viel schwerer. Weil die so gut wie nichts
       mit-nehmen.“
       
       ## Kontakte zu Eltern gekappt
       
       Früher hätte Bandow die Eltern dieser Schüler in die Schule bestellt, nun
       sind die Kontakte gekappt. Die Eltern hätten oft keine E-Mail-Adresse.
       „Selbst wenn“, sagt Bandow, „sie würden meine E-Mail nicht verstehen, weil
       sie kaum Deutsch sprechen.“ Die Kultusminister raten dazu, neben den
       Prüflingen auch Schüler, die virtuell abgehängt zu werden drohen, als Erste
       wieder in die Schulen zu holen.
       
       An der Hector-Peterson-Schule sind jetzt die 10. Klassen wieder eingerückt.
       Weil die Räume in dem preußischen Backsteinbau schmal sind, müssen die
       Klassen geviertelt werden, um alle Schüler im Abstand von 1,5 Metern zu
       platzieren. Für jede Gruppe ist eine LehrerIn abgestellt, die darauf
       achtet, dass sich die Jugendlichen nicht zu nah kommen. In den Pausen
       patrouillieren die Lehrer auf den Gängen und im Hof, auch der Eingang zu
       den Toiletten wird bewacht. „Ein unheimlicher Personaleinsatz“, sagt
       Bandow. Allein für zwei Klassen seien derzeit 24 Kollegen im Einsatz.
       
       Kaum vorstellbar, dass diese Zwei-zu-eins-Betreuung sich für alle knapp 500
       Schüler der Schule aufrechterhalten lässt. Die häufigste Frage, die die
       Schüler Bandow über WhatsApp stellen, sei derzeit: Wann dürfen wir wieder
       in die Schule, wann geht’s wieder los? Bandow ist sich sicher: Wenn die
       Schule wieder öffnet, werden alle Schüler da sein. Auch die schwächsten.
       
       ## Der Bildungspolitiker
       
       Für ihn und seine 15 Länderkollegen sei das gerade eine besondere
       Situation, erzählt der Thüringer Bildungsminister Helmut Holter am Handy:
       „Wir sind plötzlich Krisenmanager.“ Als sie sich am 12. März in der
       Geschäftsstelle der Kultusministerkonferenz in Berlin zum Frühstück trafen,
       sprachen sie noch darüber, wie man den Schulunterricht auch trotz Corona
       aufrechterhalten könne. Abends, beim Treffen der Länderchefs mit der
       Kanzlerin, bekam die Debatte neue Dynamik. Einen Tag später, am 13. März,
       fiel die Entscheidung: Die Schulen werden bundesweit geschlossen.
       
       Das digitale Lernen, jahrelang ein Nischenthema, war über Nacht bestimmend
       geworden. „Die Coronakrise zeigt uns, dass wir nicht auf internationalem
       Niveau sind“, sagt Holter. Zwar hatten sich Bund und Länder nach langem Hin
       und Her 2019 auf einen mil-liardenschweren [6][Digitalpakt] geeinigt, aber
       die Umsetzung zog sich hin. Thüringen vergab im Januar Dienstmailadressen
       an alle Lehrkräfte; im März, als die Schulen schlossen, hatte erst die
       Hälfte der LehrerInnen die Adresse freigeschaltet.
       
       Gerade zeigt sich auch, dass die Schere zwischen Kindern aus gut
       gestellten, bildungsaffinen Elternhäusern und Kindern aus sozial
       benachteiligten Familien auseinandergehe, sagt Holter: „Die
       Chancengleichheit, die im Präsenzunterricht erreicht wird, wird gerade
       ausgehebelt.“ Zu Beginn dieser Woche haben er und seine KollegInnen sich in
       Telefonkonferenzen auf ein Konzept zur vor-sichtigen Öffnung der Schulen
       geeinigt.
       
       ## Personal aus Risikogruppen
       
       Holter will, dass alle Thüringer SchülerInnen ab 2. Juni tage- oder
       wochenweise wieder Präsenzunterricht erhalten. Ob in Schichten oder
       rotierend, werde man sehen. „In diesem Prozess sind wir alle Lernende“,
       sagt er.
       
       Holter steht zudem vor einer fast unlösbaren Aufgabe. Er rechne damit, dass
       rund ein Viertel der Lehrerschaft nicht für den Unterricht zur Verfügung
       stehen wird, weil das Risiko, an Corona zu erkranken, zu hoch ist.
       „Personal, das eh schon knapp war, gilt es jetzt neu zu verteilen.“
       
       Zunächst aber müssen die MinisterpräsidentInnen am 6. Mai dem Konzept der
       Fachminister zustimmen. Wie schnell deren Beschlüsse über den Haufen
       geworfen werden, haben sie Mitte März erlebt.
       
       1 May 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.gfdb.de/icils-2018/
 (DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=ABFkSy7P7_I
 (DIR) [3] https://www.vodafone-stiftung.de/umfrage-homeschooling-eltern/
 (DIR) [4] /Erste-Schulen-oeffnen-trotz-Corona-wieder/!5680677
 (DIR) [5] https://www.change.org/p/an-das-kultusministerium-der-stadt-hamburg-verschiebung-des-hamburger-abiturs-2020?recruiter=1055267632&utm_source=share_petition&utm_campaign=petition_update&utm_medium=whatsapp&recruited_by_id=f6258560-696c-11ea-8b88-f3012ffdbff9
 (DIR) [6] /Digitalpakt-verabschiedet/!5575266
       
       ## AUTOREN
       
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 (DIR) Schulunterricht von zu Hause: Hausaufgaben bis zum Impfstoff
       
       Auch im nächsten Schuljahr gibt es keinen normalen Schulbetrieb, sagt
       Bildungsministerin Karliczek – und stellt 500 Millionen Euro für Laptops
       bereit.
       
 (DIR) Alleinerziehend in Coronazeiten: Der Nine-to-nine-Job
       
       Alice Moutinho ist derzeit Website-Optimiererin, Lehrerin und Hausfrau in
       einer Person. Wir haben sie einen Tag beim Multitasken begleitet.
       
 (DIR) 1. Schultag nach den Corona-Schließungen: Viel quatschen und Die Ärzte hören
       
       Nach fast sieben Wochen Hausunterricht durfte unsere elfjährige Autorin
       endlich mal wieder zur Schule – und die beste Freundin wiedersehen.
       
 (DIR) Abschlussprüfungen an Stadtteilschulen: Ins kalte Wasser
       
       Hamburgs Schulsenator will die Prüfungen an den Stadtteilschulen
       durchziehen. Elternräte fordern eine Absage analog zu Berlin und NRW.
       
 (DIR) Familie in Corona-Krise: Zeit für neue Familienmodelle
       
       In Coronazeiten bröckelt auch das Ideal der Kleinfamilie. Für Vollzeitjob
       und Erziehung braucht es mehr als zwei.
       
 (DIR) Gewerkschafterin über Schulchaos in NRW: „Das Chaos ist unzumutbar“
       
       Die Schulpolitik der schwarz-gelben Regierung Laschet sei ein ständiges Hin
       und Her, kritisiert Maike Finnern, NRW-Vorsitzende der GEW.
       
 (DIR) Berliner Bildungssenatorin in der Krise: Planlos weiter nach Plan
       
       In Berlin kehren die Schulen schrittweise wieder aus dem Corona-Lockdown
       zurück. Jetzt wäre eine präsente Senatorin gut. Ein Wochenkommentar.
       
 (DIR) Bund-Länder-Konferenz zur Coronakrise: Spielen und Beten erlaubt
       
       In kleinen Schritten wird gelockert: Spielplätze und Gotteshäuser sollen
       wieder öffnen dürfen. Schüler müssen aber noch warten.
       
 (DIR) Schulöffnungen nach Corona: Vom „Geht so“ zum „Geht gar nicht“
       
       Die Kultusminister planen die Öffnung der Schulen. Wie dort der Abstand
       eingehalten werden soll, ist unklar.